Das Entstinkungs-Patent

Ein Hamburger Startup hat einen Biorohstoff weiterentwickelt, der als Plastikersatz dienen und die Flut an Mikroplastik eindämmen könnte. Vorher musste ein gravierendes Geruchsproblem gelöst werden.

Die Biotechnik-Ingenieurin Joana Gil mit einem Becher, in dem Ligninkügelchen zu sehen sind. Ihre Firma Lignopure arbeitet daran, den Biorohstoff Lignin, der in Holz und Stroh enthalten ist, für verschiedenste industrielle Anwendungen nutzbar zu machen – als Ersatz für Mikroplastik.

Foto: Eva Haeberle/Lignopure

Das Problem: Jeder von uns nimmt jede Woche etwa 5 mg Mikroplastik auf.
Die Lösung: Mikroplastik durch natürliche Biostoffe ersetzen.

Kann man denn gar keine Yoga-Leggings mehr kaufen, die nicht aus Plastik sind? Überall Polyester und Spandex, Baumwolle scheint ausgestorben zu sein. Schon klar, die Polyester-Röhren machen einen straffen Po, aber sie sind halt aus Teufelszeug gestrickt, Petroleum, und geben mit jedem Waschgang Mikroplastik-Partikel in die Gewässer ab, weil die Kläranlagen die winzigen Partikel nicht gut filtern können.

Kleidung, Reifenabrieb, Kunstrasen, Kosmetika, sogar Teebeutel – unzählige Gegenstände setzen Mikroplastik frei. Deshalb finden Forscher Mikroplastik inzwischen an allen möglichen Orten, wo es nicht hingehört – in unseren Meeren, unserem Trinkwasser, unseren Lebensmitteln, unserem Blut. Laut WWF nimmt jeder von uns pro Woche etwa 5 mg Mikroplastik auf.

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Da muss es doch Alternativen geben, dachten sich Joana Gil und Wienke Reynolds, zwei junge Materialforscherinnen von der Technischen Universität Hamburg (TUHH). Die Biotechnik-Ingenieurin Joana Gil stammt eigentlich aus Mexiko und arbeitete dort als Produktentwicklerin für Naturkosmetik. Der Job weckte ihr Interesse an natürlichen Rohstoffen. Für ihre Doktorarbeit an der TUUH nahm sie Lignin unter die Lupe und erforschte, ob der Biorohstoff nicht ein guter Ersatz für Plastik sein könnte. Dabei fand sie soviel Potenzial, dass sie nun mit 31 CEO des Startups Lignopure ist.

Enthusiastisch hält sie ein braunes Klebeband hoch, das auf den ersten Blick genauso aussieht wie jedes andere Klebeband auch. Der Unterschied: Es ist kompostierbar. »Das ganze Tape kann man einfach in den Kompost werfen«, verspricht Gil, denn es besteht aus Lignin und anderen Biostoffen.

Lignin (von lateinisch lignum, »Holz«) ist der natürliche »Klebstoff« in Pflanzen und Bäumen, der Stielen, Blättern und Stämmen Festigkeit verleiht. Millionen Tonnen davon fallen jedes Jahr als Abfallprodukt in der Holzindustrie und Papierproduktion an, denn Holz besteht im Wesentlichen aus Zellulose, Hemicellulose und Lignin. »Lignin ist normalerweise ein Abfallstoff der Industrie, ein Biorohstoff, der aus Holz oder Stroh gewonnen wird«, weiß Gil. Das meiste werde ohnehin verbrannt, »deshalb ist es billig«. Und damit ideal, um dem ebenfalls sehr billigen Plastik Konkurrenz zu machen.

Im Oktober hat die lebhafte Mexikanerin mit Wienke Reynolds, zwei weiteren Mitstreitern von der TUUH und mit Unterstützung durch die Stadt Hamburg  das Startup Lignopure gegründet, um den Einsatz von Lignin als Biokunststoffersatz auszuloten. In ihrem Labor riecht es süßlich-muffig; eine Art Kreuzung aus Espressomaschine und Dampfkochtopf trocknet und verwandelt den Rohstoff aus den Bioraffinerien in nutzbares Pulver. »Wenn das Lignin bei uns ankommt, ist es meistens feucht, wie Schlamm«, erzählt Gil; das verwendbare Produkt sieht aus wie grobkörniges Kakaopulver.

Lignin lässt sich für verschiedenste Produkte nutzen, selbst Klebeband (rechts).

Foto: Lignopure

Gils Firma stellt bisher selbst keine Produkte her, sondern versteht sich als grüner Mittler zwischen Bioraffinerie und Produkthersteller. Lignopure verkauft nur das Lignin und die Entwicklung. Daraus ist längst mehr geworden als eine nette Ökofantasie – die Ergebnisse der Tüftelei wird es tatsächlich bald auf dem Markt geben. Am weitesten ist Gil derzeit mit zwei Produkten: Klebeband und Sonnencreme. Mit Hilfe von Lignopure hat die Firma Tesa ein nachhaltiges Klebeband aus Lignin und anderen Biokomponenten entwickelt, das in diesem Jahr großflächig getestet wird. »Während der Versuche haben wir gesehen, das Lignin auch antioxidativ wirkt« sagt Gil. »Tesa benutzte schon Antioxidativa, die aber teurer sind. Das Lignin kostet die Hälfte. Die Firma spart also nicht nur Chemikalien, sondern auch Geld.«

Ähnlich ist es bei der Sonnencreme, die ein Hersteller gerade testet, als weltweit ersten Sonnenschutz mit Lignin: Das Lignin selbst absorbiert UV-Licht, es gilt daneben als freier Radikalenfänger; und als Ersatz für Mikroplastik in Kosmetik ist Lignin 70 Prozent billiger als andere Bioalternativen. »Mikroperlen aus Lignin können Mikroplastik in Peelings oder Duschgel ersetzen«, sagt Gil und zeigt auch gleich ein Röhrchen, in dem kleine braune Lignin-Kügelchen schwimmen. »Das ist hundertprozentig abbaubar, die Kügelchen lösen sich einfach mit der Zeit im Wasser auf.« Wenn man bedenkt, dass jedes Jahr rund 14.000 Tonnen Sonnencreme in den Meeren landen, wo sich das Mikroplastik in Plankton und Fischen anreichert, könnte eine nachhaltigere Alternative einen echten Unterschied machen.

Vor allem wenn die EU ihr Versprechen ernst macht und Mikroplastik demnächst verbietet, wird die Nachfrage nach Alternativen sprunghaft ansteigen. Das ist kein kleiner Schritt: So will die EU etwa 37.000 Tonnen Mikroplastik-Emissionen pro Jahr verhindern. Und es ist, wenn man genau hinschaut, wie immer bei diesen scheinbar unlösbaren Mega-Problemen: Man muss nur wollen. Alternativen gibt es, und sobald sich einige kluge Leute dahinterklemmen, werden sie auch Wirklichkeit.

Vielleicht sitzen Sie gerade auf einem Sessel mit Lignin-Anteil oder hören Musik aus einem Lignin-Lautsprecher, ohne es zu wissen

Denn tatsächlich ist Lignin eigentlich nichts Neues und wird seit Jahrzehnten verarbeitet, zum Beispiel in Lautsprechern oder Spielzeug. Vielleicht sitzen Sie gerade auf einem Sessel mit Lignin-Anteil oder hören Musik aus einem Lignin-Lautsprecher, ohne es zu wissen. Aber in den allermeisten Fällen wurde dem Lignin viel Chemie zugesetzt, um es biegsam und haltbar zu machen. Auch viele sogenannte »Bioplastik«-Verpackungen mit Lignin- oder Zellulose-Anteil sind weder nachhaltig noch biologisch abbaubar, denn der Begriff ist nicht geschützt. Gil kennt die Kritik an der alten Greenwashing-Taktik: »Im Supermarkt steht überall bio-bio-bio drauf, aber wenn man genau hinschaut, ist vieles gar nicht so grün. Bei unserem Lignin kann man sagen: wirklich bio.«

Erst der Druck, Petroleumplastik zu ersetzen, hat viele Erfinder angespornt, nach nachhaltigeren Verfahren zu suchen. Lignopure hält gemeinsam mit der TUUH mehrere Patente, so zum Herstellungs- und Trocknungsprozess. »Wir haben Prozesse entwickelt, das Lignin weniger energieintensiv zu trocknen als das bisher in der Industrie üblich war, die Konsistenz zu optimieren und es mit anderen Biostoffen zu mischen, je nachdem, wo es eingesetzt werden soll.« Auch das Problem Gestank glaubt Gil, gelöst oder zumindest gemildert zu haben, denn Lignin müffelt. Lignopure hat ein Patent zur »Entstinkung«, wie Gil in ihrem charmanten deutsch-englisch-mexikanischen Wortmix formuliert. Das kann noch wichtig werden, denn eigentlich wäre Bioplastik aus Lignin ideal, um zum Beispiel bei der Innenausstattung von Autos das Plastik zu ersetzen, aber das Bioplastik darf natürlich nicht wie alte Socken stinken, wenn der Karren in der Sommerhitze steht. Schneller als mit Autos geht es möglicherweise mit Motorrädern: Eine Firma interessiert sich gerade dafür, Lignin-»Leder« für ihre Motorradsitze zu verwenden. Gil holt eine biegsame, glänzend braune Materialprobe. »Es besteht zu 70 Prozent aus Lignin, zu einem Drittel aus anderen Biomaterialien.«

Mit ihren Aktivitäten befindet sich Gil in guter Gesellschaft: Noch mehrere andere Forscher haben die Initiative ergriffen und sind auf dem Holzweg. Die TU Dresden, zum Beispiel, verkündete einen Durchbruch bei den Verfahren, mit Lignin Hochleistungsfasern herzustellen und hofft, damit sogar die populären Carbon-Fasern in Autos und Windturbinen zu ersetzen. Einige der nachhaltigen Produkte sind auch schon auf dem Markt, zum Beispiel verwendet die Hamburger Rösterei Maya Lignin als ökologische Alternative zur Ökokatastophe Kaffeekapseln. Drei Schwarzwälder Tüftler in Deißlingen haben unter dem Namen »Alb-Filter« den ersten kompostierbaren Wasserfilter auf der Basis von Lignin hergestellt.  Und der Aschaffenburger Batterie-Entwickler CMBlu experimentiert mit Lignin als Stromspeicher in organischen Redox-Flow-Batterien, weil es Energie gut leitet. 

Auch Joana Gil hat noch viele Ideen, was man alles mit Lignin machen könnte, zum Beispiel Dämmmaterial für den Hausbau; auch kleine Reifen, etwa für Rollkoffer, kann Gil schon herzeigen. Und sie hat sogar mit Lignin-Granulat als Füttermaterial für 3D-Drucker experimentiert, »aber ehrlich gesagt im Moment eher nur als Spaß.«

Vielleicht wird aus dem Spaß ja bald ernst, und wir können demnächst nachhaltige Yoga-Hosen kaufen – aus Holz statt Erdöl.