Die Korallenärztin

Korallenriffe sind sehr wichtig für die Meere und leider stark bedroht. Eine brasilianische Meeresbiologin hat nun die erste Arznei für gefährdete Korallen entwickelt – mit einer Methode, die an Joghurt erinnert.

Die Meeresbiologin Rachel Peixoto an ihrem Arbeitsplatz, einem Korallenriff im Roten Meer.

Foto: KAUST

Wenn Raquel Peixoto zur Arbeit geht, schnorchelt sie im Roten Meer die Nemostraße entlang, biegt links ins Oktopusland ab oder schwimmt in der Delfin-Avenue neben den Delfinen. »Wir haben jeden Bereich unseres Korallendorfs nach den Lebewesen benannt, die dort leben«, sagt die Meeresbiologin. Ihr anderer Arbeitsplatz liegt an Land, nur eine halbe Autostunde entfernt: die Labore der KAUST Universität in Saudi-Arabien, die Abkürzung steht für King Abdullah University of Science and Technology. Dort forscht sie, wie man die Anemonenfische in der Nemostraße und die vielarmigen Bewohner des Oktopuslandes am Leben halten kann. Peixoto hat erste Erfolge mit einer Methode erzielt, die gleichzeitig neu und vertraut ist: Probiotika für Korallen.

Bei Probiotika handelt es sich um Mittel, die lebende Mikroorganismen enthalten. Diese sind im Joghurt und in anderen Lebensmitteln zu finden, werden aber auch gezielt als Arznei eingesetzt, zum Beispiel bei verschiedenen Darmerkrankungen.
Peixoto, die sowohl Mikro- als auch Meeresbiologie studiert hat, konnte nun als Erste nachweisen, dass man auch Korallen mit Probiotika-Kuren widerstandsfähiger machen kann. »Wir haben die auf diese Weise behandelten Korallen im Labor Hitze, Pathogenen und Öl ausgesetzt«, erklärt sie. Die Probiotikakur erhöhte die Überlebensrate der Korallen um 40 Prozent. »Wir beobachten, dass sich das Mikrobiom der behandelten Korallen regeneriert und sie Stress besser aushalten«, fasst Peixoto ihre Forschung zusammen. »Damit haben wir zum ersten Mal eine Medizin für Korallen.«

Raquel Peixoto, 45, ist Professorin für Meeresbiologie an der KAUST-Universität in Saudi-Arabien und Co-Vorsitzende des »Coral Conservation Committee« der International Coral Reef Society. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Saudi-Arabien.

Foto: KAUST

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Raquel Peixoto wuchs in Rio de Janeiro auf, wo die Familie fast jeden Tag zum Strand ging. Dort gibt es zwar keine Korallenriffe, aber als sie zum ersten Mal in Bahia im Nordosten Brasiliens schnorchelte, war sie sofort »wie hypnotisiert von diesen prachtvollen Ökosystemen«. Über die Jahre sah sie, wie die farbenfrohe Unterwasserwelt immer mehr Schaden nahm. »Korallen bleichen, wenn die photosynthetischen Algen, die in ihnen leben und sie mit Nährstoffen versorgen, sterben oder woanders hinziehen«, erklärt Peixoto. Genau wie bei kranken Menschen auch gerät dann das Mikrobiom ins Ungleichgewicht.

In ihren Studienjahren in Brasilien entwickelte Peixoto zunächst ölfressende Bakterien, um Mangrovenwälder nach Ölkatastrophen zu säubern. Weil die Bakterien die Mangroven zum Wuchs anregten, experimentierte sie auch bei anderen Spezies mit bakterieller Verstärkung, vor allem ihren geliebten Korallen. »Ich dachte, vielleicht könnte ich das Konzept nicht nur anwenden, um die Verschmutzung zu beseitigen, sondern um die Pflanzen resilienter zu machen.«

Derzeit testet sie die Methode unter Realbedingungen im Roten Meer. Vergangenen Herbst tauchte die zierliche, lebhafte Forscherin mit ihrem Team zum ersten Mal ins Korallendorf, um gesunde Mikroorganismen auf mehrere Riffabschnitte aufzutragen. Es steht denkbar viel auf dem Spiel: In den letzten fünfzig Jahren hat unser Planet bereits fünfzig Prozent der Korallenriffe verloren. »Korallenriffe sind die Basis der Ökosysteme im Meer«, sagt Peixoto. 34 Prozent der uns bekannten Meeresbewohner sind von ihnen abhängig, etwa weil sie dort leben, wie Oktopusse, oder teilweise dort laichen, wie Thunfische. Peixoto versucht nun herauszufinden, welche Korallenarten am besten auf welche Probiotika-Mischung ansprechen und wann man diese am besten verabreicht. »Es gibt einen Wendepunkt, an dem die Korallen nicht mehr zu retten sind. Deshalb ist die Sache so dringend.«

»Wir können einen Teil der Riffe retten, wenn wir drei Dinge tun: Wir müssen die globale Erwärmung stoppen, örtliche Verschmutzung unter Kontrolle bringen und aktiv die Riffe restaurieren«

Sie bezeichnet sich als optimistisch-realistischen Menschen. Korallen sind nämlich erstaunlich resilient, wenn sie kurze Hitzeperioden durchstehen müssen – aber die steigenden globalen Temperaturen, gekoppelt mit anderen Bedrohungen wie der Übersäuerung der Meere, machen sie anfällig. »Wenigstens haben wir am Ziel festgehalten, die Erderwärmung nur um 1,5 Grad Celsius steigen zu lassen«, sagt Peixoto mit einem Seufzer unter Bezug auf die globale Klimakonferenz COP26 letzten November. Dieses Ziel ist essenziell: Zehn bis 30 Prozent der Korallen könnten eine Erwärmung um 1,5 Grad wohl überleben. Aber wenn die Temperaturen um zwei Grad oder mehr steigen, werden 99 Prozent der Korallen sterben. »Das ist eine Tatsache«, sagt Peixoto mit fester Stimme. »Darüber gibt es unter uns Wissenschaftlern keine Debatten mehr.«

Peixoto ist bei KAUST für ihre Forschung ideal positioniert: Das Rote Meer heizt sich im Sommer auf bis zu 32 Grad auf, eine Temperatur, die viele Korallen nicht überleben. Einige Korallen scheinen sich allerdings an die Hitze angepasst zu haben, und genau das erforscht Peixoto. »Der einzigartige Aspekt der Korallen hier ist, dass sie wirkungsvolle Probiotika enthalten.« Peixoto arbeitet mit Wissenschaftler auf der ganzen Welt zusammen, unter anderem von der Universität Konstanz, um die am stärksten gefährdeten Riffe zu identifizieren. Auch ihr Probiotikacocktail wird sich je nach Korallenart und örtlichen Gegebenheiten anders zusammensetzen. Aber Peixoto betont, dass ihre Methode natürlich ist und ohne Genmodifikation auskommt. »Wir entnehmen Bakterien aus gesunden Korallen, vermehren sie im Labor und tragen sie dann auf kranke Korallen auf«, erklärt sie, »genau wie man junge Setzlinge schützt, bevor man sie wieder im Wald pflanzt.« Wenn man sie nach ihrer Prognose für die Korallen fragt, macht sie eine lange Pause. »Es hängt von den Entscheidungen ab, die wir treffen«, sagt sie schließlich. »Wir können einen Teil der Riffe retten, wenn wir drei Dinge tun: Wir müssen die globale Erwärmung stoppen, örtliche Verschmutzung unter Kontrolle bringen und aktiv die Riffe restaurieren. Wir müssen sehr entschlossen handeln.«

Ihre Liebe zum Meer ist dabei nicht nur ihr professioneller Fokus, sondern die Leidenschaft der ganzen Familie. Auch ihr Mann arbeitet als Meeresforscher am KAUST, und ihr ältester Sohn, 24, schließt gerade sein Studium in Meeresbiologie ab. Im Urlaub geht die ganze Familie meistens tauchen oder surfen. »Was macht ihr beruflich? Tauchen! Was macht ihr am Wochenende? Tauchen!«, sagt die dreifache Mutter mit einem Lachen. Aber die Sache selbst ist nicht zum Lachen: »Ich setze mich mit aller Kraft dafür ein, dass auch meine Kinder und Enkel noch in einer Welt leben, in der es Korallenriffe gibt.«