Ofen für alles

Es muss nur »Kochen« draufstehen, und wir greifen zu: Küchenshows machen Quote, Topfschwinger werden verehrt wie Stars, wir lesen Rezepte wie Evangelien. Was ist eigentlich mit uns Deutschen los?

Draußen, an diesem vorerst letzten sonnigen Sonntag des Jahres, ist es gleich 15 Uhr, drinnen, im Hamburger Studio von Johannes B. Kerner, sind es, wie in jedem Fernsehstudio, gefühlte 22 Uhr 30. Kein Tageslicht dringt herein, dafür brennen die Scheinwerfer. Gerade wird die zweite Sendung Kochen bei Kerner aufgezeichnet, eine dritte wird noch heute folgen; gestern waren es auch schon drei.

Horst Lichter kommt herein, Johann Lafer, Rolf Zacherls Ziegenbart schiebt sich hinterher, dann Alfons Schuhbeck und Sarah Wiener, die zur zweiten Schicht bereits etwas derangiert wirkt, dem Studiopublikum aber routiniert einen »Guten Abend« wünscht. Und schon geht es wieder los mit dem Hantieren, Schneiden und Vorführen. Gauklerei bis zum Siedepunkt. Seit über zwei Jahren sehen jeden Freitagabend etwa 1,7 Millionen Menschen Kochen bei Kerner. Keine andere Kochsendung in Deutschland ist erfolgreicher, trotz Konkurrenz von zirka dreißig anderen Formaten, die zum Beispiel Das perfekte Dinner heißen oder Unter Volldampf oder Lafer!Lichter!Lecker! Allein bei Vox kann man, je nach Wochentag, fünfeinhalb Stunden Kochshows am Stück sehen. Damit konkurrieren unzählige Kochzeitschriften mit Titeln wie Lecker, Viva oder KreativKüche und dazu so viele Kochbücher, dass die Zahl längst nicht mehr zu überblicken ist.

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Inzwischen ist Koch sogar der am häufigsten angestrebte Ausbildungsberuf in Deutschland, Fernsehköche gehen heute wie selbstverständlich auf Tournee, und der Superstar unter ihnen, Tim Mälzer, sorgte mit seiner Ham’se noch Hack-Tour für ausverkaufte Hallen. Wie früher nur Rockstars steht er vor jubelnden Frauen, schwingt den Kochlöffel, und man fragt sich: Kocht Deutschland irgendwann über?

Und: Kochen die Menschen das alles nach, was sie bei Kerner und den anderen sehen? Nein, eher nicht. Trotz der vielen Sendungen bleibt es in den Privatküchen nämlich ziemlich kalt: Laut Marktforschungsinstitut A. C. Nielsen kauften die Deutschen im vergangenen Jahr für 3,3 Milliarden Euro Fertiggerichte, der Pro-Kopf-Verbrauch von Tiefkühlkost lag bei 37,7 Kilogramm, Tendenz steigend. Und für ihr Essen geben sie auch immer weniger Geld aus: Waren es 1970 noch 30 Prozent des Nettoverdienstes, so sind es heute 14 Prozent. Für ihr Handy zahlen sie mehr. Es ist also anzunehmen, dass die Fernsehzuschauer sich mit einer Tiefkühlpizza vor die Sendungen setzen, die vor praktischen Tipps und Warenkunde nur so dröhnen. Und dass sie aus diesen Sendungen einen anderen Nutzen ziehen, als Rezepte zu lernen.

Wir haben den Kontakt zum Essen verloren. Seit die Industrialisierung Anfang des 19. Jahrhunderts den Berufsstand der Bauern ausgedünnt hat und die Menschen in die Großstädte gezogen sind, haben wir mit Milch, Fleisch und Karotten noch so viel zu tun wie mit dem Fernsehprogramm. Je kälter und fremder unsere Umgebung jedoch wird, desto mehr sehnen wir uns nach Traditionen. Professor Christoph Klotter von der Hochschule für angewandte Wissenschaft in Fulda erklärt den Boom
der Kochshows so: »Die Menschen wünschen sich die Welt von früher zurück, aber da das nicht geht, tun sie beim Essen so, als sei alles beim Alten. Der Boom der Kochsendungen ist letztlich die Anzeige eines Verlusts.« Keine Tradition, in keinem Land der Welt, ist stärker als die der überlieferten Rezepte. Die Köche im Fernsehen verwalten diese Tradition: Sie sind moderne Geschichtenerzähler.

So geht es nun auch bei Kerner zu wie auf einer Volksbühne: Alle reden durcheinander, schon ist der nächste Kalauer dran, der vorige ist kaum verdaut. Beim Zischen der Pfannen reduziert sich das Gespräch zu einer geistigen Nährlösung. »Überall, an jeden Scheiß, geben’s heute Trüffelöl, mittlerweile sogar zum Kaffee!«, sagt Alfons Schuhbeck. Man kumpelt sich an und duzt sich durch, leiht sich auch mal die Pfeffermühle. Auf den Stirnen glänzt der Schweiß. Manchmal löst sich einer aus der Gruppe heraus, um Kostproben im Publikum zu verteilen. Ein Mann mit signalroter Gesichtsfarbe hat sich ein Lätzchen umgebunden, um auf sich
aufmerksam zu machen: Er bekommt eine Portion ganz für sich allein.

Das Erfolgsrezept jeder Kochshow: Kochen wird als einfacher, riesengroßer Spaß verkauft. Dabei ist es eigentlich eine ziemlich komplexe Tätigkeit, meint Ctefan Wohlfeil, der Präsident des Verbandes der Köche in Deutschland. Er empfängt in seinem Küchenbüro in der Hamburger Gewerbeschule für Gastronomie, an der er auch unterrichtet. Beim Pausengong geht es hier genauso laut zu wie an jeder anderen Schule – nur tragen fast alle Weiß. Wohlfeil hat einen sehr funktionalen Zugang zum Kochen: Es besteht aus Reaktionen molekularer Verbindungen, Osmose, Diffusion und enzymatischen und mikrobiologischen Vorgängen – zum Wohle und zur Freude des Gastes. »Ein guter Koch beherrscht eigentlich keine Rezepte, sondern Biochemie«, sagt er.

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Seitdem Koch ein Modeberuf geworden ist, sind seine Klassenzimmer voll wie Kühlschränke zur Weihnachtszeit. Auch Tim Mälzer war mal einer seiner Schüler, »der war enorm begabt und hat die Chemie intuitiv begriffen«. Wie Wohlfeil erkannt hat, wenden die meisten Stars der Branche, von Mälzer über Jamie Oliver bis zu Sarah Wiener in ihren Sendungen und Büchern einen einfachen Trick an, der den Erfolg für Nachkocher leicht macht: In fast jedem Rezept tauchen Ingwer, Koriander, Kreuzkümmel und andere eher unbekannte Gewürze auf, die modern und exotisch wirken sollen. Sie haben aber noch einen weiteren Effekt: »Man kann immer sagen: Das gehört so! Wenn man hingegen einen klassischen Schweinebraten auftischt, hat jeder einen Referenzgeschmack in seiner Erinnerung«, sagt Wohlfeil.

In Kernes Studio stehen die Köche nun vor dem Backofen von Johann Lafer und staunen hinein. Hinter dem Ofenglas erhebt sich ein Soufflé und der Zuseher lernt, dass man den Ofen nun keinesfalls öffnen darf, da es sonst in sich zusammenfällt. »Ich mache das flachste Soufflé der Welt«, kalauert Horst Lichter über sein Unvermögen in dieser Disziplin. Der Eindruck, dass zu jedem erfolgreichen Koch auch ein geschicktes Mundwerk gehört, täuscht nicht. Reden ist ein wichtiger Bestandteil beim Kochen und beim Essen, und Frank Hoffmann, Senderchef bei Vox, weiß, wovon er spricht. Hoffmann lächelt eher breit als gequält, wenn man seinen Arbeitsplatz als »Kochsender« bezeichnet. Vox versorgt die Nation von einem tristen Kölner Vorort aus mit medialer Fernwärme. »Vox ist in erster Linie ein Familiensender«, sagt Hoffmann, »und das gemeinsame Abendessen ist für viele Familien oft das letzte Ritual, bei dem zu Hause alle zusammenkommen und in Ruhe miteinander reden«.

Ähnlich wie Fußball ist Kochen ein Thema, zu dem sich jeder eine Meinung bilden kann. Es dient als gesellschaftlicher Kitt – aber auch als Unterscheidungsmerkmal: »Die Bessergestellten setzen sich von den Lidl-Prolls durch gute Küche ab«, sagt Christoph Klotter. Essen ist zu einer identitätsstiftenden Maßnahme geworden. Es gibt Veganer, Vegetarier, Fleischfresser, Feinschmecker. In einer unübersichtlichen Welt bietet sich Essen als »körpernahe Religion« an, sagt Professor Klotter weiter. Und: »Was früher die linksradikale Gruppe, ist heute ein veganes Restaurant – ein ideologisch sicherer Raum.« Ganz neue Formen der Essstörung entstehen dadurch. Zum Beispiel die Orthorexia nervosa – das zwanghafte Bedürfnis, sich gesund zu ernähren. »Im Grunde leben wir in einer essgestörten Gesellschaft.«

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In gehobenen Bildungsschichten zelebriert man das Abendessen mit Freunden, wobei oft die Männer kochen. Während es für die Männer aber ein elitäres Hobby wie Golfspielen oder Segeln bleibt, stehen in den Familien trotzdem weiterhin die Frauen am Herd, die jeden Tag schnelle und günstige Gerichte auf den Tisch stellen müssen. Für diese Frauen gibt Angelika Jahr das Magazin Essen & Trinken für jeden Tag heraus, einen Ableger der Zeitschrift Essen & Trinken, Deutschlands erster Kochzeitschrift, die sie 1972 gründete. Wer Angelika Jahr in ihrem Büro besucht, muss über einen langen Flur, von dem eine Treppe in die Versuchsküche führt. Auf der ersten Ausgabe von Essen & Trinken war damals eine Avocado zu sehen, was so exotisch wirkte wie heute Rambutan-Früchte.

Exotik treibt die Auflage nicht mehr in die Höhe, aber ein Superstar wie Tim Mälzer: Seitdem Angelika Jahr mit ihm kooperiert und sein Gesicht auf dem Magazintitel von Essen & Trinken für jeden Tag erscheint, steigerte sich die Auflage von 100?000 auf 400?000 Exemplare. Dass die Leute alles kochen, was da für jeden Tag drinsteht, glaubt auch Angelika Jahr nicht. »Es ist wohl ähnlich wie mit Kochbüchern, die man sich zum Blättern kauft. Die Welt wird immer stressiger und kühler: Allein der Anblick der Gerichte verspricht Gemütlichkeit.«

Auch Alfred Biolek, Fernsehkoch im Ruhestand, setzte bei seiner Sendung auf die Wohlfühlatmosphäre, die beim Kochen entsteht: Seine Sendung alfredissimo!, die von 1994 an zwölf Jahre lang im Ersten lief, vermittelte den Eindruck, als habe man sich gerade bei einem freundlichen älteren Herrn mit Nickelbrille zu einem gemütlichen Schwatz in der Küche getroffen. Auch heute noch steht ein Kochblock im Mittelpunkt von Bioleks Wohnung, er empfängt immer noch gern Gäste, inzwischen aber ohne Kamerabegleitung. Das Kochen diente bei seinen Interviews als Spannungslöser. Die Gäste sprachen erst über das Kochen, dann über ihr Leben: »Denn wie man kocht und was man isst, hat viel mit dem eigenen Leben, der eigenen Biografie zu tun«, sagt Biolek.
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Kochen ist die älteste Kulturtechnik der Menschen, älter noch als Sprache, Malerei, Musik. Wir brauchen das Essen nicht nur zum Überleben; es dient der Kommunikation, als Mittel zur sozialen Unterscheidung oder als Trost, aber vor allem bedeutet es: Heimat. Wer krank ist, wird bekocht, tapfere Kinder bekommen ihr Leibgericht. Wer lang im Ausland lebt, sehnt sich nach dem Vollkornbrot von zu Hause. Wir vergessen in der modernen Welt schrittweise unsere Kultur. Und langsam verlernen wir den Umgang mit der Nahrung. Selbst unter den Profis gehen Fertigkeiten verloren, weil immer mehr Köche in Kantinen und Großküchen auf Vorgefertigtes zurückgreifen. »Viele reißen nur noch Gefriertüten auf«, sagt Ctefan Wohlfeil. Und Christoph Klotter meint: »Was bei den Kochsendungen aufgeführt wird, ist zutiefst nostalgisch. Wie eine Sprache, die wir langsam vergessen.«

Im Grunde könnte man Kerners Kochshow also als eine Art Heimatsendung betrachten, die sich gerade ihrem Höhepunkt entgegengart. Kerner versucht mit Verzückungslauten, dem Fernsehzuschauer die Köstlichkeiten näher zu bringen. In zehn Minuten wird der Zauber vorbei sein, dann ziehen die Kerner-Mitarbeiter an der Seitenwand ein Rolltor hoch und ein Putztrupp fegt das letzte Schnittlauchröllchen aus dem Studio, damit gleich die nächste Kochen bei Kerner-Folge aufgezeichnet werden kann. Bis dahin herrscht Topstimmung, Heile-Welt-Fernsehen wie aus den Siebzigerjahren. Man kann gar nicht anders, als dieses Gutmenschengeköchle zu mögen: Gibt es doch kaum etwas Liebevolleres, als jemanden zu bekochen.

Gelegentlich verteilt Kerner ein paar Teller an die Gäste. Das freut den Mann mit der signalroten Gesichtsfarbe und er lacht, als habe er einen ganzen Fisch quer im Hals stecken. Am Ende darf sich das Studiopublikum über die Reste hermachen, ein Menschenauflauf entsteht. Für einige der Köche war es die letzte Schicht, sie müssen nur noch ein paar Autogramme geben. Für die nächste Sendung werden zwei Köche bleiben und drei neue kommen – Rotationsprinzip. Kerner zieht sich wie ein Volkstribun unbemerkt zurück und die Zuschauer matschen noch ein bisschen im Soufflé herum – es ist wirklich nicht genug für alle da. Aber am Ende stillen die Menschen hier auch nicht ihren Hunger, sondern ihre Sehnsucht.