Die Geister, die ich rief

Wer sich im Homeoffice einsam fühlt, kann sich den Großraumbüro-Klangteppich jetzt von Webseiten simulieren lassen. Auf Wunsch samt Tonspur vom kauenden Sitznachbarn oder Bürohund. Macht das fröhlicher – oder gar produktiver? Ein Selbstversuch.

Abwechslung dringend nötig? Wie wäre es mit ratschenden Kollegen oder einem mittelalterlichen Markt?

Foto: iStock by Getty / Poike

Manchmal ist es zu still im Leben. Wenn im Kinderzimmer verdächtig lange geschwiegen wird oder man sich beim zweiten Date schon nichts mehr zu sagen hat. Und nach sechs Monaten im coronabedingten Homeoffice kann die Ruhe so ohrenbetäubend sein, dass man am Schreibtisch keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Wie tröstlich dann der Werbeslogan der Firma mynoise.net klingt, die für ihren Arbeitsplatzgeräuschesimulator wirbt mit den Worten »Der Lärm des Büros, nur ohne brüllenden Chef«.

Wie paradox, dass man sich nach Bürogeräuschen sehnen kann! Vor der Pandemie verwünschte man seine Kollegen im Großraumbüro noch für ihr zu lautes Rumgehacke auf der Computertastatur. Oder für die Gleichgültigkeit, mit der sie an einem Apfel nagten, während ihr Handy auf der Tischplatte vibrierte. Das Journal of Consumer Research veröffentlichte eine Studie, die ergab, dass Mitarbeiter bei einem moderaten Geräuschpegel kreativer sind als bei einem niedrigen. Manche Angestellte vermissen das beständige Hintergrundrauschen des Büros also nicht nur, sie brauchen es vielmehr, um sich zu konzentrieren.

Mehrere Plattformen bieten inzwischen Klangteppiche an, die gezielt gegen die Homeoffice-Stille entwickelt wurden. Da gibt es beispielsweise imisstheoffice.eu. Öffnet man die Seite in seinem Computerbrowser, gelangt man auf den virtuelle Grundriss eines Büros, überschrieben mit dem Slogan: »Close your eyes and imagine you’re in the office. Beautiful, right?« Wenn man dann auf einen Play-Pfeil links unten im Bildschirmfenster klickt und seine Augen wie aufgefordert schließt, ist es wirklich, als befände man sich inmitten seiner oder zumindest irgendwelcher Kollegen: Stühle knarzen, Leute reden, Tischnachbarn summen, sogar das nervtötende Apfelkauen gibt es. Und eine bespielte Tischtennisplatte.

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Ähnlich funktioniert auch soundofcolleagues.com, wo man sich seine Bürogeräuschkulisse noch individueller zusammenbasteln kann. Zur Auswahl stehen hier neun »Sounds«: Da wäre als erstes der »Room Tone«, so eine Art monotones Basissurren mit gelangweilter Klimaanlage. »Coffee Machine« liefert das komplette Teeküchenflair samt Tassengeklappere, gluckerndem Vollautomaten und authentisch fauchendem Milchschäumer. Leises Murmeln, Räuspern, Lachen und entferne Schritte fasst »People« zusammen. Dann gibt es die obligatorische Technikpalette aus Druckerrattern, Tastaturgetippe und Telefonläuten. Und zum Abrunden Straßengeräusche, Regengeprassel und sogar einen »Office Dog«, der durch den Flur rennt, bellt, sabbert, hechelt, winselt. Die Tonspuren lassen sich einzeln abspielen, mischen, verschieden laut oder leise regeln – ganz so, als wäre man der/die DirigentIn seiner eigenen kleinen Großraumbüro-Sinfonie. In Endlosschleife.

Während der Geräuschpegel eines durchschnittlichen Großraumbüros bei 50 bis 70 Dezibel liegt, ist das akustische Fake-Büro da in der Tat entspannender. Weil man es nach Bedarf regulieren kann. Mit einem Klick sind die KollegInnen im Wohnzimmer. Mit einem zweiten sind sie wieder weg. Und es muss auch nicht immer Bürolärm sein gegen die Homeoffice-Stille, wer mag, hört den Klang irischer Küsten oder japanischer Gärten, man kann gregorianischen Gesängen lauschen, schwarzen Löchern, einem Uterus oder man gönnt seinen Ohren das mittelalterliche Dorf, inklusive Wassermühle, Markttreiben, Pferdehufen, blökenden Schafen und Fanfaren. Mein Favorit.

Doch zurück zum Büroklang. Arbeitet man damit die ersten dreißig Minuten, eine Stunde, zwei, erfüllt das seinen Zweck, man ist ein bisschen weniger allein, aber auch zunehmend irritiert. Unbewusst beginnt man, genauer auf das englische oder schwedische oder spanische Gemurmel der Tonband-Kollegen zu hören, es zu entschlüsseln, weil das menschliche Gehirn nun mal darauf programmiert ist, Gesprächsfetzen zusammenzusetzen. Wäre man in einem echten Büro, könnte man kurz Pause machen, sich dazustellen und mitdiskutieren, oder mitlästern. Im Fake-Büro blickt man ins leere Zimmer. Der Zuruf »Bringst du mir einen Cappuccino mit?« bringt auch nichts, und gegen einen stressigen Tag hilft auch nicht zwingend die Tonspur »Rain on Window«; die führt mit der warmen Septembersonne, die sich von draußen durch das Wohnzimmerfenster drückt, eher zu einer irritierenden Ton-Bild-Schere – wie Weihnachtsmusik im Hochsommer. Dann doch lieber wirklich für einen Moment das Fenster öffnen und sich vom echten Dröhnen der Laubbläser das Hirn durchpusten lassen.

Bei der Gelegenheit kann man seinem Homeoffice-Nachbarn am Balkon gegenüber gleich noch ein anerkennendes Nicken mitschicken, für das nötige Fünkchen sozialer Interaktion, das einen frisch sortiert – und durch das Zurücknicken auch motiviert – weitermachen lässt. Dabei merkt man: Im coronabedingten Homeoffice ist es immer nur so still und einsam, wie man es sich selbst einrichtet.

Das ist die eigentliche Stärke der Bürogeräuschsimulator-Webseiten: Man freut sich nach drei Stunden Tonbandatmosphäre wieder aufs Alleinsein. Immerhin sitzt man im exklusiven Einzelbüro, das man sich immer gewünscht hat. Nur ist die Einrichtung viel schöner.