Faire Fasern

Fürs kuschelweiche Kaschmir werden oft Tiere gequält und Menschen ausgebeutet. Eine Amerikanerin hat nun einen Weg zur Herstellung von nachhaltigen Kaschmir- und Wollprodukten vor Ort im Himalaja gefunden.

Monica Garry (links) mit einheimischen Frauen in Tibet. In einem der Gebäude im Hintergrund werden Kaschmirziegen zur Gewinnung ihrer Edelhaare ausgekämmt.

Foto: Privat

Das Problem: Vom hohen Handelspreis, den Kaschmir erzielt, erhalten die traditionellen Produzenten in asiatischen Bergregionen oft nur einen winzigen Bruchteil.
Die Lösung: Eine Amerikanerin hat eine neuartige, von Frauen geleitete Produktionskette aufgebaut, bei der Kaschmir und Yak-Wolle fair bezahlt und vor Ort zu nachhaltiger Mode verarbeitet werden.

Das Leben der Nomaden im Himalaja sieht nur in Bildbänden romantisch aus. Die von der Kälte rotgefärbten Wangen, die langen Zöpfe mit den brandroten Tasseln, die zotteligen Yaks. Die Amerikanerin Monica Garry war beeindruckt, als sie in den Achtziger- und Neunzigerjahren die ersten Male in die Himalaja-Region flog. Sie erinnert sich noch genau an ihr erstes Nomaden-Festival in Tibet. Hunderte von Nomaden reisten mit ihren Pferden an, um ihre Reitkünste zu messen. »Es sah unglaublich toll aus, mit den Trachten und den waghalsigen Reitwettkämpfen.«

Aber im Laden eines Chinesen in Lhasa sah sie auch die weniger bunte Seite: Sie wurde Zeuge, wie ein Nomade einen großen Beutel Kaschmir in das Geschäft brachte – und dafür weniger als einen Dollar bekam. »Ich war geschockt, wie die Nomaden übervorteilt werden«, erzählt Garry. »Das Leben der Nomaden im Himalaja ist hart genug. Dann bringen sie ihre Wolle und ihr Kaschmir auf die lokalen Märkte in China und bekommen dafür ein Paar Turnschuhe oder weniger als einen Dollar für das Kilo Wolle. Das hat mich absolut umgehauen. Mein Gott, den Leuten bleibt fast nichts.« Eigentlich wäre das Kaschmir nämlich bis zum Hundertfachen wert, Luxusmarken stellen daraus teure Edelprodukte her.

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In den letzten zwanzig Jahren verbrachte Garry, 53, fast mehr Zeit auf dem tibetischen Hochplateau als in den USA. Sie schlief in Nomadenzelten und erkundete fast alle Winkel Tibets zu Fuß, auf dem Pferderücken und auf Motorrädern, in Bussen und geländegängigen Allrad-Jeeps. Sie reiste auch auf den Spuren ihres Vaters, der in China gearbeitet hatte, aber gestorben war, als Garry erst 15 Jahre alt war. »Ich verliebte mich in die Kultur«, erzählt die dunkelhaarige Designerin, die im kalifornischen Carlsbad lebt. 18 Jahre lang arbeitete sie für die Philanthropic Collaborative der Rockefeller Financial Services, auch für das Aspen Institut, UNESCO und die Smithsonian Stiftung war sie tätig. Sie organisierte etwa 50 Millionen Dollar an Unterstützung für vernachlässigte ethnische Minderheiten in Asien, vor allem für Tibeter, und je mehr Zeit sie dort verbrachte, desto mehr reifte in ihr der Entschluss, die Nomaden dort in ihrer traditionellen Lebensweise zu unterstützen.

»Die Nomaden gehören zu den resilientesten Menschen auf der Erde«, sagt Garry bewundernd. »Sie sind in der Lage, ihren eigenen Nahrungsmittelbedarf zu decken, handeln mit Butter, Milch und medizinischen Pflanzen. Ihr Leben hat sich in den letzten neun Jahrhunderten kaum verändert.« Eine fast vergessene Welt, in der die Zeit stehengeblieben ist.

Aber China drängt die Nomaden in Betonsiedlungen, zerstört ihren Lebensraum durch das Minen von Bodenschätzen. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber Garry schätzt, dass nur etwa zehn Prozent der Tibeter in den Hochlandsteppen von Changthang in Nordwest-Tibet und um den Berg Kailash noch dem Druck der chinesischen Regierung trotzen und ganzjährig in Zelten oder Jurten leben. »Aber all ihre Handelswege waren unterbrochen.«

Im Jahr 2000 startete Garry ihre erste Kampagne; das Ziel war zunächst nur, mehr Aufmerksamkeit auf die Qualität der Nomadenprodukte zu richten, damit sie mehr Gegenwert dafür bekommen würden. Das gelang auch, war Garry aber bald nicht mehr genug. »Den Leuten zu einem funktionierenden Business zu verhelfen, ist eine bessere Unterstützung als Almosen.«

Vor drei Jahren gab sie ihren Job auf, um sich hundertprozentig den Nomaden und traditionellen Kunsthandwerkern zu widmen. Garry spricht längst selbst tibetisch, sogar ein wenig den lokalen Dialekt. Unter dem Label Noble Fibre hat Garry eine Struktur aufgebaut, die den Nomaden und traditionellen Kunsthandwerkern ermöglicht, mit ihrer Yakwolle und ihrem Kaschmir einen guten Lebensunterhalt zu verdienen. »Ihre Tiere sind der ganze Stolz und das Vermögen der Nomaden«, sagt sie, »also kann man sie am besten unterstützen, indem man den Wert ihrer Wolle erhöht.« Sie organisierte Trainings, um die Wasch- und Bürsttechniken für die Wolle zu verbessern, vor allem aber baute sie neue Handelswege auf. »Wenn der Marktpreis für weißes, tibetisches Kaschmir bei 90 Dollar pro Kilo liegt, dann zahlen wir ihnen diesen Preis. Sonst verlieren sie zuviel Vermögen.«

Das in Tibet gewonnene Kaschmir wird ebenso wie die Yakwolle nach Nepal gebracht und dort gesponnen und weiterverarbeitet. In den entsprechenden Betrieben sind ausschließlich Frauen beschäftigt.

Fotos: Monica Garry

Garry arbeitet vor allem mit einem Stamm nahe dem Berg Kailash – 42 Familien, die jedes Jahr 200 bis 300 Kilo Wolle produzieren. Yonten Damchen etwa, eine fünffache Mutter, hatte vorher Schwierigkeiten, mit den Magerpreisen für die Wolle ihrer Yaks und das Kaschmir ihrer weißen Ziegen auf dem lokalen Markt ihre Familie zu ernähren.

Garrys tibetische Partnerinnen, allesamt Frauen, organisieren nun den Handel und die Lastwägen, die mit der flauschigen Ladung dreieinhalb Tage für die Fahrt von Tibet nach Kathmandu brauchen. In Nepal warten Garrys Kooperations-Partnerinnen, ebenfalls allesamt Frauen, die die Wolle weben und verarbeiten. »Die gewerbsmäßigen Webereien in China und Nepal sind grauenhaft«, hat Garry beobachtet. Ihre Webereien dagegen sind Fair Trade zertifiziert. »Ich kenne jeden einzelnen Menschen in diesen Webereien und jeden Aspekt ihrer Tätigkeit« sagt Garry. »Sie sind sicher, gut organisiert, und die Leute haben am Samstag frei.« Viele Produkte stellen die Frauen von Hand her, »dadurch wird das Gewebe feiner.« Sie lässt die Wolle nicht bleichen, sondern mit natürlichen Farben färben; vieles belässt sie auch naturfarben. Der Prozess ist langsamer, aber das Ergebnis sieht anders aus als Massenproduktion. Die erdfarbenen, blauen oder roten Schals sind flauschig und luftig.

So löst Garry mehrere Probleme auf einmal: Sie unterstützt die Nomaden in ihrem traditionellen Lebensstil, fördert Frauen, ermöglicht den Beteiligten einen lebenstauglichen Lohn, und die Produkte, die daraus entstehen, sind qualitativ so hochwertig, dass sie Jahre lang halten. Die ersten Wolldecken, die sie vor zwölf Jahren herstellte, seien immer noch in Benutzung, sagt sie.

Ihre Schals, Decken und Pullover sind mit mehreren Hundert Euro allerdings deutlich teurer als viele andere Wollprodukte. Dafür kennt Garry den Weg, den jedes Ziegenhaar vom Fuß des Berg Kailash über eine Nomaden-Kooperative in Lhasa und die von Frauen geleitete Weberei in Nepal zum Träger nahm. »Oft werden minderwertige Fasern mit hochwertigeren Fasern gemischt, sogar bei den teuren Designern«, sagt Garry. Noble Fibre dagegen nehme nur die längsten (über 36 mm) und dünnsten Fasern, damit die Decken und Schals sich so weich und leicht anfühlen, wie Edel-Kaschmir eigentlich sein soll.

»Es gibt in der Welt von Kaschmir und Wolle keine wirklich ethische und nachhaltige Produktion – außer bei den Nomaden, die seit 900 Jahren ihre Ziegen, Yaks und Schafe so halten, dass die Böden geschützt werden«

Noble Fibre ist eine »social benefit corporation«, das ist eine amerikanische Geschäftsform, für die besonders strenge Transparenzregeln gelten und die (stark vereinfacht ausgedrückt) Gewinne mit Gemeinnützigkeit vereint. Gewinne werden an die Nomaden und Weber zurückgegeben. Anders als traditionelle Geschäftsinhaber hat sich Garry bisher kein Gehalt bezahlt (»vielleicht Ende des Jahres, wenn was übrig bleibt«). Sie wünscht sich, dass die Tibeter so erfolgreich werden, »dass sie am besten ihre eigenen Geschäfte führen und mich nicht mehr brauchen.«

Wirklich nachhaltige Produktion heißt auch: Als sich Talkshow-Hosts wie die Medienmogulin Oprah Winfrey und Ellen deGeneres für ihre Schals interessierten, musste Garry erkennen, dass sie Massenbestellungen gar nicht erfüllen könnte. Die erhöhte Nachfrage für Kaschmir schaffe Umwelt- und wirtschaftliche Probleme, hat Garry selbst gesehen. In der Mongolei seien 65 Prozent der Grassteppen verwüstet, weil zu viele Ziegen auf zu kleinem Raum gehalten würden: »Es gibt in der Welt von Kaschmir und Wolle keine wirklich ethische und nachhaltige Produktion – außer bei den Nomaden, die seit 900 Jahren ihre Ziegen, Yaks und Schafe so halten, dass die Böden geschützt werden.« Aber natürlich schauen die Älteren auf die jüngere Generation in dem Wissen: «Die werden wohl kein traditionelles Nomadenleben mehr führen, sie brauchen eine gute Schulbildung.«

Viele Läden haben Kaschmir- und Pashmina-Produkte verbannt, weil sie oft gefälscht sind, die Produkte als nicht nachhaltig gelten und mit Tierquälerei hergestellt werden. Noble Fibre beziehe zum Beispiel keine Wolle von der gefährdeten tibetischen Antelope, die für ihr Fell getötet wird, und alle Nomaden verpflichten sich (und werden geschult), die Wolle ohne Tierquälerei durch Kämmen und Scheren zu gewinnen.

Inzwischen arbeitet Garry auch mit Einheimischen in Ladakh und der Mongolei, einer Fair-Trade-Kooperative in Peru, mit Bio-Baumwolle aus Indien, traditionellen Handwerkern in Mexiko, und vielleicht bald mit neuen Partnern in Afrika. »Durch die Pandemie wurde mir nochmal besonders klar, wie schwer es die Indigenen und die kleinen Kunsthandwerkbetriebe haben, sich im Markt zu behaupten.« Garry hat zwar mit namhaften Unternehmen wie JCrew kooperiert, fand aber, dass die Preise dort so nach unten gedrückt werden, dass kaum etwas für die Nomaden übrig blieb. Deshalb vermarktet sie die Schals und Produkte überwiegend direkt über das Internet.

Eigentlich wäre sie diesen Herbst wieder zu den Nomaden gereist, aber die Pandemie erschwert Reisen und Kommunikation. Garry bezieht immer noch 100 bis 200 Kilo Kaschmir pro Jahr von »ihren Nomadenfamilien« aus der Changthang-Region, dem zweitgrößten Naturschutzgebiet der Welt, inzwischen aber auch mehr aus der indischen Bergregion Ladakh. »Da leben Tibeter, sie sprechen Tibetisch, aber sie leben eben auf der anderen Seite der Landesgrenze.« Dort falle auch die nahezu lückenlose elektronische Überwachung durch die Chinesen weg.

Von den Nomaden habe sie aber auch gelernt, wie man durch die Pandemie kommt: »Ich war im Frühjahr ziemlich verzweifelt, als alle Trunk Shows und Messen zusammenbrachen« sagt Garry. Aber meine Partner sagten einfach: »Lasst uns das zum besten Jahr machen, das unter diesen Umständen möglich ist. Was sollten wir auch Anderes tun? Es ist bemerkenswert, wie sich die Leute nicht unterkriegen lassen.«

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels war zu lesen, Oprah Winfrey hätte eine große Menge Schals von Monica Garry bestellt. Das war eine falsche Information, die auf einem Missverständnis beruhte.