Fünfzig Zeilen... Fondue

Das Fondue-Essen an Silvester ist eine Familientradition – bis man selber der Erwachsene geworden ist.

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Elfeinhalb Monate lang standen die eigentümlich unterteilten Teller in einem hinteren Winkel des Schrankes, zu keiner anderen Mahlzeit zu gebrauchen. Jetzt werden sie langsam wieder hervorgeholt. Ob an Weihnachten oder Silvester, ob mit Öl, Brühe oder geschmolzenem Käse: In fast jedem Haushalt wird am Jahresende einmal Fondue zubereitet.

Es gibt vielleicht kein zweites Gericht, in dem die Essgewohnheiten einer Familie so deutlich werden: die besondere Auswahl der Saucen, die Größe der Fleischstücke, die Fülle kleiner Tischrituale (mein Vater hatte die Gewohnheit, zu Beginn immer einen Stapel von Weißbrotscheiben zwischen seinem und meinem Teller aufzubauen). Wie bedeutsam diese Rituale wirklich waren, bemerkte ich, als ich zum ersten Mal bei einer anderen Familie zum Fondue-Essen eingeladen war. Alles am Tisch war fremd: im Topf in der Mitte Brühe statt Öl, die dem eingetauchten Fleisch keinerlei Kruste verlieh, die Saucen unbekannt, in den Schälchen Puten- statt Rindfleisch.

Als ich mir, der Gewohnheit gemäß, eine Portion der rohen Fleischstücke auf den größten Ausschnitt des Tellers legte, bemerkte ich die irritierten Blicke der anderen. In dieser Familie war das offenbar ein Tabu; das geschnittene Fleisch wurde Stück für Stück in den Schälchen aufgespießt und landete erst in gekochtem Zustand auf dem Teller. Das Gefühl der Unzugehörigkeit am Tisch war in diesem Moment so groß, wie es bei einem anderen Gericht niemals hätte sein können.

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Die Besonderheit des Fondues zu Hause hing auch mit dem leichten Nervenkitzel am Anfang des Essens zusammen. Immer war die Flamme unter dem Topf zu hoch eingestellt, und das sprudelnde Öl drohte über den Rand des Topfes zu schwappen. Dem Geschmack des Fleisches, der blitzschnellen Bildung der Kruste, tat das gut, doch der Vater und die Mutter wechselten eine Zeit lang besorgte Blicke, bevor sich das Öl im Kessel beruhigte.

Diese riskante Phase bildete über viele Jahre hinweg die immer gleiche Ouvertüre des Festessens. Was sich dagegen von Mal zu Mal änderte, waren die Saucen in den Keramiktöpfchen, in der drehbaren Aufhängung rund um den Ölkessel. Die Kombination der Farben in den Töpfen wies auf das Älterwerden der beiden Kinder am Tisch. In den ersten Jahren bestand sie zur Hälfte aus verschiedenen Varianten von Ketchup. Dann verschwand eine nach der anderen, und wir trauten uns an die Saucen der Eltern heran, an die helleren Remouladen, Knoblauch- und Meerrettich-Saucen. An einem Weihnachtsabend war dann alles Rot aus den Töpfchen verschwunden. Am Tisch saßen vier Erwachsene.