Freundschaft statt Geld

Das »Refugee Buddy Network« hat keine Einnahmen und keine Angestellten – und doch gelingen der innovativen Hilfsorganisation erstaunliche Dinge. Weil man auch ohne Geld Leben retten kann, wie Lynda Elliott beweist.

Das Problem: Mehr als 21 Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht.

Die Lösung?
Das Refugee Buddy Network bringt Helfer und Flüchtlinge zusammen.

Der Hilfeschrei tauchte bei Lynda Elliott im Facebook-Feed auf: Der junger Syrer Najeeb Muhammaed, 22, saß in einem griechischen Flüchtlingscamp in Polykastros, das rechte Auge war ihm ausgeschossen worden, er hatte nur eine notdürftige Binde über der Wunde, und das Auge entzündete sich durch den Staub, der in sein Zelt wirbelte. Er bekam zu wenig zu essen, war depressiv und vertraute niemandem. Ein anderer Flüchtling übersetzte für ihn und postete den Hilferuf auf Facebook: Najeeb bat um medizinische Behandlung für seine Schusswunde. Kosten: 700 Euro.

»Wir haben nicht so viel Geld«, sagt Lynda Elliott, 56, die auf Facebook unter dem Namen Ruby Reina firmiert. »Ich habe ihm nur etwas Essensgeld geschickt und dann herumgefragt, wer wen kennt.« In ihrem Refugee Buddy Network kennt immer jemand jemanden, so auch hier: Ein Schweizer Arzt war auf dem Weg nach Griechenland und erklärte sich bereit, Najeeb zu besuchen. Er brachte Verbandsmaterial und Essen mit, aber bald wurde dem Arzt klar, dass das schlimmste Problem die Hoffnungslosigkeit war: »Der junge Mann brauchte die medizinische Hilfe von Spezialisten, aber weil das aussichtslos war, hatte er sich total aufgegeben.«

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Der Arzt freundete sich mit Najeeb an und bemühte sich um ein Visum für seinen neuen Freund. Mit Erfolg: Nur zwei Monate später kam Najeeb in der Schweiz an, am Flughafen wartete eine Helferin vom Refugee Buddy Network mit Schweizer Schokolade und einem Namenschild, das sie mit Hilfe eines Online-Wörterbuches in arabischer Schrift nachgemalt hatte. »Was für ein Unterschied!« sagt Lynda Elliott. »Er war unfassbar zynisch, als ich zum ersten Mal mit ihm redete. Heute ist er ein unglaublich höflicher junger Mann.« Inzwischen hat Najeeb Muhammaed ein Glasauge, das von einem echten Auge kaum zu unterscheiden ist, spielt im Fussballverein und spricht passables Schweizerdeutsch.

»Jeder einzelne Mensch in dieser Hilfskette hat etwas beigetragen, um dem Leben von Najeeb eine neue Wendung zu geben«, meint Elliott. »Wenn du glaubst, dass du als Einzelner im Leben eines Anderen keinen Unterschied machen kannst, dann denk nochmal nach.«

Ihr Refugee Buddy Network hat inzwischen über 5000 Mitglieder auf der ganzen Welt, darunter auch viele Deutsche. Das Bemerkenswerte: Elliott hat das Netzwerk ganz ohne Hilfe gestartet, ohne Vorkenntnisse und ohne Geld. Die freiberufliche Unternehmensberaterin in London verzweifelte vor zwei Jahren zunehmend an der nicht abreissenden Serie von Flüchtlingsgeschichten, die ihr Herz berührten. »Ich sah diese Bilder vom Krieg und dachte: Irgendwo da drüben lebt eine Frau wie ich, mit den gleichen Träumen und Hoffnungen wie ich.«

Was tun? Natürlich wäre es am besten, das Flüchtlingselend an der Wurzel zu heilen: keine Kriege, keine Diktatoren, keine Armut, damit erst gar niemand sein Leben in einem wackligen Flüchtlingsboot riskieren muss. Das wäre eine schöne Welt, dafür sollten wir uns einsetzen. Aber in der Zwischenzeit?

»Wir beobachten die größten Flüchtlingswellen in der Geschichte der Menschheit«, sagt Elliott und zitiert die aktuellen Zahlen der Vereinten Nationen: Über 65 Millionen Vertriebene, davon derzeit 21,3 Millionen Flüchtlinge. Mehr als die Hälfte von ihnen stammen aus Somalia, Afghanistan und Syrien.

»Das sind unfassbare Zahlen«, sagt Elliott, »Jeder einzelne Mensch hinter dieser Statistik hat eine Geschichte, ein Leben, einen Traum.« Es ist leicht, sich von den ständigen Zeitungsmeldungen über Kriege, Fremdenfeindlichkeit und Flüchtlingselend runterziehen zu lassen, davon nichts mehr wissen zu wollen. »Aber jeden Tag passiert auch Gutes«, sagt Elliott, »es kommt nur nicht so leicht in die Schlagzeilen. Wunder passieren immer wieder.«

Inzwischen lebt Najeeb Muhammaed in der Schweiz, hat ein Glasauge bekommen und spielt wieder Fußball.

Seit zwei Jahren leitet sie in ihrer Freizeit das Buddy Refugee Network. Elliott wusste vorher nichts über Flüchtlingshilfe, sie wollte einfach helfen. Als Unternehmensberaterin, deren Hauptaufgabe es ist, für ihre Kunden Lösungen zu recherchieren, beobachtete sie erst einmal sechs Monate lang, was es schon an Initiativen gab. »Mir wurde klar, dass es da ein großes unbefriedigtes Bedürfnis auf beiden Seiten gibt, nämlich Menschen, die Hilfe suchen und Menschen, die helfen wollen.« So stieß sie auf die Geschichte von Najeeb. Es gibt ja schon viele Gruppen, auch online, warum also eine neue gründen? »In den Facebook-Gruppen, in denen ich war, wurde ihm Anteilnahme ausgesprochen, aber ich dachte, das hilft ihm jetzt nichts.« Also gründete sie das Refugee Buddy Netzwerk, das genau das macht, was der Name sagt: »Wir finden für Menschen einen Buddy, anstatt einfach nur Geld zu spenden. Was wir von Flüchtlingen am allerdringendsten hören ist: Ich fühle mich unsichtbar, isoliert. Ich bin vergessen worden.«

Na, dachte Elliott, dabei können wir helfen! Sie postete ihre Idee Anfang 2016 in einer Facebook-Gruppe, die sich um die Flüchtlinge in Calais kümmerte, und hoffte, etwa 15 Freiwillige zu finden. »Am Abend des ersten Tages hatte ich 200 Mitglieder.« Nach einer Woche waren es 1000.

Das Refugee Buddy Network hat keinen gemeinnützigen Status, keinen Etat, kein Geld. Elliott prüft die Anfragen von Flüchtlingen mit Hilfe ihres Freiwilligen-Netzwerks, zu dem ein ehemaliger irakischer Polizeichef gehört, damit sie nicht versehentlich Scammer oder gar Terroristen unterstützt. Wenn ein Flüchtling große Geldbeträge braucht, wie etwa Najeeb für eine Augenoperation, ruft sie vielleicht eine Crowdfunding-Aktion ins Leben, aber Geld ist nicht der zentrale Punkt.

Elliott erzählt von einer alleinerziehenden Mutter mit vier Kindern, davon das jüngste mit Down-Syndrom, die in der Türkei strandete und die sie selbst besuchte. Von einem verzweifelten jungen Syrer, dessen Cousin mit seiner hochschwangeren Frau ein Schlepperboot nach Europa besteigen wollte und den sie via Online-Chat von seinem lebensgefährlichen Vorhaben abbringen konnte. Von einer transsexuellen Syrerin, die im Libanon strandete und sich nicht traute, sich zu outen, bis sie mit Hilfe des Buddy Network nach Norwegen auswandern konnte.

Natürlich ist die Hilfe oft chaotisch, einmal hat sie einem vermeintlich Obdachlosen Geld geschickt, der sich dann gar nicht als obdachlos herausstellte, aber insgesamt hat das Buddy Network bisher Hunderten geholfen, das ist es ihr wert. Und gerade weil alles ehrenamtlich ist, hat das Netzwerk praktisch keine Verwaltungskosten.

Elliott kooperiert mit lokalen Gruppen, wo immer es geht, zum Beispiel mit den Bahnhofshelfern in Mannheim. »Es ist um vieles einfacher, wenn man die Flüchtlinge mit jemandem zusammen bringt, der vor Ort ist, die Sprache spricht, die Rechte kennt.« Das Informationsportal über Hilfsprojekte für Flüchtlinge in Deutschland gibt einen guten Überblick über Hilfe vor Ort. Aber das Prinzip internationale Online-Hilfe vom Laptop aus funktioniert gerade bei Flüchtlingen als Ergänzung zur Hilfe vor Ort sehr gut, weil man die Flüchtlinge so auch weiter begleiten kann, wenn sie verlegt werden oder weiter ziehen. Die App »Refunite«, zum Beispiel, beschreibt sich selbst als »Börse für Flüchtlinge« und versucht, Angehörige, die sich auf der Flucht verloren haben, wieder zusammen zu führen. Die Gruppe WALY bringt auf WhatsApp amerikanische Mütter mit Flüchtlingsmüttern zusammen, denn WALY steht für »We Are Like You«.

Gerade jetzt, wo sich die Grenzen wieder geschlossen haben, wachse damit auch die Verzweiflung der Flüchtlinge, sagt Elliott. »Die Flüchtlinge spüren die Feindseligkeit, die ihnen in Europa entgegenschlägt, es fehlt der Schwung, das vor zwei Jahren da war.« Weil Elliott selbst aus Simbabwe stammt und dann in Südafrika inmitten der Apartheid aufwuchs, kennt sie »Rassismus aus eigener Erfahrung.« Das motiviert sie, aber das Projekt brachte sie auch an ihre Grenzen: »Nach sechs Monaten kippten mir alle meine Helfer weg. Wir arbeiten ja alle voll in unseren Berufen und hingen dann nach der Arbeit bis um zwei Uhr morgens im Internet, um Notfälle zu koordinieren.« Der Burnout traf auch sie, gesteht sie kettenrauchend. So viele Flüchtlinge, und so wenige Helfer.

Inzwischen lässt sie die Flüchtlinge selbst das Netzwerk organisieren, sie ist nur noch die Mentorin. Dabei muss vielleicht nicht jeder in seinem Einsatz so weit gehen, wie die kanadische Helferin des Buddy Network, die sich in der Türkei in einen Syrer verliebte: Mittlerweile sind sie in Kanada verheiratet und haben Zwillingstöchter.

Fotos: privat