Smaaaaaaaall Taaaaaaaaaalk

Einen Augenblick lang plaudern kann jeder. Aber was tun, wenn der Augenblick einfach kein Ende nimmt?

Illustration: Al Murphy

Eigentlich habe ich ihn nur auf seinen edlen Anzug angesprochen, weil wir den Moment bis zum Eintreffen seiner U-Bahn überbrücken müssen. Das Übliche: Zwei entfernte Kollegen, die einander länger nicht gesehen haben, stehen zufällig auf demselben Bahnsteig, man wechselt ein paar Worte, »Na? Wie läufts?« – »Muss ja«, nichts zu Spezielles, geht ja nur um einen Augenblick. Ich frage: »Wichtigen Termin gehabt?« Er lächelt: »Ja, kann man so sagen.« Mehr will ich nicht wissen. Mehr will er nicht verraten. Alles gut. Dann kommt die Durchsage. U-Bahn-Verspätung, bitte Geduld.

Ab diesem Moment sind wir Gefangene. Zwei Mann in einem Ruderboot auf offener See, kein Horizont in Sicht. Schweigen geht jetzt nicht mehr. Forsch nachfragen auch nicht. Also: »Na ja, äh, und gut gelaufen, der Termin?« – »Oh ja, doch, doch.« Der Kollege merkt, dass es unhöflich wäre, jetzt nicht wenigstens noch einen Satz mehr dazu zu sagen, er murmelt: »Es ging um eine ganz interessante neue Position.« – »Zufrieden mit dem Ergebnis?«, frage ich und blicke nervös auf die Zuganzeige. »Och ja, hm, es geht um Umstrukturierungen in der Abteilung«, sagt er und wischt sich unruhig mit der Hand über den Ärmel. Die Sekunden dehnen sich. Der Bahnsteig wird zu einem Dalí-Gemälde, überall zerfließende Uhren. Das hier hätte ein kurzes Blabla sein sollen, mehr nicht, aber es nimmt kein Ende. Wir stottern noch eine Weile dahin, dann kommt endlich seine U-Bahn, wir verabschieden uns, er steigt ein. Ich atme sehr tief durch.

Small Talk, das Schmiermittel der täglichen Kommunikation: Ständig wird uns erzählt, kaum etwas sei so wichtig wie die Fähigkeit, locker loszuplaudern. Laut Wikipedia genießt der Small Talk »als gesellschaftliches Ritual hohe Bedeutung«. Genauer: »Er vermeidet peinliches Schweigen, dient der Auflockerung der Atmosphäre.« Es gibt Seminare, in denen Profiplaudertaschen ihre Technik vermitteln, es gibt regalmeterweise Bücher wie Small Talk von A bis Z. 150 Fragen und Antworten oder Small Talk. Die hohe Kunst des kleinen Gesprächs oder, für die ganz Verzagten: Small Talk. Was kann ich sagen? Wie vermeide ich peinliche Situationen? Wie überzeuge ich im Gespräch?

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Das wichtigste Buch fehlt, jemand müsste es dringend schreiben: Small Talk – was tun, wenn das Geplauder ums Verrecken kein Ende findet?

Das Problem ist ja nicht, irgendetwas daherzureden, das kriegen die meisten Menschen relativ unfallfrei hin. Das Wetter, Donald Trump, das neue Schuljahr. Das Problem entsteht erst, wenn sich die Situation überraschend veeeeeerläääääängeeeeert. Weil die U-Bahn nicht kommt. Weil der Aufzug nicht fährt. Weil die Supermarktschlange nicht kürzer wird. Es ist, als würde kurz vor Ende eines Hundertmeterlaufs der Veranstalter durchsagen: Wir haben uns jetzt doch für einen Tausendmeterlauf entschieden. Als müsste man auf einem Fest weitertanzen, obwohl keine Musik mehr läuft. Der Talk war small, jetzt wird er viel zu big.

Der entscheidende Fehler aber ist, sich im Vertrauen darauf, dass alles gleich vorbei ist, auf heikle Themen einzulassen. Diskrete Berufsfragen. Krankheiten. Schwierige Kinder. Für ein paar Andeutungen ist das alles völlig okay, aber dann dehnt sich die Situation, und plötzlich balanciert man auf dem dünnen Seil, das die Grenze zwischen Small Talk und Gespräch markiert. So genau wollte man das eine nicht wissen. So genau wollte man das andere nicht erklären müssen. Die Gefahr ist dabei nicht mal, dass es langweilig wird – sondern dass das beiläufige Blabla peinliche Tiefe gewinnt. Und eine Viertelstunde auf dem U-Bahnsteig ist eben kein langer Abend mit alten Freunden und gutem Wein.

Was also tun? Ein Klassiker, den man sich zu selten traut, ist der Griff zum Handy, das angeblich gerade geklingelt hat (Vibrationsalarm in der Tasche). Auch gut: unvermittelt loslachen und behaupten, heute sei im Büro echt was Komisches passiert (dann beliebige Anekdote erzählen). Weniger klassisch, aber die vielleicht letzte Möglichkeit: immer ein Buch mit sich führen, egal ob über Small Talk oder über Wanderwege in Tibet. Wenn die U-Bahn einfach nicht kommen will, kann man sich gegenseitig wenigstens was vorlesen.