Ein flüssiger Akt des Widerstands

Nicht auf besondere Anlässe warten, sondern sie einfach kreieren: Champagner ist ein Zeichen gegen die Lustfeindlichkeit unserer Zeit.

Foto: Maurizio Di Iorio

Ende des 20. Jahrhunderts hatte ich eine Freundin, die in sämtlichen Bars der Stadt als Schampus-Chrissi bekannt war. Sie kam irgendwo rein und hatte – kaum hatte sie Platz genommen – ein Glas Champag­ner vor sich stehen. Es gab Menschen, die Chrissi für eine Angeberin hielten, aber die verstanden sie nicht. Schampus-Chrissi wollte nicht angeben, sie wollte Champagner trinken. Am liebsten Dom Ruinart, gern an einem Dienstag im November oder an einem Frühlingstag um 15.30 Uhr, wenn die Sonne überraschend aus den Wolken brach oder gerade nichts Besseres zu tun war. Chrissi wartete nicht auf feierliche Anlässe, sie kreierte sie. Und obwohl wir uns aus den Augen verloren haben, ist sie bis heute eines meiner Idole.

Die Menschen, die ich heute kennenlerne, trinken Sencha-Tee aus Japan und natriumarmes Wasser, manche Frauen tragen es in einer Plastikflasche bei sich, als hätten sie Angst vor einer plötzlich einsetzenden Versteppung Südbayerns. Es soll sogar Menschen geben, die auf Heumilch, Detox-Eistee und Relaxation-Drinks schwören. Sie sagen, es tue ihnen gut. Ich glaube, sie täuschen sich. Sie wirken immer nur ausgeglichen, nie selbstvergessen oder glücklich.

Also, ich liebe Champagner. Er belebt und vernebelt gleichzeitig. Wer zu viel erwischt, hat einen viel interessanteren Rausch als mit Bier oder Wein; die Prioritäten verschieben sich, man ist irgendwie eins drüber, aufgedreht und originell, nicht dumpf oder gemütlich; es drückt einen nicht in den Sitz, man wird aus ihm emporgeschleudert, Champagner drängt einen zur Tat. Ich würde gern jeden Tag Champagner trinken, allein die Vorstellung, wie er manchmal jahrelang tief unter der Erde in riesigen Limousin-Eichenfässern lagert, erzeugt in mir eine Ahnung von Sinnhaftigkeit und Transzendenz – leider kann ich nicht, ein hartnäckiger Reflux. Wenn ich mich nach der Einnahme von zwanzig Milligramm Omeprazol doch mal gerüstet fühle und ein Glas bestelle, natürlich nie zu einem besonderen Anlass, werde ich oft schief angeschaut. »Muss das wirklich sein?«, sagen die Blicke. Oder: »Champagner? Wie reaktionär!« Vor allem das linksliberale, urbane Milieu scheint Champagner in eine Ecke zu stellen mit der katholischen Kirche, Sportwagen und Abendkleidern von Gucci: alte Welt, moralisch verkommen, nicht zeitgemäß, nicht fortschrittlich, nicht hip. Es sind die Menschen, die sich an ihrer eigenen Tugend berauschen. Champagner trinken, das tun in ihren Augen nur spießige Deutsch-Rapper, neureiche Russen und sogenannte Entscheidungsträger, mit dem Geld, das sie sich durch Abgasmanipulationen in Steueroasen angehäuft haben.

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Das ist nicht ganz falsch, aber auch ein bisschen eng im Kopf. Ich muss bei natriumarmem Wasser immer an Detlef D! Soost denken oder, noch schlimmer: SPD-Politiker, die Marathon laufen. Champagner zu servieren ist für mich eine Geste der Großzügigkeit, gegenüber sich selbst, dem Gast und dem Leben. Auch ein Akt des Widerstands, gegen die Lustfeindlichkeit und Verzagtheit unserer Zeit. Und wenn Sie mich jetzt fragen, welchen Champagner ich empfehlen würde, es gibt doch so viele, dann sage ich: Scheiß­egal, trinken Sie! Voriges Jahr musste eine Maschine der Swiss Air auf dem Weg von Moskau nach Zürich zwischenlanden. Eine Dame hatte zu randalieren begonnen, nachdem die Bordcrew ihr keinen Champagner mehr hatte ausschenken wollen. Peinlich? Vielleicht. Aber auch konsequent. Irgendwie verstehe ich sie. Weil das Leben ja wie so ein Flug ist: ziemlich lang, oft beengt, ein bisschen eintönig, und lauter sonderbare Menschen um einen herum.