Warum das Dorf in Krisenzeiten besser als die Großstadt ist

Nach dem Abitur wollte unser Autor nur weg aus seinem Dorf. Wegen der Coronakrise ist er aus der Großstadt zurückgekehrt – und merkt, das man Ausgangssperren auf dem Land leichter aushält.

Viel Abstand zum Nachbarn, viel frische Luft, enge soziale Kontrolle: das Dorfleben. 

Foto: iStock by Getty / Mlenny

Weg. So schnell es geht: weg. Wo ich herkomme, waren das die Gedanken nach dem Abitur: Ab in irgendeine Großstadt, irgendwohin, wo es junge Leute, Konzerte, eine Straßenbahn und Programmkinos gibt. Ich bin auf dem Dorf groß geworden. Keine Einöde, aber doch eine Umgebung, die mehr wie Ferien auf dem Bauernhof wirkte denn als realistischer Lebensentwurf. Es gab nichts, was über Schützenfeste und Karneval hinaus junge Menschen dazu bewegen könnte, sich hier länger als nötig aufzuhalten. Also ging ich fort: Bremen, Innenstadt, Wohngemeinschaft. 

All das ist gerade vorbei. In Bremen ist – wie überall sonst in Deutschland – das öffentliche Leben runtergefahren. Alles, was einen Anreiz bietet, länger als für einen Spaziergang die Wohnung zu verlassen, wird für die nächsten Wochen geschlossen bleiben. Um Kontakt mit anderen Menschen zu vermeiden, und weil das in einer etwas sorglosen WG nicht so gut funktioniert, bin ich nach Hause gefahren. Zurück aufs Land. 

Und stelle fest: Das geordnete, bürgerliche Dasein gibt mir Halt. Die spießige Routine im Wohngebiet – Rasenmähen am Vormittag, Auto putzen am Nachmittag – sie hat mich immer genervt. Aber in einer Zeit, in der Vorsicht wichtig, Panik aber gefährlich ist, wirken solche Rituale doch ganz beruhigend. Ist es nicht schön zu wissen, dass die Reinholdts von nebenan selbst beim gefühlten Weltuntergang ihren Vorgarten pflegen?

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Das Nachtleben meines Dorfs kann gerade locker mit Berlin mithalten: alles geschlossen. Ich kann hier kein Café oder Restaurant vermissen, in das ich eh nicht gehen könnte.

Für Viren sind Kleinstädte ein hartes Pflaster. Noch nie habe ich jemanden an einer der zwei Bushaltestellen einsteigen sehen. Man fährt Auto

Das Dorfleben ist nicht nur gleich eingeschränkt, es hat gegenüber der engen Großstadt nun sogar Vorteile: Im überdimensionierten Supermarkt waren die Gänge schon vorher so groß, dass der ganze Landkreis gleichzeitig einkaufen könnte – ohne sich dabei auf anderthalb Meter zu nähern. Klopapier und Seife sind genauso wenig ausverkauft wie Nudeln oder Mehl. Wozu auch? Die Leute kaufen seit jeher im Sieben-Tage-Rhythmus. Manche Vorratskammern könnten gleich zwei oder drei Weltuntergänge überstehen.

Milch und Eier kriegt man nicht erst seit Corona ohne menschlichen Kontakt beim Bauern nebenan. Karton aus dem Kühlschrank, zwei Euro in die Schüssel davor. Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich doch in Hysterie verfalle und jedes Desinfektionsmittel aus dem Drogeriemarkt hamstern wollte – spätestens an der Supermarktkasse würde ich einen Bekannten treffen und mich für meinen Egoismus schämen. Rücksichtslos lebt es sich leichter in der Großstadt-Anonymität.

Für Viren sind Kleinstädte ein hartes Pflaster. Noch nie habe ich jemanden an einer der zwei Bushaltestellen im Dorf – Ortseingang und Ortsausgang – stehen, geschweige denn in einen Bus einsteigen sehen. Jeder fährt Auto. Klassische Virenherde wie Türklinken beim Carsharing oder Leihroller gibt es hier nicht. Wozu auch? Die meisten Wege sind fußläufig, alles darüber hinaus erreichen Jugendliche mit dem Mofa. Zum 18. Geburtstag bekommt man einen gebrauchten VW-Golf geschenkt. Als Jugendlicher konnte ich manchmal Freunde nicht mehr besuchen, weil der Tank leer war und die Tankstelle schon ab sechs Uhr abends zu war. Deswegen ist es für mich oder andere vom Dorf sowieso leichter zu akzeptieren, Freunde nicht immer sehen zu können.

Zurzeit gehe ich jeden Abend alleine spazieren. Ein paar Minuten frische Luft als Ausgleich zum stundenlangen Hocken in der Bude. Andere Menschen treffe ich dabei nicht – jeder hat schließlich seinen eigenen Weg ins Freie. In der Großstadt sind es allein von meinem WG-Zimmer zum nächsten Park sieben Stationen und zwei Mal umsteigen. Überhaupt sind Wohnungen in der Stadt nicht krisentauglich. Schon ein Balkon gilt als Luxus, das Wort »Gartenliege« kommt im Großstadt-Wortschatz nicht vor. Dabei ist es momentan besonders wichtig, auch ungestört an die frische Luft zu können. Laut einer Studie der Universität Aarhus verringert ein Garten oder der direkte Zugang zu Wäldern und Natur die Gefahr einer psychischen Krankheit um 55 Prozent. Langfristig bedroht die Isolation der Städte also die mentale Gesundheit – auf Dauer auch ohne Corona-Quarantäne.

Am meisten jedoch, und es wundert mich wirklich, diesen Satz einmal schreiben zu müssen, ist es die soziale Kontrolle, die das Landleben gerade so viel lebenswerter macht. Auf jede heimliche Feier kamen früher mindestens drei, die dank des dorfeigenen Buschfunks noch vor dem Ende des ersten Bierkastens abgeblasen wurden. Anonymität gibt es in der Nachbarschaft nicht. Wer jetzt bei Frühlingswetter auf die Idee käme, heimlich eine kleine Gartenparty zu feiern, würde sofort gemeldet. 

Es scheint, als wolle mir mein Heimatdorf zurufen: Ich kann auch außerhalb einer Pandemie ein alltagstauglicher Ort für dich sein!

Sicher stört mich immer noch das Spießige und Altbackene am Dorf:  Kleinstadt-Familienväter im Funktionskarohemd sind mir fremd, auf den belehrenden Nachbarn, der mich an die Mülltrennung erinnert, könnte ich verzichten. Und ich werde mich weiter aufregen, wenn ein Fremder mich vom Fahrradfahren auf der falschen Straßenseite abhalten will. Ohne Coronavirus gewinnt die Großstadt immer noch. Ich verstehe aber jetzt das Gegenmodell.

Und will mich entschuldigen. Für die herablassenden Kommentare. Für meinen Spott bei Hundeschildern am Gartenzaun und Aufklebern am Kofferraum. Vielleicht habe ich damals zu vorschnell geurteilt. Das Leben auf dem Dorf ist schon in Ordnung. Was sage ich: Es ist wirklich nett. Es scheint, als wolle mir mein Heimatdorf zurufen: Ich kann auch außerhalb einer Pandemie ein alltagstauglicher Ort für dich sein! Einige Restaurants aus dem Umkreis beginnen gerade, Essen auch außer Haus anzubieten. Gestern habe ich mir zum ersten Mal bei Lieferando eine Pizza bestellt. Und im Neubaugebiet wurde vor kurzem das Internet auf Glasfaser umgestellt. 

Trotzdem werde ich, wenn die Corona-Krise irgendwann vorbei ist,  zurück in die große Stadt gehen. Ganz so schnell muss ich diesmal aber nicht weg – und allzu lang wird es bis zum nächsten Besuch auch nicht dauern.