Schlüssel aus der Heimat

Viele Flüchtlinge haben nach Deutschland einen Hausschlüssel mitgenommen – auch wenn sie die Tür, zu der er passt, wohl nie mehr öffnen werden. Sechs Menschen erzählen. 

Auf dem USB-Stick von Ahmad M. liegen Fotos aus Syrien, den Schlüssel zu seiner alten Wohnung in Aleppo verwahrt er in einer Schublade in seinem Nachttisch in Berlin.

Ahmad M., Aleppo, Syrien

Was wohl aus seinen Büchern geworden ist, die im ­Regal in seinem Zimmer standen und die er so geliebt ­hat? Ob der Nachbar, der nun ihre Wohnung besetzt, sie liest? Ob er sie weggeworfen hat?

Ahmad will sich das nicht vorstellen. In der Erinnerung, die er zulässt, sitzt er mit seinen fünf Geschwistern in der Wohnküche ihres Apartments in Aleppo, warmes Licht scheint durchs Fenster, es duftet nach Essen, das seine Mutter gekocht hat. Seine Eltern hatten die Wohnung 2005 gekauft: 150 Quadratmeter, dritter Stock, großer Balkon, gute Gegend von ­Aleppo. Seit 2014 lebt Ahmad mit seiner Familie in Berlin, im Wedding.

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Ein Freund von ihm, der in Aleppo blieb, hat ihm erzählt, dass eine Bombe die Apartments in den oberen Stockwerken ihres Hauses zerstört hat. Und dass der Nachbar, den sie gebeten hatten, nach dem Rechten zu sehen, sich breitgemacht hat in ihrer Wohnung. Wegen der chaotischen Lage in Aleppo hindert ihn bisher niemand daran.

In Berlin macht Ahmad eine Ausbildung zum Großhan­delskaufmann. In Syrien hatte er Tourismus studiert. Er ist 27. Den Schlüssel verwahrt er weiter, obwohl er vermutlich nutzlos ist: Der Nachbar soll das Schloss ausgetauscht haben.

Husain Alkhalil, Almahdum, Syrien

Sein Haus stand ganz in der Nähe der islamis­tischen Religionswächter. Sie hatten ihre örtliche Zentrale nur 200 Meter weiter eingerichtet, um von dort aus die Menschen im syrischen Dorf Almahdum, siebzig Kilometer vor Aleppo, mit Stockschlägen gottesfürchtiger zu machen. Kein Mann sollte sich mehr den Bart rasieren und die Haare schneiden. Husain Alkhalil, 33, ging den Religions­wächtern aus dem Weg. Sein Haus geriet immer wieder unter den Beschuss von Regierungsflug­zeugen. Husain Alkhalil sagt, es müssen Flugzeuge unter Assads Kommando gewesen sein, die Amerikaner hätten sicherlich besser gezielt und die Stellung des IS nicht verfehlt.

Alkhalil arbeitete als Lkw-Fahrer in Saudi-Arabien. Der Job ermöglichte ihm, Rücklagen zu bilden, sodass er alle sechs Monate für zwei Monate in die Heimat zurückkehrte. 2009, nach seiner Hochzeit, hatte er mit dem Hausbau begonnen, erst mal zwei Zimmer, ein Dach und ein Zaun drum herum. Später kamen zwei Schlafzimmer hinzu, der Hof wurde ummauert, 180 Quadratmeter alles in allem. Einen Schlüssel brauchte die Familie damals nicht. Erst als der IS kam, 2014, schlossen die 5000 Bewohner von Almahdum ihre Häuser ab. Eineinhalb Jahre stand das Dorf unter IS-Herrschaft, als das Haus von Alkhalils Bruder bombardiert wurde. Dabei starben Husain Alkhalils Schwägerin und sein Neffe, seine siebenjährige Nichte verlor ein Bein. 2015 dann Husain Alkhalils Haus: Alle Fenster gingen zu Bruch, Munitionssplitter blieben in der Wand stecken. Alkhalil floh mit Frau und drei Kindern erst in ein kurdisch besetztes Dorf, dann in die Türkei. Eine fremde Familie ließ über einen im Dorf zurückgebliebenen Onkel anfragen, ob sie in Alkhalils altem Haus wohnen dürften. Alkhalil riet ab, die Flugzeuge würden sicherlich wiederkommen. Zehn Tage später kamen sie – und zerstörten das Haus restlos. Alkhalils Familie floh über die Balkanroute von der Türkei nach Berlin. Den Schlüssel möchte er nicht wegwerfen.

Janet Sadeq, Mossul, Irak

Der Schlüssel ist das Einzige, was Janet Sadeq von der 300 Quadratmeter großen Villa in Mossul und dem 500 Quadratmeter großen Garten mit vielen Blumen und ­etlichen Orangen- und Olivenbäumen geblieben ist. Janet Sadeqs Mann gehörte zur christlichen Minderheit, verkaufte Alkohol, seine Geschäfte liefen lange Zeit gut. Und Janet Sadeq, heute 54, arbeitete schon unter Saddam Hussein als gut bezahlte Krankenschwester. 1998 wurde ihrem Mann die ­Lizenz entzogen. 2005 kamen die Amerikaner, landeten mit einem Hubschrauber im Garten und schossen um sich. Niemand kam zu Schaden, aber alle Fenster waren zerstört. Das Armeekommando suchte Terroristen. Wahrscheinlich hatte ein Nachbar behauptet, die Familie Sadeq verstecke welche. Janets Mann starb 2013 an den Folgen eines Unfalls, sechs Jahre lang hatte sie ihn versorgt. Als der IS dann im Juni 2014 auf Mossul marschierte, waren die Sadeqs schon weg. Aus Furcht vor Entführungen waren eine Tochter und ein Sohn zuerst gegangen. Die Tochter fand Arbeit als Übersetzerin in Berlin und holte ihre Mutter Janet nach. Die Villa in ­Mossuls Norden, ganz in der Nähe der Uni­versität, stand nicht lange leer. Die Soldaten des IS zogen ein – bis sie ausgebombt wurden.

Mohammad al Massad, Baiyt Irah, Syrien

Aus ihrem Haus ist ein Gefängnis geworden, eine Art Polizeistation der Terrororganisation Islamischer Staat: Das ist die letzte Information aus seinem Heimatdorf Baiyt Irah, die zu Mohammad al Massad nach Berlin durchgedrungen ist. Mohammad al Massad ist das älteste von vier Geschwistern, 22 Jahre alt. Als der IS in sein Dorf kam, waren er und seine Familie bereits in die nächste Stadt geflohen. 2015 war das. Er zog dann allein weiter in Richtung Europa.

Ihr Haus war umgeben von einem großzügigen Garten mit Dutzenden von Oliven- und Zitronenbäumen. Sie pressten ihr eigenes Öl, bauten Kartoffeln, Tomaten und Paprika an. Al Massads Vater arbeitete als Brunnenbauer. Al Massad will in Deutschland bald eine Ausbildung zum Brunnenbauer beginnen.

Der Schlüssel und ein Halstuch seiner Mutter sind die wichtigsten Dinge, die ihn in Berlin an seine Vergangenheit erinnern. Er vermisst den Blick aus dem Fenster seines früheren Zimmers, an dem er manchmal heimlich geraucht hat. Ein Blick auf fruchtbares, bergiges Land. Sein Heimatdorf liegt im äußersten Südwesten von Syrien, aus seinem Fenster konnte er bis Jordanien und Israel sehen. Mohammad al Massad glaubt nicht, dass er noch einmal aus diesem Fenster blicken wird.

Hiba A., Latakia, Syrien

Der Schlüssel hängt an ihrem Schlüsselbund, sie trägt ihn ständig bei sich, obwohl sie ihn seit vier Jahren nicht mehr benutzt hat. Das Apartment, das er aufschließt, liegt im Zentrum von ­Latakia, einer syrischen Küstenstadt, auf die noch keine Bombe gefallen ist. Dort leben vor allem Menschen, die das Assad-Regime stützen. Hiba floh, weil sie Probleme mit diesen Menschen bekommen hatte. Mehr will sie dazu nicht sagen. Ihre Eltern leben immer noch dort, in diesem Apartment. Hiba, die heute 32 Jahre alt ist, hat in Latakia englische Literatur studiert und anschließend Arbeit gefunden, einen Verwaltungsjob im Gesundheitswesen. An den Wochenenden ging sie mit Freunden wandern oder an den Strand. Zu Hause saß sie gern auf dem sonnigen Balkon. In ihrer Erinnerung duftet das Apartment nach dem Jasmin-Parfüm ihrer Mutter. Allein das Wohnzimmer ist so groß wie ihre jetzige Wohnung in Berlin, in der sie mit ihrem Freund und ihrem fünf Monate alten Sohn lebt. Das Einhorn am Schlüsselbund gehört ihm.

Wenn Hiba den alten Schlüssel betrachtet, denkt sie oft an die Eltern einer palästinensischen Freun­din, die 1948 nach Syrien flohen. Auch sie nahmen damals ihren Hausschlüssel mit und bewahrten ihn ihr Leben lang auf – ohne ihn je wieder benutzen zu können.

Mohamad Riad al Aga, Aleppo, Syrien

Es war eine teure Gegend. Auf 400 Quadratmetern lebten Mohamad Riad Al Aga und seine ­Frau im fünften Stock eines Wohnhauses in Aleppo: Parkett, Kronleuchter, vier Bäder und vier Kinderzimmer, die Kinder waren schon erwachsen und ausgezogen, als der Bürgerkrieg nach Aleppo kam. Zwei Haushaltshilfen, eine aus Äthiopien, die andere von den Philippinen, gingen dem Ehepaar zur Hand. Al Aga, 64, hatte eine Fabrik für Rolltreppen, sieben Kilometer von der Wohnung entfernt. Er floh, als das Nachbarhaus in die Luft flog und eine Rebellengruppe in seiner Fabrik Waffen zu produzieren begann. Er schloss seine Wohnung ab und vermauerte die Tür. Er hofft, dass das Haus noch steht, wenn Syrien irgendwann sicher genug ist, um zurück­zukehren.