Die Gewissensfrage

»Als ich vor einiger Zeit mit dem Bus nach Hause fuhr, ließ ein übel riechender Mann beim Aussteigen eine volle Bierflasche neben mir stehen, die prompt in der ersten Kurve umfiel. Mit jeder Kurve schwappte mehr Bier aus der Flache. Hätte ich sie aufheben und entsorgen müssen, bevor noch mehr ausläuft – obwohl ich eine Aversion gegen den Mann hatte? Aus Rücksicht auf den Busfahrer, der den Bus wohl putzen muss?« Jelena I., München

Vergangenes Jahr erhielt zum ersten Mal eine Frau den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften: Elinor Ostrom. Und zwar für ihre Arbeiten über ein sehr altes Prinzip, die Commons, auf Deutsch: Allmende. Dabei handelt es sich um Güter, die einer bestimmten Gruppe gemeinsam gehören oder die die Mitglieder zumindest gemeinsam nutzen dürfen.

Typische Beispiele sind Weideland, wie es häufig auf Almen vorkommt, oder Bewässerungssysteme. Ostrom stellte fest, dass in bestimmten Konstellationen dieses System besser funktioniert als staatliche Lenkung einerseits oder Privatisierung andererseits. Besonders wenn der Kreis der Beteiligten überschaubar ist und alle bei den Bedingungen der Nutzung mitbestimmen können. Das trifft nun bei städtischen Bussen nur begrenzt zu, und ich will auch gar nicht anregen, die Verkehrsbetriebe revolutionsartig in eine neue Bewirtschaftungsform zu überführen. Es geht mir dabei mehr um die Betrachtungsweise. Und die kann man ändern - eben in Richtung auf das Allmendemodell, was beim öffentlichen Nahverkehr gar nicht so fern liegt. In München zum Beispiel gehört die Verkehrsgesellschaft, die MVG, der Stadt. Und das ist keine abstrakte Staatsbehörde, sondern die Summe ihrer Bürger. Damit gehören Ihnen deren Busse zu einem 1,3-Millionstel. Aber das sehe ich als gar nicht so entscheidend: Wenn Sie im Bus sitzen, nutzen Sie ihn zusammen mit den Mitfahrenden, und er stellt in diesem Sinne ein Gemeingut aller tatsächlichen oder potenziellen Fahrgäste dar.

Das bedeutet nicht, dass Sie ab sofort mit Schrubber und Eimer in der Hand einsteigen und während der Fahrt durchwischen müssen. Für eine regelmäßige Reinigung ist der Betreiber zuständig, und dafür haben Sie auch beim Fahrpreis mitbezahlt. Dennoch, sobald man das Prinzip der gemeinsamen Nutzung und der Allmende hier geistig anwendet, erkennt man schnell: Es liegt in Ihrem eigenen verallgemeinerten Interesse, weitere Verschmutzungen zu verhindern. Vor allem wenn es keinen großen Aufwand bedeutet; wie etwa bei einer auslaufenden Bierflasche.

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Wenn Sie dieses Thema interessiert, hier ein paar Tipps zum Weiterlesen:

Mit allgemeinen Ausführungen zu Allmende und einem Aufsatz von Elinor Ostrom:
Silke Helfrich und Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter. Oekom Verlag München, 2009

Elinor Ostrom, Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action. Cambridge University Press, Cambridge 1990
Auf deutsch leider auch antiquarisch nur schwer erhältlich: Die Verfassung der Allmende. Mohr, Tübingen 1999

Thomas Dietz, Elinor Ostrom, Paul C. Stern: The Struggle to Govern the Commons. Science, Vol. 302 (2003) pp. 1907 - 1912

llustration: Marc Herold