Die unglaubliche Geschichte von Wolfgang und Elisabeth

Kurz nach dem Krieg ging er nach Israel, den neuen Staat aufbauen, sie wartete in Deutschland auf ihn. Dann kam sein wichtigster Brief nicht bei ihr an. Alles schien vorbei. Aber viele Jahre und Ehen später wurden sie doch noch ein Paar.

Von der Hauptstraße fällt Licht herein, ihm ist es im Schlafzimmer eigentlich zu hell, aber sie wollte keine schweren Gardinen. Sie hat sich durchgesetzt. Deshalb trägt er jetzt immer eine von diesen Brillen, die man im Flugzeug kriegt. Na ja, es gibt schlimmere Dinge, sagt Wolfgang Nossen, 83, im vierten Stock in der Erfurter Wohnung.

Zum Beispiel, dass sie den Schlüssel immer von innen stecken lässt. »Kann es ihr nicht abgewöhnen.« Erst gestern Abend wieder. Er kommt die Treppe hoch, klingelt, sie reagiert nicht, die Tür ist zu. Er sofort Herzrasen, er denkt, sie liegt irgendwo in der Ecke. Dabei war sie bloß mal wieder Wäsche aufhängen auf dem Balkon. Eigentlich sollte er sich daran gewöhnt haben, im Grunde kennen sie sich ja schon fast ein Leben lang. Wenn auch mit Pausen, die eine durchschnittliche Liebe wahrscheinlich nicht überstanden hätte. Die Weltpolitik stand ihnen im Wege. Ihre Jugend. Und ein großes Missverständnis.

Sie frühstücken. Nossen, bis vor zwei Jahren noch Landesvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Thüringen, trägt eine große Metallbrille, aus der Zeit gefallene Koteletten und ein gestreiftes Hemd. Sie, so strahlend weiß gekleidet wie die Perle an ihrem Ohr und die Möbel im Wohnzimmer. Auf dem Tisch eine Kerze, Stollen und alkoholfreier Sekt. »Wir sind froh, dass wir uns haben«, sagt Wolfgang Nossen und spricht für seine Frau praktischerweise gleich mit. Sie war das Ziel seines Lebens, er hat es erreicht. Aber die Umwege, die er dafür gehen musste. Und das Warten. Vierzig Jahre lang.

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Sie erzählen von der gestohlenen Zeit.

1947 lernen sie sich kennen. Es ist einer seiner ersten Tage an der Volkshochschule in Erfurt, Englischunterricht, die Lehrerin ist noch nicht da, als es an der Tür klopft und ein Mädchen hereintritt, das mit leiser Stimme sagt: »Im sorry Im late.« Die Stimme trifft ihn direkt ins Herz: »Dieses Mädchen sollte es sein!« Natürlich, auch die anderen Jungs bemühen sich um sie. Aber er ist es, der sie nach Hause begleiten darf: »Hab das dann öfters gemacht.« Elisabeth wohnt am anderen Ende der Stadt, in den Jahren nach dem Krieg herrscht Ausgangssperre. Sie dürfen sich nicht von den Russen erwischen lassen.

Sie hüten ihr Geheimnis. Sagen auch den Geschwistern nichts. An den Wochenenden gehen sie wandern, fahren Fahrrad auf der leeren Autobahn, Autos gibt es ja keine mehr. Wenn sie ins Ufa-Kino gehen, kauft er vier Logenplätze, damit sie ungestört sind.

Sie ist damals 18, er zwei Jahre jünger als sie, »aber stand ja nicht drauf«, sagt sie, so erwachsen wirkt er und überraschend fürsorglich für einen Jungen seines Alters. Vielleicht deshalb, weil er unfreiwillig früh zum Familienvorstand geworden war. Als sein Vater ins KZ deportiert wurde. Als man ihm hundert Verwandte nahm und er das Überleben im Ghetto lernen musste. Als er, der jugendliche Zwangsarbeiter, Panzergräben ausheben musste. Als der Gestapo-Chef von Breslau ihnen die Nachricht vom Tod des Vaters überbrachte und seine Mutter kein Wort glaubte, denn sie hatte geträumt, der Vater komme zurück in der Uniform eines sowjetischen Soldaten. Und dann war er auf einmal tatsächlich zurückgekommen – als Übersetzer der Russen. Und Wolfgang hatte das Akkordeon gespielt, damit die Schmerzensschreie des Gestapo-Chefs bei der Vernehmung übertönt wurden.

Aber all das erzählt er ihr damals nicht.

Deshalb trifft sie seine Mitteilung im Herbst 1948 unvorbereitet: Er sei Jude, deshalb müsse er nun nach Israel. Er habe sich als Freiwilliger gemeldet, den neuen Staat im Unabhängigkeitskampf zu unterstützen. »Da wird unser Bett gemacht und das will ich mitmachen«, verkündet er. Und dass er sie nachholen wolle. Sie zuckt zusammen, darüber diskutieren hätte er schon mit ihr dürfen, aber je länger sie darüber nachdenkt, desto mehr findet sie Gefallen an dem Plan, der nach Aufbruch und Abenteuer klingt. Sie sind jung und unternehmungslustig und wünschen sich beide, dass ihr gemeinsames Leben weitergehen möge. Er gibt ihr das Versprechen, bald mitzuteilen, wie sie nachkommen könne.

Dann fährt er weg. Und sie hört nichts von ihm.

Ein gemeinsamer Freund erhält eine Postkarte aus dem Kibbuz – ohne jeden Bezug zu ihr. Sie wartet vergeblich, die Zeit, die sie füreinander reserviert hatten, verrinnt. Enttäuscht von ihm, aber zu stolz und auch zu vorsichtig, es ihm mitzuteilen, schickt sie ihm auf einen unverbindlichen Gruß, der irgendwann eintrifft, einen ebensolchen zurück. Ihr Traum scheint zu Ende.

Hätte sie gewusst, dass er ihr zuvor einen glühenden Liebesbrief mit genauen Anweisungen für ihre Einreise nach Israel geschrieben hat, würde sie darüber anders denken. Aber der Brief des 18-jährigen Einwanderers, den er, weil ihm der Postweg zu unsicher erscheint, dem späteren Vorsitzenden und Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, mitgibt, verfehlt seine Adressatin. Das wird er freilich erst drei Jahrzehnte später erfahren. Als er seine Militärkarriere in der israelischen Armee längst beendet hat. Und Geschäftsführer mehrerer Gaststätten ist.

Da ist er bei seiner Schwester in Nürnberg zu Besuch. Die steht gerade in der Küche und kocht. Er zieht eines der Fotoalben aus dem Regal und stößt dabei auf ein Bild, das ihn in einem Orangenhain in Israel zeigt. Auf der Rückseite steht: »Zur Erinnerung an deinen Wolfgang, Israel«, das letzte Wort auf Hebräisch. In diesem Moment weiß er, dass sein Brief nie bei Elisabeth angekommen ist. Dass er nicht weitergeleitet wurde – er hatte ihn vorsichtshalber an seine eigene Familie adressiert. Dass seine damals 15-jährige Schwester den Brief offenbar geöffnet und ihn, um es zu vertuschen, danach weggeworfen haben muss. Die Schwester sagt bis heute, sie könne sich nicht daran erinnern.

Hätte er gewusst, dass sein Brief nicht ankam, sein Leben wäre ein anderes geworden. Und auch das von Elisabeth. So aber denken beide schlecht voneinander. Jeder formuliert seine Enttäuschung für sich, doch nicht für den anderen. Kein: Ich vermisse dich. Stattdessen Stolz und die Angst, sich zu weit vorzuwagen. »Man war auch verklemmt mit seinen Gefühlen«, sagt Elisabeth heute. »Jugendliche Dummheit«, nennt es Wolfgang Nossen.

Stattdessen: neue Beziehungen. 1952 heiratet sie, er drei Jahre später. Sie verdrängen sich gegenseitig aus ihrem Leben. Aber ein Glimmen bleibt zurück. Unerfüllt. Und abrufbar.

Er: »Ich bin heute noch verrückt nach ihr.«
Sie: »Hilfe!«
Er: »Na ja, die Liebe in der Jugend ist natürlich ein bisschen anders.«
Sie: »Das Näherkommen haben wir ja schon hinter uns.«
Er: »Das Wollen ist noch geblieben …«
Was ist die Liebe?
Er: »Gegenseitiges Verstehen, so sehe ich das.«
Sie: »Man ist in dem anderen aufgehoben.«

»Die erste Nummer, er hat Glück. »Wieso bist du noch nicht hier?«, fragt sie.«

Natürlich, ab und zu gibt es »ein bisschen Geplänkle«, wie er es nennt, aber ganz ohne wäre es ja auch langweilig. Dabei geht es eigentlich immer um dasselbe. »Wenn ich Ihnen meine Arbeitsecke zeige, wissen Sie, weshalb sie jeden Tag explodiert!« Dabei hebt er ja nur etwas mehr auf als andere. »Wo du bist, ist die Liederlichkeit«, hat sie gestern erst zu ihm gesagt. Aber wenn er dann, von Sehnsucht und schlechtem Gewissen getrieben, aus seinem Arbeitszimmer wieder auftaucht und sie begrüßt, »als käme er grad vom Nordpol«, ist sie doch jedes Mal gerührt.

Wolfgang Nossen trommelt mit den Fingern auf die Tischplatte. Seine Frau überlässt ihm weitgehend das Wort, mischt sich nur ein, wenn sie denkt, dass ihm zeitlich ein paar Dinge durcheinandergeraten. In der Regel widerspricht er ihr dann und sagt: »Die Geschichte war n bisschen anders, als meine Frau das erzählt …«

1957 kehrt Wolfgang zum ersten Mal nach Deutschland zurück. Seine Eltern leben damals in Nürnberg. Erfurt ist nicht weit entfernt, und so stellt er einen Antrag auf Einreise in die DDR. Er möchte die neue Synagoge sehen. Und natürlich Elisabeth. Sein Antrag wird abgelehnt mit der Begründung, er habe die Republik illegal verlassen und sei 1952 ebenfalls illegal ein- und ausgereist. Beides ist falsch, denn als er nach Israel geht, gibt es die DDR noch gar nicht, und 1952 war er ausschließlich dort. Aber es ist die Zeit eines neuen sowjetischen Antisemitismus, Juden leiden damals auch in der DDR unter Repressionen.

Also schreibt Wolfgang, der sich von seiner Frau bereits getrennt hat, in aller Höflichkeit an Elisabeths damaligen Mann: Ob der es zuließe, dass sie sich noch einmal sehen? Als der zustimmt, denkt Wolfgang: »Ist der bekloppt?« Und Elisabeth ist gekränkt, hat den Eindruck, ihrem Mann nichts wert zu sein. Sie hadert mit sich, ist unsicher, ob sie ihrer Jugendliebe nachfühlen darf. Ob sie sich in eine verwirrende Situation begeben soll, die unabsehbare Probleme nach sich ziehen kann. Sie hat eine Tochter mit ihrem Mann, denkt, sie sollte besser nicht fahren. Und fährt.

Sie treffen sich für einige Tage in Westberlin. Bahnhof Friedrichstraße, er sagt, er habe sie erst mal vorbeilaufen lassen. Weil er ihre Beine unter dem hellen Mantel so gerne betrachtete. Sie sagt, sie hätten sich sofort erkannt. Elf Jahre verfliegen. Die Zeit dazwischen scheint es nie gegeben zu haben. Sie knüpfen dort an, wo sie damals aufgehört haben. Weil sie wissen, dass ihre gemeinsame Zeit endlich ist.

Und dann fährt jeder in seine Realität zurück. Keine Zukunftspläne. Elisabeth sagt: »Ich hatte eine achtjährige Tochter, was sollte ich tun?« Sie schreiben sich weiter gelegentlich Briefe, offener nun. Aber sie hat das Gefühl, sich nicht trennen zu dürfen. Weil sie ihrer Tochter verpflichtet ist. »Es hat keinen Zweck mehr«, schreibt sie ihm, weil sie sich nicht weiter ausmalen möchte, wie schön es wäre. Wenn es doch nicht geht.

1961 wird die Berliner Mauer gebaut und ordnet ihre Gefühlswelt, zwangsweise. Nun sind sie zuverlässig voneinander getrennt. Ein kleines Nachsehnen noch, aber bald schon ist jeder wieder bei sich. Sie lebt weiter in ihrer Ehe, die eigentlich schon lange keine mehr ist. Er heiratet erneut, wird geschieden und heiratet noch einmal. 27 Jahre haben sie keinen Kontakt. Dann fällt die Mauer.

Nossen hat sich gerade von seiner dritten Frau getrennt. Eigentlich will er nach Israel zurück, aber vorher möchte er noch einmal nach Erfurt. Nach vier Jahrzehnten. Er wohnt bei einem Freund. Der fragt: »Hast du die Elisabeth denn schon angerufen?« Und schiebt ihm das Telefon rüber. Aber Wolfgang hat ihre Nummer nicht. Er weiß auch nicht, wie sie jetzt heißt. Er geht zur Polizei.

»Sind Sie verwandt?«, fragt die Beamtin.
»Nee, beinahe.«
»Was heißt beinahe?«
»Na, wir wollten mal heiraten!«
»Ja, und wieso hamse nich?«
»Na, ist mir einer zuvorgekommen!«

Er erzählt seine Geschichte. Die Beamtin ist freundlich, aber sie kann ihm nicht helfen. Sie rät ihm, er soll einfach alle anrufen, die unter dem Familiennamen »Erdmann« im Telefonbuch stehen.

Die erste Nummer, er hat Glück. »Wieso bist du noch nicht hier?«, fragt sie.

»Na, du hast mich nicht eingeladen.« Sie besucht ihn, gemeinsam mit ihrem Mann. Ihr Mann zieht sich nach fünf Minuten zurück. »Also ich an seiner Stelle hätte kein Auge abgewendet«, sagt Wolfgang Nossen, der das bis heute nicht verstehen kann. »Er war sehr großzügig, könnte man sagen.« Sie essen Himbeertorte und Weihnachtsgebäck und erzählen sich die letzten Jahrzehnte ihres Lebens. Es ist schon Mitternacht. 14 Tage ist er in der Stadt. Sie ersinnen Ausreden. Sie muss zum Zahnarzt oder den Hund ausführen. Wolfgang ist der Zahnarzt und auch der Hund. Sie sind glücklich.

Er ist 59, sie steht bereits kurz vor der Rente. Er hat fünf Kinder, sie eins, für ein gemeinsames ist es nun zu spät, leider, wie heute beide sagen. Doch wenn sie sich sehen, werden sie wieder ganz jung. Dann lieben sie den anderen nicht nur für den Augenblick, sondern auch für die Zeit, die man nicht mit ihm hatte. Wolfgang sagt: »Ich habe mich zu keinem Moment als Ehebrecher gefühlt.« Denn Elisabeth hat sich innerlich bereits so sehr von ihrem Mann entfernt, dass sie sich ohnehin trennen will. Als Wolfgang erneut in ihr Leben tritt, bekommen ihre Pläne ein neues Ziel. Wie Metallspäne vor einem Magneten richtet sich ihr Streben nun auf den Mann, der ihr erster war. Den sie lange verdrängt hatte, aber nie vergessen.

Erst treffen sie sich weiter heimlich, meist am Hotel in der Bahnhofstraße oder auf dem Parkplatz neben der Universität. Eines Tages wartet er dort, als eine Frau auf ihn zutritt, und sagt, sie habe eine Nachricht von Elisabeth: Sie habe einen Unfall gehabt und könne ihn heute nicht sehen. Er solle morgen zum Abendbrot zu ihr kommen.

Ihm ist etwas unwohl, als er am nächsten Abend die Wohnung betritt, er kann nicht wissen, dass ihr Mann nicht zu Hause ist. Stattdessen öffnet eine junge Frau und sagt: »Ich bin die Sylvia, Sie sind der Wolfgang. Oder sagen wir gleich Du?« Sie führt ihn
zu ihrer Mutter, die ziemlich lädiert aussieht. Auf dem Fahrrad ist sie von einem Hund gebissen worden, beim Sturz hat sie sich den Lenker ins Auge gerammt. Aber es ist nichts Schlimmes. Die Tochter, eingeweiht, sagt wenig später zu ihm: »Wann nimmste denn die Mutter endlich weg von hier?« Wolfgang antwortet: »Am liebsten sofort!« Am selben Abend geht es nicht, aber ein paar Tage später, ihr Mann ist zur Kur, sagt Elisabeth zu ihm: »Wenn du willst, können wir Erfurt beenden.« Natürlich will er.

Sie fliehen in ihr neues Glück und zeigen sich nicht in der Öffentlichkeit, denn Elisabeths Mann hat Verwandte in Nürnberg. Aber er erfährt trotzdem, wo sie sind. Er beginnt um sie kämpfen. Bittet sie, zurückzukommen. Sie schwankt. Aber sie bleibt.

Die Nürnberger Zeit der Neuverliebten währt nur ein halbes Jahr. Sie suchen eine Wohnung, in Erfurt bietet sich ihm eine Stelle, bei der er die Wohnung dazu bekäme. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich als Hausmeister anfange?«, fragt er Elisabeth, die Lehrerin ist, aber keine Dünkel hat: »Was soll der Unsinn?« Also haben sie nun eine Wohnung. Und er ist Hausmeister in der Jüdischen Gemeinde Erfurt. Als der Gemeindevorsitzende ein paar Jahre später stirbt, tritt Wolfgang bei der Wahl zum Nachfolger gegen eine Frau aus dem Vorstand an und erhält doppelt so viele Stimmen. Was er unter anderem darauf zurückführt, dass er besser kochen kann als sie. Nun ist er selbst Vorsitzender. In Ehrenamt und Würden. Und mit der Frau, mit der er sein ganzes Leben lang zusammen sein wollte.

Elisabeth sagt: »Wir sind uns in Glaubensdingen einig.« Was übersetzt so viel heißt wie: Sie glauben nicht. Oder jedenfalls nicht im klassischen Sinne. Er habe zwar früher gelernt, dass die Juden ein auserwähltes Volk seien, aber später stellte er sich die Frage, wie Gott es dann habe zulassen können, dass dieses Volk so dezimiert wurde. Wieso habe er keine Großeltern, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen mehr? Und weil ihm das kein Rabbi erklären konnte, ist er geneigt, eher den Erfahrungen des Lebens zu trauen. Elisabeth sagt, sie habe ihn zu bestimmten Festtagen unterstützt, aber das strenge Einhalten der vielen Ge- und Verbote sei weder seine noch ihre Sache gewesen. Nein, religiös seien sie eigentlich nicht.
Menschlich, das ja.

Als ihr Ex-Mann an einem Gehirntumor erkrankt, ist sie für ihn da. Sorgt dreimal in der Woche für den Mann, den sie verlassen hat. Wolfgang fährt sie hin und wartet geduldig im Auto – in angemessener Entfernung. Er will ihn nicht provozieren. Denn dieser Mann hat bereits viel verloren. Seine Frau. Seine Würde. Und bald wird er auch sein Leben verlieren.

Es ist schon fast Mittag. Im Nebenzimmer läuft der Fernseher. Eine Gesundheitssendung. Elisabeth sagt, man könne sich da gut orientieren und wisse beim Arzt gleich, welche Frage man stellen muss. Er hasst Gesundheitssendungen. Weil er wenige Minuten später die Symptome, von denen die Rede ist, an sich selbst feststellt.

Sie sagt: »Wir hatten noch schöne Jahre.« Als sie noch reisen konnten, als nur ihr Wollen den Tag bestimmte und nicht die Unzulänglichkeiten des Körpers. Als er noch keine Herzinfarkte und Bypässe hatte, keinen Nierenkrebs und keine Dialyse. Als er noch laufen konnte und nicht auf Schmerzpflaster angewiesen war. Als die Tage noch vor ihnen lagen, als wäre die Sonne gerade erst aufgegangen. Als sei ihr Leben voll mit Zukunft, die man nur greifen müsse. Aber jetzt, da sie wissen, die Zeit arbeitet gegen sie, freuen sie sich über jeden Moment gemeinsamer Gegenwart.

Sie sagt: »Wir genießen unser Zusammensein.«
Auch wenn sie der Meinung ist, dass sich das Frühstück heute schon wieder zu weit in den Tag dehnt. »Leider sitzen wir oft … und sitzen …« »Wieso leider?«, fragt Wolfgang Nossen. Was könnten sie denn versäumen, was sie nicht sowieso längst erlebt haben?

Foto: Fabian Zapatka