Auf nach Liesland

Leselust und Lesefähigkeit gehen zurück. Die Lösung könnte, wie unser Kolumnist findet, ein neues Land sein, in das alles Leserinnen und Leser geschlossen auswandern.

Illustration: Dirk Schmidt

Natürlich bekomme ich schlechte Laune, wenn ich schon wieder in der Zeitung lesen muss, ein Fünftel der 15-Jährigen in Deutschland sei kaum in der Lage, den Sinn von Texten zu erfassen und zu reflektieren. Warum? Weil sie nicht lesen können. Warum nicht? Weil sie die Lust daran verloren haben. Warum haben sie das? Weil man nur an etwas Freude haben kann, was man beherrscht! Wer beim Fußball nie den Ball trifft, wird bald keinen Bock mehr darauf haben, so ist das Leben. Man muss etwas können, wenn man Spaß daran haben will. Aber dieses Können wird niemandem mehr beigebracht, selbst Eltern kommunizieren nur noch mit Herzchen auf dem Smartphone, der Satz Ich liebe dich ist ihnen schon zu viel, sie können ihn nicht mehr erfassen und reflektieren.

Das ist der Stand der Dinge.

So kann es nicht bleiben. Seit dem PISA-Schreck vor 18 Jahren, als sich herausstellte, dass knapp ein Viertel der Jugendlichen quasi Analphabeten waren, hat sich kaum etwas geändert. Man reduziert die Kommunika­tion der Bevölkerung auf Zeichensprache, das Ende wird die Herrschaft des Primitivismus sein, die in gewissen Ländern weit fortgeschritten ist. Der Blöde kann nur über Verblödete herrschen, Verdumpfung ist sein Herrschaftsinstrument. Der Erfolg Salvinis in Italien wurde möglich, nachdem Berlusconi das Land mit Schwachsinnsfernsehen überzogen hatte, und niemand, der im Leben nur zwei Bücher gelesen, erfasst, reflektiert hat, wird Trump wählen.

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In der Welt las ich einen Bericht über die Buchmesse in Reykjavík. Island hat 360 000 Einwohner, pro Jahr erscheinen hier 1000 neue Bücher, darunter jetzt zum Beispiel ein Werk von Páll Baldvin Baldvinsson über Die Heringsjahre von 1867 bis 1969, als die Insel von Heringen umschwärmt war, die aber wieder verschwanden, Folge von Überfischung und Klimawandel. Startauflage: 5000. Übertragen auf Deutschland müsste Förster Wohlleben bei der nächsten Waldfibel mit einer Erstauflage von 1,14 Millionen antreten. Höhö.

Mein Traum ist: Alle Leser wandern aus. Wir gründen irgendwo ein Land wie Island, Liesland, in einer waldreichen, der Papierproduktion förderlichen Gegend – eine Gemeinschaft, deren Staatsziel höchstmögliche Alphabetisierung ist. Menschen aus der ganzen Welt wären willkommen, Hauptsache, sie interessieren sich für Bücher und gedruckte Zeitungen. Im ZEITmagazin gab es ein Interview mit sechs ehemaligen und heutigen Türstehern des »P1« in München. Ins »P1« kommt ja nicht jeder rein, es gab und gibt eine harte Tür. So stelle ich mir das für Liesland vor. Man schaffe, sagte einer der Türtypen, »eine besondere Atmosphäre«, weil man nicht jeden Abend 500 Langweiler in den Club lasse, sondern 500 ausgesuchte, interessante Leute.

Liesland wird eine gute Tür haben, nicht in dem Sinne, dass man ein Trakl-Gedicht auswendig können muss, um Eintritt zu erhalten, so wird das nicht laufen. Aber natürlich muss man den Sinn von Texten erfassen und reflektieren können, und es kann nicht schaden, ein Buch dabei zu haben, von dem man begeistert zu erzählen in der Lage ist; so was wird unsere Türsteherinnen beeindrucken. Wer seine Liebe zu Roberto Bolaños Monsieur Pain oder Carlo Levis Christus kam nur bis Eboli mit Leidenschaft auszudrücken weiß, ist drin. Wohingegen germanistische Seminarlangweiler sicher nicht beim ersten Mal reinkommen. Und natürlich wird der Reiz darin liegen, dass gewisse Autoren öder, aber in den Feuilletons erfolgreicher Schwarten sich vorm Einlass erfolglos die Beine in den Bauch stehen.

Die Leute werden um Einlass betteln! Sie werden sich danach sehnen, dabei sein zu dürfen, sie werden Tag für Tag neu in der Schlange stehen. Aber viele von ihnen werden weiter Herzchen posten müssen oder Bilder von ihrem Mittagessen, mir doch egal, mir doch ganz egal. Sollen erst mal lesen lernen.