Endlich nicht mehr jung sein

Unser Autor geht auf die 40 zu. Für ihn ist das kein Grund zur Schwermut. Er findet: Zum Glück ist diese anstrengende Jugend vorbei.

Sie dürfen mir gern nachträglich gratulieren. Ich bin gerade 39 geworden und finde das ganz wunderbar. Es war, auch wenn ich zweimal Luft holen musste, um erst die Drei und dann die Neun auf der Torte auszupusten, einer meiner schönsten Geburtstage überhaupt. Endlich bin ich fast so alt, wie ich mich zeit meines Lebens gefühlt habe.

Aber mit 40 werde es mit mir bergab gehen, höre ich da? Ja, das soll es ruhig. Dann kann ich mich gemütlich aus­rollen lassen und muss nicht mehr strampeln wie ein Irrer. Es wird so vieles leichter. Ich weiß inzwischen, was ich mag und was nicht, verschwende keine Zeit mehr mit Experi­menten. Mit Abenteuerurlauben etwa, asymmetrischen Freundschaften, dem Konsum von zu hartem Alkohol oder der Lektüre russischer Surrealisten. Es gab eine Zeit, da las ich ohne jeglichen Lustgewinn alles von Daniil Charms, nur um mit einer süßen Kommilitonin ins Gespräch zu kommen, was auf erbärmliche Weise fehlschlug. Meine Frau interessiert sich überhaupt nicht für meine literari­schen Vorlieben und ich mich nicht für ihre, wir lassen ­einander in Ruhe über unseren Büchern einnicken. Das ist kein Stoff für einen Liebesfilm, ich weiß, romantisch finde ich es dennoch. Gerade so ­romantisch, wie ich es mit 39 noch aushalte.

Viele meiner Altersgenossen aber scheinen diesen dauerhaften existenziellen Verschleiß namens Jugend zu vermissen. Die Ruhe, die sich um sie herum einstellt, wenn der Partner keine bohrenden Fragen mehr stellt, weil er genug weiß, um zurechtzukommen, wenn die Kinder nicht mehr quengeln und der Baulärm ab­ebbt, weil das Viertel, in dem sie wohnen, inzwischen komplett saniert ist, gemahnt sie an die finale Stille, die sich eines Tages über sie legen wird. Und auch der Blick in den Spiegel erzeugt bereits herbstliche Gefühle: Die Haare fallen aus »mit verneinender Gebärde« (Rilke).

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Man nennt dieses Phänomen gemeinhin Midlife-­Crisis. Sie beginnt mit einem brennenden Gefühl der Nostalgie, das in den Betroffenen fährt wie ein Hexenschuss. Ein penetranter Schmerz, der zugleich eine Kränkung ist: Was man noch will, kann man nicht mehr. Die erste Hälfte des Lebens ist unwiederbringlich vorüber, und alles, was mal jung an einem war, verwelkt wie eine Topfpflanze in einem geschlossenen Lokal. Und diese Hänselei des Schicksals wollen sich manche offenbar nicht bieten lassen. Sie verfallen in eine Art zweite Pubertät, eine hormonell ausgelöste Metamorphose von Körper und Geist.

Nur gehen sie daraus nicht als Erwachsene hervor, sondern zumeist als kindliche Greise. Sie wuchten brüllend Trecker­reifen durch die Gegend, nennen es Crossfit und versprechen sich davon die Wiedererlangung von Kraft, Ausdauer und Schönheit. Dass sie dabei aussehen wie Orks, die in die Schlacht um Mittelerde ziehen, ist leider zu traurig, als dass es noch amüsant sein könnte. Sie kaufen sich Sport­wagen, in der Hoffnung, dem Alter davonbrausen zu können, ­zurück in ein sagenhaftes Gestern. Dazu tragen sie bizarre Polohemden mit Abzeichen von frei erfundenen Flug­geschwadern drauf. Sie gehen fremd, bereuen es bitter und tun es wieder, spielen Mundharmonika in Freizeitbluesbands, lassen sich Skorpione auf die Waden tätowieren, die unter ihren bunt karierten Dreiviertelhosen hervorlugen, und posten präpotente Scherze auf die Facebook-Pinnwände ihrer Kinder, die längst vor ihnen zu Instagram geflohen sind. Obwohl sie so sehr dem Klischee entsprechen, dass ein Bild von ihnen neben dem Lexikoneintrag zur Mid­life-Crisis stehen könnte, ver­bringen sie einige Monate im Hochgefühl der vermeintlichen Individualität und halten sich für 28.

Eis statt Schweiß: Das Lebensglück, meint unser Autor, findet man nicht auf dem Laufband.

Frauen gehen mit dem ­Alterungsprozess, so scheint mir, viel würdevoller um als Männer. Dazu haben sie allen Anlass, denn sie werden ja immer anbetungswürdiger, wir dürfen uns von der Kosmetikindustrie nicht das Gegenteil vormachen lassen. Sie werden vielleicht melancholisch angesichts der verrinnenden Zeit, aber nicht larmoyant, weil sie offenbar eine tiefere Einsicht gewonnen haben, dass sie diese Zeit ohnehin nicht werden zurückholen können. Weise, wie sie sind, korrigieren sie dezent, was ihnen nicht mehr gefällt. Sie sortieren Kleider aus, manchmal auch Gatten, beides tun sie mit einem untrüglichen Sinn für Eleganz.

Der mittelalte Mann aber verkommt in seinem wahnhaften Aktionismus nicht selten zur prototypischen Witz­figur. »Ich habe etwas verloren«, sagt in Sam Mendes' Film American Beauty der etwa vierzigjährige Lester Burnham, gespielt von Kevin Spacey. »Ich bin mir nicht ganz sicher, was es ist, aber ich weiß, ich habe mich nicht ­immer so gefühlt. So betäubt! Aber wissen Sie was? Es ist niemals zu spät, es sich zurückzuholen.« Er schmeißt seinen Job, raucht Marihuana, das er vom Nachbars­jungen kauft, und trainiert in der Garage wie ein Beses­sener seinen schlaff gewordenen Bizeps, um mit der Klassenkameradin seiner Tochter besser anbandeln zu können. Am Ende wird er vom Vater seines Dealers erschossen. In der letzten Einstellung rinnt seine Hirnmasse die weißen Küchen­fliesen hinunter.

Ich gedenke nicht, mich vom Vater meines Dealers erschießen zu lassen, um mir etwas zurückzuholen, das ich verloren habe. Ich bin vielmehr froh, dass ich es endlich ­los bin. Meine sogenannte Jugend hat mir ohnehin viel zu ­lange gedauert. Kaum hatte ich die 30 überschritten, hieß es plötzlich in diversen Fachzeitschriften, 30 sei das neue 20. Sollte etwa alles wieder von vorn losgehen? Promis­kuität und Modewahn, Exzess und Schlafmangel, Dispokredit und Dosenravioli? Am Anfang dieser schier endlosen Lebensphase, das gebe ich zu, schlich ich mich noch heim­lich von zu Hause fort, um auf eine Party zu gelangen. Am Ende aber war es umgekehrt.

Bevor ich meine Frau kennenlernte, die mein Leben endlich solider gemacht hat, hatte ich befürchtet, auch mit 40 noch in Wohngemeinschaften hausen zu müssen, unter den immergleichen mondförmigen Ikea-Lampenschirmen aus Papier, mit Menschen, die ihr Rennrad mit ins Zimmer nehmen, und Katzen, die in meinen Kleiderschrank uri­nie­ren. Ich hatte Angst, dass alles für immer provisorisch bliebe, die Möblierung ebenso wie die Beziehungen, ach, ­es lohnt sich nicht, es mir schön zu machen, ich zieh doch eh bald aus, es lohnt sich schon gar nicht, diesen Menschen wirklich kennenzulernen, der geht im Sommer für ein Praktikum ins Ausland.

Mir war, als sei die ganze Jugend ein einziges Praktikum: Man müht sich ab, frisst Gras, wird schlecht bezahlt, an­dauernd mit dem falschen Namen angesprochen, und am Ende schreibt einem der Chef irgendwelche codierten ­Todesurteile ins Zeugnis wie »Er hat sich stets bemüht«.

Ja, ich habe mich stets bemüht. Aber damit ist jetzt Schluss. Ich rolle den blöden Stein nicht zum tausendsten Mal den Hügel hinauf. Albert Camus, bei dem ich oft Trost suchte gegen die Vergeblichkeit, schrieb, wir müssten uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. Also rang ich mir ein Lächeln ab, wenn ich alberne Dinge tat, für die ich mich seit jeher zu alt gefühlt habe. Heute weiß ich, dass Sisyphos ein Idiot ist, und ich war es auch.

Willkommen im Cluburlaub: Was war noch einmal so attraktiv am Rucksacktragen und Zugverpassen?

Was freue ich mich darauf, dass die Kakofonie bald gänzlich abgeklungen ist! Auf diese herrliche Ruhe. Ich bin schon jetzt nicht mehr rund um die Uhr erreichbar, ich halte nämlich Mittagsschlaf. Ich lasse mich nicht mehr von Fremden duzen, auf meinen Kaffee­becher bei Starbucks sollen sie gefälligst »Herr Dirk Gieselmann« schreiben. Ja, ich freue mich darüber, kauzig zu werden. Vielleicht beginne ich demnächst, Züge zu fotografieren und ihre Nummern in einem ledernen Büchlein zu notieren. Nicht weil mich Züge sonderlich interessieren, sondern weil ich ein Hobby haben möchte, das so langweilig ist, dass es nicht zum Trend wird, den dubiose Blogger ausrufen könnten. Ich wechsle beim Schwimmen vom Freistil in die Rückenlage und ziehe wie ein blinder Grindwal meine Bahnen, laut schnaubend und ohne jede Hast. Ich markiere mir die besten Sendungen mit einem Rotstift ­in der Programmzeitschrift und werfe mir nach dem ge­lungenen Fernsehabend noch schnell verschmitzt eine Schnapspraline in den Mund. Dann nicke ich über mei­nem Buch ein, und neben mir schnarcht schon meine Frau, mit der ich alt und immer ­älter werden will.

Bitte verstehen Sie mich richtig: Es geht mir bei all dem nicht nur um mich selbst. Ich sehe mich auch als Bewahrer einer Kultur des Alterns, die im Untergehen begriffen ist. Das Monstrum Jugend hat längst auf das Leben jenseits der 40 übergegriffen, schon streckt es seine betörend schlanken Finger nach der 60 aus, bald nach der 80. Angeblich bilden die Krankenkassen Rücklagen für die Behandlung von Rentnern, die aussehen wie Olympioniken, deren Gelenke aber vom Extremyoga zerstört sind.

Deshalb stelle ich mich gern zur Verfügung. Als Papa, der seine Kinder mit dem Kombi aus der Disco abholt, statt sie dort mit eigenen Tanzeinlagen zu blamieren. Und später als Opa, der seinen Enkeln Geschichten erzählt, die mit »Als ich so alt war wie du« beginnen. Die Moral wird sein: Genießt eure Jugend, meine Lieben. Aber zieht sie nicht in die Länge.