Die Gewissensfrage

"Ich versuche so zu leben, dass meine Mitmenschen und die Umwelt möglichst wenig unter meinen Handlungen leiden. Aber je mehr ich mich darüber informiere, desto verwerflicher finde ich das Tun meiner Freunde: Malediven-Urlaub, neues Auto, Einkaufen beim Discounter. Muss ich den Mut zum Klartext haben und ihnen sagen, wie unmöglich sie sich verhalten? Oder sind Freunde wichtiger als das Leben mir unbekannter Erdbewohner? Uli O., Köln

Was Sie hier schildern, nennt man »soziale Kontrolle«. Das klingt nicht sehr schön: nach Kontrolle von Mülltonneninhalt, nach Blicken durch zur Seite gezogene Vorhänge, nach Vorortsiedlungen mit akkurat gestutzten Hecken und nach Menschen, die nachts beim Hundeausführen scharf die Nachbarschaft beäugen.

Zu allem Überfluss nennen die Soziologen das, was damit verhindert werden soll, »abweichendes Verhalten«. Es scheint, als befänden wir uns im Giftschrank der Moral. Und nah am Abgrund zum unangenehmen Moralisieren. Dennoch haben Sie nicht ganz unrecht. Einmal angenommen, dass Ihre Bedenken über das Konsumverhalten Ihrer Freunde berechtigt sind, stellt sich die Frage, ob Sie sie kundtun sollten. An dieser Stelle kommt die soziale Kontrolle ins Spiel. Neben ihrer institutionalisierten Form, etwa bei der staatlichen Verbrechensbekämpfung, hat sie auf dem informellen Gebiet auch die Aufgabe, die ungeschriebenen Normen innerhalb einer Gesellschaft zu bilden.

Eine wichtige Aufgabe, die man nicht den Millimetermaßheckenstutzern überlassen sollte: Was in einer Gesellschaft als richtig oder falsch gilt, hängt auch davon ab, wie sich die Gesellschaft als Summe der Individuen dazu verhält. Unter anderem durch den Ausdruck von Missachtung gegenüber bestimmten Verhaltensweisen oder – weniger aggressiv – durch Gespräche.

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Und damit wären wir wieder bei Ihnen: Selbst wenn Sie recht haben, stellt das keinen Grund dar, Ihre Mitmenschen in irgendeiner Form abzukanzeln. Ihr Ziel erreichen Sie genauso, womöglich besser, wenn Sie freundlich darlegen, dass und warum Sie etwas bedenklich finden. Dann können Sie auch darüber diskutieren und feststellen, wer die stärkeren Argumente hat. Denn eines dürfen Sie nicht vergessen: Sie können sich – wie jeder andere – bei Ihrer Einschätzung auch geirrt haben.

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Literatur zu diesem Thema:

Winfried Hassemer: Warum Strafe sein muss, Ullstein Verlag, Berlin 2009, S. 32-49

Tobias Singelnstein / Peer Stolle, Die Sicherheitsgesellschaft – Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert, 2. Auflage, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, v.a. S. 11-16 und 57ff.

Helge Peters (Hrsg.), Soziale Kontrolle. Zum Problem der Nonkonformität in der Gesellschaft, Leske + Budrich, Opladen 2000

Helge Peters, Devianz und soziale Kontrolle – Eine Einführung in die Soziologie abweichenden Verhaltens, 3. Auflage, Juventa Verlag Weinheim, 2009.

Illustration: Marc Herold