Schmerzen einer zerissenen Seele

Gedanken zu Marvin Gaye, der heute 70 geworden wäre, wenn ihn sein Vater nicht erschossen hätte.

Foto: Motown/Universal

Marvin Gaye hätte heute seinen 70. Geburtstag gefeiert, wäre er nicht gestern vor 25 Jahren von seinem Vater erschossen worden. Ich bin etwas erstaunt, dass dieses Doppel-Jubiläum – von dem ich durch den Weinstock gehört habe – nur so wenige Leute zu beschäftigen scheint, aber hier in meinem Blog wird Marvin Gaye als eines der großen Pop-Genies verehrt und ich möchte mit zwei Beiträgen aus der SZ-Diskothek an ihn erinnern. Zuerst also ein Text über seinen »Inner City Blues«, der im Diskothek-Band für 1971 stand, weiter unten folgt dann ein Text über Gayes epochales Album Here, My Dear und den Song »Everybody Needs Love« aus dem Diskothek-Band für 1978.

Zuerst kam der Bart. Als Marvin Gaye irgendwann im Jahr 1969 aufhörte, sich zu rasieren, war das ein erstes Anzeichen dafür, dass hier gerade jemand seine Einstellung änderte. Dann weigerte sich Gaye, die Anzüge zu tragen, welche der Motown-Dresscode vorschrieb, und auf Tour gehen mochte er plötzlich auch nicht mehr. Stattdessen verbrachte er seine Tage überwiegend im Schlafzimmer, wo er düsteren Gedanken über den Fortgang seiner Karriere und seiner Ehe mit Anna Gordy, der Schwester des Motown-Bosses, nachhing.

So konnte es nicht weitergehen, das spürte Gaye, aber was nun kommen sollte, wusste er nicht. Anfang 1970 hatte Gaye die scheinbar rettende Idee: Er würde Profisportler werden! Zwei seiner Freunde spielten im Footballteam der Detroit Lions und von diesen Muskelmännern inspiriert, stürzte er sich in ein rigides Trainingsprogramm, das tägliche Läufe, Hanteltraining und Ballpraxis umfasste – ungewöhnlich für den zeitweise recht trägen Gaye, der zudem die Drogen Kokain und Marihuana genoss.

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Doch obwohl er ein talentierter Footballspieler war, reichte es natürlich längst nicht zum Profi und so kehrte er wohl oder übel zur Musik zurück. Da traf es sich gut, dass Renaldo »Obie« Benson von den Four Tops Gaye einen Song zuschanzte, den er mit Al Cleveland geschrieben hatte: »What's Going On«. Gaye gefiel die grüblerische, klagende Natur des Lieds und so nahm er es im Sommer 1970 auf, unterlegt mit einem schimmernden Soulgroove.

Gegen den Widerstand von Motown-Chef Gordy, der den Song für die schlechteste Single hielt, die er je gehört hatte, setzte Gaye schließlich die Veröffentlichung durch – und als »What's Going On« im Frühjahr 1971 ein Hit wird, muss schleunigst ein Album her. Nun zeigt sich die Genialität von Marvin Gaye. Zu den Aufnahmen im März 1971 erscheint er ohne fertige Songs und schafft es dennoch, seine musikalische Vision punktgenau zu verdichten, seine Gedanken zum Leid der Welt, zu Gott und zur Erlösung in einprägsame, tief gefühlte Worte zu fassen, so dass in nur zehn Tagen mit Hilfe der versierten Motown-Studiocrew ein Album entsteht, das der Soulmusik einen neuen, sanften Groove und gänzlich neue Themengebiete erschließt.

Erstmals wendet Gaye hier die später von ihm perfektionierte Technik an, für jeden Track mehrere Vokalspuren zu singen. Auch das inspirierte Bassspiel von James Jamerson veredelt den Klang des Albums; sein Part auf »Inner City Blues« wäre allein schon Grund genug, die Platte zu preisen. What's Going On wird auf Anhieb als Meilenstein anerkannt und etabliert Gaye wie geplant als ernst zu nehmenden Künstler, der die Motown-Hitmaschinerie hinter sich gelassen hat. Das vielleicht schönste Kompliment macht ihm der Bürgerrechtler und Theologe Jesse Jackson, der dem Pfarrerssohn Gaye attestiert, »ein ebenso guter Prediger zu sein wie jeder andere,der irgendwo auf der Kanzel steht«.

Lesen Sie nun, was es mit Marvin Gayes genialem Scheidungsalbum »Here, My Dear« auf sich hatte.

Gern wird die Popanekdote erzählt, dass Marvin Gaye vom Scheidungsrichter verdonnert worden sei, den Erlös seines nächsten Albums als Abfindung an seine Exfrau Anna zu zahlen. Was für ein skurriles Urteil! Doch wer über die Geschichte lächelt, hat das tatsächlich auf diese Weise entstandene Album Here, My Dear nicht gehört. Gayes Testament seiner Scheidung ist ohne Zweifel das ehrlichste, persönlichste Album, das ein namhafter Star je aufgenommen hat. Und da Gaye im Stande war, die Einblicke in seine verstörte Seele auf geniale Weise musikalisch umzusetzen, entstand ein Werk, wie es in der Geschichte der Popmusik ohne Beispiel ist.

Im Jahr 1977 befindet sich Marvin Gaye in der Krise. Das Finanzamt ist ihm wegen einer gewaltigen Steuerschuld auf den Fersen, er gibt ein Vermögen für Kokain und Prostituierte aus – und nun hat sich auch seine Frau Anna nach 16 Ehejahren und einem erbitterten Rosenkrieg von ihm scheiden lassen. Verständlicherweise, muss man sagen, schließlich ist Gaye schon vor einigen Jahren mit seiner 17-jährigen Geliebten zusammengezogen.

Vor diesem Hintergrund geht er ins Studio, um das vom Richter verfügte Album aufzunehmen. »Ich habe die Platte aus einer tiefen Leidenschaft heraus gemacht«, sagte er später seinem Biografen David Ritz. »Es wurde eine Obsession. Ich wollte mich auf diese Weise von Anna befreien. Das ganze Gerichtsverfahren, die Anschuldigungen und Lügen – ich wusste, ich würde explodieren, wenn ich den ganzen Mist nicht aus mir rauskriegen würde.«

So kehrt er sein Innerstes nach außen und erzählt den kompletten Verlauf der Beziehung nach – aus seiner Sicht. Er singt von Wut, Liebe und Schmerz, verbreitet Selbstmitleid und verletzende Vorwürfe, beschreibt recht detailliert den Sex mit Anna und fügt sogar noch eine bizarre Sciencefiction-Episode ein, in der er seine Ex im Jahr 2084 trifft und mit ihr »space dope« raucht.

Das alles wäre schon erstaunlich genug, wird jedoch auf die Spitze getrieben durch Gayes Gesangsstil: auf lässigen Funkgrooves aufbauend, legt er bis zu vier Gesangsspuren übereinander, singt also vierfach mit sich selbst im Chor – und findet so eine bestechende musikalische Umsetzung für die Zerrissenheit, die dem Album zugrunde liegt.

»Everybody Needs Love« wirkt wie ein Ruhepunkt im Inferno von Here, My Dear, doch das Feuer lodert auch hier. Das Stück ist ein Appell an die Allmacht der Liebe, eine Bitte um Erlösung. Mit einem gespenstischen Dreh. »And my father, he needs love«, singt Marvin Gaye. Sieben Jahre später hat ihn sein Vater im Streit erschossen.