Mit Jogginghose im Silvesterkonzert

Wie ist es, wenn man mit Kindern zum ersten Mal ein klassisches Konzert besucht? Frustrierend oder inspirierend? SZ-Magazin Autorin Nataly Bleuel über einen denkwürdigen Abend in der Berliner Philharmonie.

Zu Weihnachten habe ich meinen Jungs etwas geschenkt, das sie, so reißerisch habe ich das formuliert, »jetzt vielleicht noch nicht umreißen, aber in ihrem ganzen Leben nicht vergessen werden«. Ich wusste, ich muss ihr erstes klassisches Konzert dramaturgisch geschickt einfädeln: mit Exposition und Vorstellung der Figuren, allmählichem Spannungsaufbau durch gelegentliches Einstreuen von Bemerkungen, die nicht nur anpreisend sondern auch mal kritisch rüber kommen müssen, zwecks Verbrüderung mit der Mutter. Die einen in ein klassisches Konzert schleift.

Dass man ein solches, ein historisches Konzert tatsächlich sein Leben lang in Erinnerung behält, weiß ich aus eigener Erfahrung. Meine Mutter schleifte mich, da war ich etwa so alt wie mein Großer, er ist 14, zu Leonard Bernstein und dem Bayerischen Rundfunk-Sinfonieorchester, sie spielten die Große Messe von Mozart. Ich fand alle Leute da total steif. Bis zu dem Moment, als Leonard hereintänzelte, er hatte etwas Leichtfüßiges in seinen Lackschuhen und dann schlug er sie, als er seinen Dirigentenstab in die Luft reckte, leicht zusammen. Von diesem Augenblick an war ich ihm verfallen. Diesem alten Mann mit dem schlohweißen Haar. Und diesem überirdischen Charisma, lebensfroh und melancholisch zugleich. Er war der erste Mensch, von dem ich eine 797-seitige Biografie gelesen habe. Und den ich danach immer noch mochte.

Als ich meiner Mutter erzähle, dass ich mit ihren Enkeln in das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker ginge, bei dem der weltberühmte Pianist Daniil Trifonov, dem der Donnerhall des Genies weit über seine Geburtsstadt Nischni Nowgorod vorauseilt, das berüchtigte dritte Klavierkonzert von Rachmaninoff spielen würde, sagt sie: »Da bin ich mal gespannt! Du hast ja bei Bernstein so laut gelacht, dass sich alle nach uns umdrehten.« Das habe ich verdrängt. Wenn ich aber tief in mich hinein höre, spüre ich wieder dieses Glucksen: Es gibt zwischen den Akten eine Pause... und da fangen all die steifen alten Leutchen immer an zu hüsteln und zu husten; das fand ich total lustig.

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»Jungs, dieser Daniil is' fei erst 25 Jahre alt, Wahnsinn, oder?«

»Also, dieses Klavierkonzert, das hab ich mal in einem Kinofilm gesehen – nein: kein Dokumentarfilm, ein echter Film! –, das ist so schwierig, da sind schon einige verrückt drüber geworden!«

»Dieser Abend ist so ein irrsinniges Ereignis, da sitzt manchmal auch die Merkel drin und das wird live im Fernsehen übertragen, da kommen Leute sogar extra aus China angeflogen!«

»Wir müssen uns noch die Haare grau färben, sonst fallen wir auf im Publikum.«

»Den Dirigenten, Sir Simon Rattle heißt der, weil die englische Königin ihn so gut fand, dass sie ihn zum Ritter geschlagen hat, der hat auch Kinder und den habe ich mal mit seinem Sohn im Publikum sitzen sehen, so wie wir.«

»Ihr könnt in der Pause 'ne Cola haben. Und 'ne Breze.«

»Nee, ihr zieht an, was ihr schick findet, wir kaufen doch nicht extra Hemden und Fliegen, es geht da um die Musik und nicht um die Klamotten.«

»Übrigens, dieser Daniil Trifonov, den halten einige für eine Art Weltwunder!«

Es ist so weit, Abend des 29. Dezembers 2016, erstes der drei Silvesterkonzerte. Wir stiefeln los. Die Jungs haben sich schick gemacht. Der Große trägt seine Camouflage-Jogginghose, einen Army-Sweater und khakifarbene Sneaker. »Alles farblich passend«, sagte er zufrieden und gelte sich die Haare. Der Kleine trägt stolz seine neue Jeans, stonewashed skinny, und einen schwarzen Hoody. Er gibt zu, dass die weißen Sneaker »arschdreckig« sind. Und wie immer auch die Fingernägel. Damit der Kontrast zwischen Kindern und Mutter nicht zu groß wird, also zwecks Wir-Gefühl und Guck-mal-die-da-Gefühl, ziehe ich auch Turnschuhe an, immerhin golden.

Bevor wir die Philharmonie betreten - Mutter: »das schönste Gebäude Berlins!« -, sagt der Große: »Die filmen uns hundertpro! Wir sind da die einzigen Kinder!« Um den Druck zu mindern, verrate ich, dass nur am Silvesterabend gefilmt wird. Wir sind drin, die Jungs werden still, etwas andächtig. Da steht noch ein Junge - in Smoking und Fliege. Wir verlieren kein Wort. Über den Spießer. Wir gehen sogar in die Einführung. »Die erzählen da was zum Stück und zu den Leuten«, sage ich, »und das kann ganz unterhaltsam sein.« Leider ist es das diesmal nicht. Nach 20 Sekunden muss ich an unseren 86-jährigen Nachbarn denken, der würde das spritziger gestalten. Der Mann (in meinem Alter) berichtet in einer girlandenartig getragenen Sprache von uninteressanten Details. Während ich mir noch ein analytisches Staunen abringen kann, rutscht mein Kleiner beunruhigend tief in den Stuhl. Alle drei Minuten flüstere ich aufmunternde Lästereien in sein Ohr.

Pause, Cola, Breze, jetzt geht's aber los!

Wir sitzen ziemlich weit vorne, ich zwei Reihen hinter den jungen Herrschaften und zische ihnen noch schnell zu, dass sie jetzt aber nicht mehr tuscheln dürfen. Das erste Stück, vor dem Klavierkonzert, ist eine dolle Schmonzette und ich denke, das wird dem Kleinen gefallen: Er hat mal eine Zeit lang leidenschaftich gern Filmmusiken gehört. Dem Großen hatte ich aus dem Programmheft vorgelesen: das erste Stück würde circa 5 Minuten dauern, das Hauptstück circa 40 »und dann ist schon Pause«. »Wie lang?« Nach circa zweieinhalb Minuten – die Philharmoniker spielen wie immer überwältigend, schön, perfekt, groß – dreht sich der Große zu mir um und zieht die Augenbrauen hoch. Sein Zeichen für: Wow! Das knallt!

Ich freu mich. Daniil kommt hereingelaufen. Ganz schön junger Mann, ganz schön lange Haare. Anfangs sitzt er am Klavier, als wäre er nur Ohren und Hände. Der Körper unbewegt, aber die Finger gleiten über die Tastatur mit einer Leichtigkeit, als wären es Schallwellen. Ich beobachte meine Söhne. Der Große ist in dem Alter, wo der Mensch gelernt hat, seinen schweren Kopf aufrecht zu halten. Der Kleine nicht. Er stützt seinen schweren, schweren Kopf auf seine dünnen Ärmchen. Seine skinny Beine rutschen immer weiter runter und fallen auseinander wie sie das bei jungen und auch älteren Männern tun, die es geil finden, ihre Körper der Schwerkraft preiszugeben.

Ich denke, oh, hoffentlich hält das. Gucke um mich herum. Der extrem eleganten asiatischen Mithörerin, in Miyake-Seide und Queen-Dutt, flattern die Lider runter. Ich habe das schon öfter beobachtet, an asiatischen Mithörerinnen wie an Berliner Weißköppen. Man ergibt sich hier einem philharmonischen Power-Nap. Ich finde das extrem unhöflich. Mir ist das peinlich. Den Musikern gegenüber. Die üben und üben und üben ein Leben lang täglich Stunden, um an diesem Abend ein Feuerwerk der Leidenschaft zu zünden, für uns!

In Daniils Körper ist mittlerweile ein Geist gefahren, er wirkt wie beseelt, nein, erleuchtet, eine Schweißperle glitzert auf seiner Nasenspitze, er spielt sich mit schlafwandlerischer Sicherheit durch diese extreme Komposition, eine Qual eigentlich, so kompliziert, als habe der Pianist Rachmaninoff sich beim Komponieren vorgenommen, allen Kollegen mal ordentlich eins reinzuwürgen. Und da fällt der Omi schräg vor mir der Kopf nach vorn. Sie hat Glück, sie sitzt nicht neben mir. Ich habe schon mal einem Nachbarn, der begann Schnarchgeräusche von sich zu geben, in die Seite gehauen. Nicht geknufft. Gehauen. Mehrmals.

Mein Großer scheint wirklich gebannt. Der Kleine wirklich schlaff. Es ist halb neun, zuhause wäre er putzmunter. Ich kann ihm – Eltern sind so – zugutehalten, dass er bislang auf jedem Konzert eingeschlafen ist. Bei Andreas Bourani. Und bei Coldplay im Olympiastadion, wo es so laut war, dass ich die Musik nicht mehr hörte. Er schlief. Er ist so ein Typ, denke ich, ein Dauer-Aktionist, der, sobald er ruhig sitzt, einschläft. Jetzt spielen Daniil Trifonov und die Philharmoniker die letzten Noten. In der rappelvollen Philharmonie springen alle aus ihren Stühlen, als wären sie junge Hupfer. Standing Ovations. Helle Begeisterung. Dank. Ergebenheit. Ein Wunder.

Mein Großer grinst mich an. Mein Kleiner bleibt sitzen und applaudiert wie eine schwindsüchtige Lady in Schmonzetten des 17. Jahrhunderts.

Ich stehe und klatsche und bin mir der Sache trotzdem sicher. Denn was hier gerade passiert ist, das fühlt jeder Mensch. Daniil Trifonov grinst und verbeugt sich mit seinen klatschnassen Haaren, fast wie beim Headbanging.

Wir gehen raus. Der Große sagt: »Cool, echt cool!«

Der Kleine wird seinem Vater auf die Frage, wie es war, erwidern: »Krass! Die Musik war bisschen wie in ‚Arrival to Earth' bei Transfomers - nur dass der alles auswendig konnte! Und genau wusste, wann er laut und wann er leise spielen muss! Und er hat keinen einzigen Fehler gemacht!« Ich werde ihn fragen, woher er das weiß. Und er wird sagen: „Das fühlt man!"

Aber davor, auf dem Weg hinaus aus der Philharmonie, auf die der Berliner mächtig stolz sein kann, bemerkt der Große noch: »Vielleicht wird dieser Daniil ja mal weltberühmt und dann können wir sagen: Wir waren dabei!«

Manche Dinge muss man eben erleben. Sonst kann man sie einfach nicht umreißen.

Foto: Berliner Philharmoniker