Wie aus Abfall Kunststoff wird

Zwei kalifornische Brüder waren beim Surfen so vom Plastikmüll genervt, dass sie jetzt Biokunststoff herstellen – mit einer Methode, die zumindest in Teilen jedem Gartenbesitzer bekannt vorkommen dürfte.

Das Problem: Allein in Deutschland produzieren wir 14 Millionen Tonnen Plastik-Verpackungen pro Jahr
Die Lösung:
Die Zwillingsbrüder Jeff und Dane Anderson machen Biokunststoff aus Kompost.

Für Jeff und Dane Anderson, 32, gibt es nichts Schöneres, als morgens gleich zum Sonnenaufgang ans Meer zu eilen. Die beiden Kalifornier sind begeisterte Surfer. »Nach unserem Schulabschluss waren wir den ganzen Tag am Strand beim Bodysurfen«, sagt Jeff, und so kamen die Zwillinge durch ihr Hobby auf eine Idee, mit der sie unser Leben revolutionieren wollen: «Wir waren genervt davon, dass uns ständig Plastikmüll im Gesicht traf.« Am Strand von San Diego überlegten sich die Brüder, dass es so nicht weitergehen könne.

Schon klar, es gibt nichts Besseres als Plastik: superbillig, vielseitig verwendbar und hält ewig. Deshalb produzieren wir Menschen mehr als 250 Millionen Tonnen davon im Jahr und haben nun ein gigantisches Plastikproblem – Plastik aus Petroleum ist überall: auf dem Boden der tiefsten Weltmeere, in unseren Müllgruben, an Straßenrändern, in unseren Körpern. Und eben in den Wellen von San Diego.

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Dass wir mit Plastik nicht so verschwenderisch umgehen können wie bisher, ist wohl jedem klar. Aber wie ginge es besser? »Wir sind angetreten, zwei große Probleme auf einmal zu lösen: Berge von Essensresten und Plastikberge«, sagt Jeff Anderson, der sich von seinem Zwillingsbruder äußerlich nur durch den längeren Hipsterbart und einige Kilo mehr auf den Hüften unterscheidet. Die beiden Abwasser-Ingenieure studierten gemeinsam, leben immer noch zusammen und haben nun auch gemeinsam im kalifornischen Albany die Firma Full Cycle Bioplastics gegründet.

Dane und Jeff Anderson verwenden in ihrer Versuchsfabrik, was wir wegwerfen: Abfall. Ihr Prinzip klingt täuschend simpel: Sie verwandeln Kompost in Biokunststoff. Weg von fossilen zu nachwachsenden Rohstoffen. Jeff versucht, den chemisch komplizierten Prozess Menschen ohne Ingenieursstudium verständlich zu machen: »Organische Abfallprodukte, also Essensreste, Landwirtschaftsabfälle und sogar schmutzige Kartons« kompostieren die Brüder in einer von ihnen entworfenen Kompostiereinheit und erhalten auf diese Weise durch Biosynthese »ein sehr gehaltvolles Abwasser mit Fettsäuren«. Diese Fettsäuren verwandeln sie mit Hilfe von Bakterien in Polyhydroxyalkanoate (PHA) oder Polyhydroxyfettsäuren, auf gut deutsch »Mikro-Fett«, eine zähe, milchig schimmernde Masse, die sich zu Verpackungen und Einweggabeln pressen lässt. Für diese Idee haben sie bereits ein halbes Dutzend Innovations-Preise gewonnen, unter anderem den Sustainable Entrepreneurship Award 2016.

Biokunststoffe aus organischem Material wie Zucker, Stärke oder Zellulose schienen mal die Lösung für alle Plastikprobleme und sind ein heiß umkämpfter Markt, mit zweistelligen Wachstumsraten auf der ganzen Welt. Aber dann stellte sich heraus, dass vieles nur Greenwashing ist – für die Herstellung braucht man dann doch viel Chemie, Unmengen Wasser oder muss die natürlichen Stoffe mit Weichmachern gefügig machen. Das ist nämlich das Problem bei Bioplastik: Der Begriff ist nicht klar definiert. So gut viele Ideen sind – längst nicht alles, wo Bio draufsteht, ist auch verträglich für die Umwelt; und Bioplastik heisst nicht automatisch, dass es biologisch abbaubar ist.

Der größte Vorteil der Anderson-Brüder: Anders als viele Hersteller brauchen sie keine extra gezüchteten Pflanzen wie Zuckerrohr, keine Chemikalien und auch keine genetisch modifizierten Bakterien. »Andere verwenden sehr teures Rohmaterial wie Zucker oder Saatöle und chlorinierte Lösungsmittel, um das PHA zu extrahieren. Abfälle dagegen gibt es überall, und viele Firmen bezahlen sogar dafür, sie zu entsorgen. Unser Prozess ist natürlich, ohne Chemikalien, Petroleum oder GMO.«

Im Idealfall nehmen die Anderson-Brüder ihre Produkte wieder zurück, deshalb nennen sie sich ja Full Cycle Bioplastics: »Wir kompostieren sie wieder und stellen daraus jungfräuliches Bioplastik her.« Landet es im Straßengraben oder im Meer, richtet es zumindest keinen Schaden an: Es verrottet oder wird zu Fischfutter.

Ein weiterer Kritikpunkt bei der Bioplastik-Herstellung ist oft der hohe Energie- und Wasserverbrauch. Die Anderson-Brüder glauben, auch diese Probleme gelöst zu haben: »Der Kompostiervorgang selbst braucht wenig Energie und kaum Wasser, sondern erzeugt Wasser.« Außerdem sei ihre Methode CO2-negativ oder zumindest neutral. Bei normalem Kompostieren werden CO2 und ein wenig Methan frei. Das Anderson-System bindet das Kohlendioxid als Biopolymere – allerdings, so geben die beiden zu, nicht dauerhaft, weil es schließlich wieder freigesetzt wird, wenn das fertige Produkt wieder kompostiert wird. Aber ihre Methode setzt zumindest kein zusätzliches CO2 frei.

Die Brüder wollen Plastik nicht komplett abschaffen. Bei Gegenständen, die lange halten sollen, etwa der harten Schale eines Laptops, sollte man eher nicht mit Kompost experimentieren. Aber vor allem bei Dingen, die nur einmal benutzt werden – Verpackungen, Einweggeschirr, Plastiktüten – ist es Wahnsinn, sie aus einem Material herzustellen, das 400 Jahre lang nicht verdirbt. Allein in Deutschland sind das sechs Millionen Tonnen Wegwerfprodukte jedes Jahr.

Nachdem sich die Brüder unzählige Recycling-Firmen und Agrar-Konzerne anschauten, sind sie davon überzeugt, »dass das konventionelle System total kaputt ist.« Aber sie wissen auch, dass sich Biokunststoff nur durchsetzen wird, wenn er billig ist. »Das fragen alle Firmen als erstes: Was kostet das?« Weil ihr Rohstoff kostenlos und im Übermaß verfügbar ist, hoffen sie, dass sie in der Plastikindustrie bald auch preislich mithalten können. »Der wahre Preis eines Plastikbechers ist ohnehin um ein Vielfaches höher als das, was der Kunde dafür bezahlt.« Allerdings lässt sich noch nicht überprüfen, wie gut die Plastikprodukte der Brüder in der Praxis funktionieren – ihr Labor produziert bisher erst ein Kilo PHA pro Tag, die Fabrik ist noch im Bau.

Aber in Deutschland ist Eduardo Gordillo da schon zwei Schritte weiter: Der in Kolumbien geborene Erfinder, der in Stuttgart Industriedesign studierte, hat in Hamburg die Firma Bio-Lutions gegründet.

Auch er stellt seine Verpackungen aus Agrar-Abfallprodukten her, allerdings mit einem ganz anderen Verfahren: Er nimmt faserhaltigen Pflanzen-Abfall wie Tomatenpflanzen, Bananenstämme oder Zuckerrohrblätter, und stellt durch Faserguss, ebenfalls ohne Chemie, Verpackungen her, die so stabil sind wie Pappe oder Eierkartons. Der Karton für die Weizen-Spaghetti besteht dann aus den Weizenfasern, die Schale für die Tomaten aus den Tomatenstengeln. »Wir nutzen die Natur an sich«, sagt Gordillo. Wird die Verpackung weggeworfen, verrottet sie wie Laub. Gordillo hat eine Pilotfabrik in Indien gebaut, die bereits läuft und eine knappe Tonne pro Monat produziert. Warum Indien? Weil das Plastikmüllproblem in Indien noch gravierender ist als hierzulande und einzelne Bundesstaaten dort bereits ein komplettes Plastikverbot für Einwegprodukte aussprachen. Aber auch in Deutschland will er in den nächsten Jahren Verpackungen herstellen.

Die Andersons freuen sich über jeden Konkurrenten, »weil es gar nicht genug Unternehmer geben kann, die umweltfreundliche Verpackungen herstellen. Wir wollen, dass die alle erfolgreich sind.« Denn auch das ist die traurige Wahrheit: Der Bioplastik-Umsatz wächst zwar rasant, liegt aber bis jetzt in Deutschland wie fast überall auf der Welt immer noch erst bei knapp 2 Prozent. Bis es mehr wird, werden sich noch viele Surfer (und Fische) im Meer den Kopf an Plastikmüll stoßen.

Foto: Anderson