Egal unter welchen Umständen wir unser Leben in Zukunft führen werden, ob eingesperrt oder in Freiheit, ich werde immer bei dir sein und alles Mögliche tun, damit du glücklich bist« – in einem Brief wendet sich die 32-jährige Deutsche Meşale Tolu-Çorlu an ihren Sohn. Sie schaut zurück auf 180 Tage Gefangenschaft.
Wie erklärt man einem kleinen Kind diese Lage? Wie soll er, ein Zweijähriger, das verstehen? Wo ja schon Erwachsene ratlos sind und von Willkür und politischer Gefangenschaft sprechen, wenn es um die in der Türkei inhaftierten Reporter und Aktivisten geht. Ihr Sohn Serkan weiß nur, dass sein Vater verhaftet wurde und drei Wochen später seine Mutter. In der Nacht wurden sie aus dem Bett gerissen, vermummte Menschen mit vorgehaltener Waffe führten seine Mutter ab. Serkan musste zu fremden Nachbarn, bis ihn der Cousin seines Vaters dort abholte. Erst nach 16 Tagen sah er die Mutter wieder – im Gefängnis. Dort lebte er monatelang mit ihr und bis zu 24 weiteren Frauen in einer Sammelzelle. Seit Anfang Oktober lebt er in Freiheit bei Verwandten.
Es war der 30. April 2017, als Meşale Tolu-Çorlu, die als Übersetzerin in Istanbul tätig war, verhaftet und nach tagelangen Verhören ins Istanbuler Frauengefängnis Bakırköy gebracht wurde, wo sie seitdem in Untersuchungshaft sitzt. Ihr wird, so wie dem Welt-Korrespondenten Deniz Yücel, vorgeworfen, terroristische Propaganda verbreitet zu haben und selbst Mitglied in einer Terrororganisation zu sein. Außer den genannten Inhaftierten befinden sich laut Auswärtigem Amt acht weitere deutsche oder deutsch-türkische Staatsbürger wegen politischer Vorwürfe in türkischen Gefängnissen; der Menschenrechtler Peter Steudtner, ebenfalls lange inhaftiert, wurde vergangene Woche vorerst freigelassen, das Verfahren gegen ihn geht allerdings weiter. Tolu wies in einer Anhörung am 11. Oktober alle Punkte der Anklage zurück.
Wochenlang sucht das SZ-Magazin den Kontakt zu Meşale Tolu-Çorlu, schickt ein Dutzend Briefe, dann erhalten wir eine Antwort ihrer Schwester aus Ulm: Auch sie komme nur sehr schwer an Meşale heran. Alle zwei Wochen dürften sie zehn Minuten telefonieren. Über diesen Weg lässt Meşale Tolu-Çorlu dann ausrichten, zwei der zwölf Briefe des SZ-Magazins seien im Gefängnis angekommen. Meşale Tolu-Çorlu schreibt dann mehrere Briefe, nur einer erreicht uns. Besonders eindrücklich schildert sie darin das Wiedersehen mit Serkan im Gefängnis – und dass er sie als Erstes gefragt habe, ob sie sauer auf ihn sei. In ihrem Brief findet sie darauf eine Antwort.
»Mein kleiner Schatz,
heute ist der 134. Tag. Vor genau 134 Tagen hast du mit ängstlichen Blicken den Besuchssaal der Justizvollzugsanstalt betreten. Nach einer gezwungenen 16-tägigen Trennung haben wir wieder einander in die Augen geblickt und uns gegenseitig getröstet. 16 Tage lang war ich nicht nur den ungewohnten, unmenschlichen Umständen ausgesetzt, sondern auch der Befürchtung, dass es dir schlecht gehen könnte. Das erste, was ich nach genau 16 Tagen von dir gehört habe, war: ›Mama, bist du sauer auf mich?‹ In diesem Moment war mir klar, dass sie dir nicht nur deinen Vater und deine Mutter genommen haben, sondern auch das Vertrauen an deine Eltern und die Geborgenheit. Nein, mein Schatz, natürlich habe ich dich nicht allein gelassen, weil ich sauer auf dich war, warum auch? Diese Frage hätte ich dir stellen müssen. Denn all die dramatischen Szenen, die du erleben musstest, konnten wir, als deine Eltern, nicht verhindern. Es war in meiner Verantwortung, dich zu schützen und alles Gewaltsame und Schlechte von dir fernzuhalten. Kinder in deinem Alter sollten maskierte Menschen, Maschinengewehre und Gefängniszellen erst überhaupt nicht sehen dürfen. Jedoch ist dies in diesem Land nicht möglich. Leider erleben dutzende Kinder tagtäglich diese Szenen, ohne das Rücksicht auf sie genommen wird. Manche kommen in der JVA auf die Welt, wachsen hier auf oder verbringen sogar ihre ganze Kindheit hinter vier Wänden. Ich hoffe natürlich, dass du nicht allzu lang hier bleiben musst. Als ich mich entschlossen habe, dich auf die Welt zu bringen, habe ich von schöneren Zeiten geträumt. Natürlich sind mir die Umstände und die politische Lage nicht fremd gewesen. Nichts auf der Welt läuft
einwandfrei, aber von bloßem Träumen kann man auch nichts verändern. Wie Bertold Brecht zu jener Zeit sagte ›Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren‹ habe ich mir vorgenommen, mich für eine gerechte und bessere Welt einzusetzen. Denn alle Kinder verdienen eine gerechte und friedliche Welt. Eine Welt, in der sie keiner Gewalt ausgesetzt sind. Eine Welt, in der sie ohne Ängste auf der Straße, auf dem Spielplatz oder im Wald spielen können. Eine Welt, in der sie das Recht auf wissenschaftliche Bildung haben und sich frei nach ihren Begabungen entfalten können. Glaub mir mein Schatz, die Hoffnung auf das Schöne und Gute kann uns niemand nehmen. Vielleicht kannst du nicht auf den Spielplatz, am Seeufer spazieren oder einfach nur auf der Wiese toben, aber dafür hast du dutzende Menschen um dich, die egal wo sie sich befinden, in Gedanken immer bei dir sind und für unsere Freiheit handeln. Egal unter welchen Umständen wir unser Leben in Zukunft führen werden, ob eingesperrt oder in Freiheit, ich werde immer bei dir sein und alles mögliche tun, damit du glücklich bist. Ich habe dank dieser Erfahrung gelernt, dass man sich an alle Umstände gewöhnen kann, dass Hoffnung und Mut genügen, um die Umstände zu verbessern. Nun kann alles nur noch besser werden. Womöglich wirst du dich an diese Zeiten nicht erinnern können. Dass du mit Plastikflaschen Bowling gespielt, die vorbeifliegenden Flugzeuge stundenlang beobachtet oder aus Brot Figuren geknetet hast. Daher hoffe ich, dass wir irgendwann diesen Brief gemeinsam lesen und uns über dieses ›Erlebnis‹ unterhalten werden. Du bist ein starker Junge. Zu keiner Zeit hast du mir Schwierigkeiten bereitet. Dank dir konnte ich immer aufatmen und weitermachen.
Auch heute bist du der einzige Grund, weshalb ich trotz allem stark bin. Nach dieser finster-dunklen Nacht erwartet uns ein strahlender Morgen, gemeinsam und in Freiheit!
Deine dich liebende Mutter
Meşale Tolu Çorlu
25. September 2017, JVA Bakırköy / Istanbul«
Illustration: Paula Bullig