"Ich konnte mich selbst nicht mehr sehen"

Vom Fernsehen hat Günter Netzer sich verabschiedet. Das Kommentieren kann er nicht lassen: Ein Interview.

SZ Magazin: Herr Netzer, vor drei Monaten haben Sie Ihren Job als Kommentator von Fußball-Länderspielen bei der ARD aufgegeben. Vermissen Sie Gerhard Delling schon sehr?
Günter Netzer: Als Freund, ja. Aber die Sendung, die vermisse ich, ehrlich gesagt, nicht.

Sie verspüren keinerlei Wehmut, nach 13 Jahren Fernsehen?
Nein. Das sage ich, ohne zu kokettieren: Ich konnte mich selbst nicht mehr sehen. Die wesentlichen Dinge des Fußballs habe ich in den letzten Jahren angesprochen, sehr frühzeitig und in einer offenen Art und Weise, wie sich das bis dahin niemand getraut hat. Wenn ich Spiele kritisiert habe, hat das ja auch den DFB betroffen. Das war ungewöhnlich, schließlich ist der DFB der größte Vertragspartner unserer Firma, die mit Sportrechten handelt.

Haben Sie eine Erklärung, warum sich andere Kommentatoren nicht die Freiheit nehmen, ein schlechtes Spiel auch schlecht zu nennen?
Das ist das amerikanische System: Man kauft die Ware teuer ein und berichtet positiv darüber. Diesem Fehler bin ich nie erlegen. Journalisten haben einmal über ein Jahr hinweg meine Beiträge studiert. Sie meinten, das kann ja gar nicht sein, dass da einer die Rechte für die Bandenwerbung an den DFB teuer verkauft und anschließend über die Spiele berichtet. Fairerweise haben diese Journalisten am Ende zugegeben, dass die Spiele, für die wir Verträge mit dem DFB hatten, in meinen Kommentaren am schlechtesten weggekommen sind. Wer mich kennt, weiß: Eher hätte ich mir die Zunge abgebissen, als ein schlechtes Spiel hochzujubeln.

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Wenn Sie heute ein Spiel anschauen, schalten Sie dann den Ton ab?
Nein. Natürlich ärgere ich mich über manche Kommentatoren – so wie die sich wahrscheinlich über mich geärgert haben.

Wem hören Sie am liebsten zu?
Marcel Reif. Fachkenntnis, Rhetorik, er trifft fast immer den Sinn des Spiels.

Was war Ihr bestes Spiel als Kommentator?
Weiß ich nicht. Oft genug stand ich ja im Studio, schaute mir das Spiel an und dachte: Verflucht noch mal, was sagst du jetzt in der Halbzeit? Das waren grausame Momente.

Aber Sie konnten doch immer hoffen, dass Gerhard Delling die richtigen Worte findet.
Genau, dass er irgendeinen Blödsinn sagt, der mich dann zu einer dezidierten Antwort zwingt. Und wissen Sie was? Er hat mich in dieser Beziehung fast nie enttäuscht.

Wann wussten Sie, dass es an der Zeit ist, Ihr Engagement im Fernsehen zu beenden?
Ich habe schon 2006 überlegt aufzuhören. Die WM im eigenen Land, das war ein Höhepunkt für uns alle. Aber dann haben die Fernsehleute gemeint, die Sendung läuft so gut, lass uns weitermachen. Doch mit der WM in Südafrika war für mich der Punkt erreicht, wo ich gespürt habe, jetzt muss ich aufhören. Natürlich bin ich begeistert von den Reaktionen der Menschen. Als ich aus Südafrika zurückkam, habe ich so viele Autogrammwünsche und Briefe vorgefunden wie nie zuvor nach meiner Zeit als Spieler.

Ist für Sie nun wirklich Schluss? Oder planen Sie bereits eine neue Sendung?
Viele waren der Meinung: Du kommst doch eh wieder zurück. Absurd. Das wird nicht passieren, garantiert nicht.

Sie äußerten in den Siebzigerjahren einmal, Fußball habe viel mit Proletentum zu tun. Haben Sie je bereut, dass Sie sich Ihr ganzes Leben mit diesem Sport beschäftigt haben?
Nie. Ich wusste immer, was ich kann. Und das war Fußball. Daraus haben sich immer wieder Dinge entwickelt, die sich geschäftlich nutzen ließen: als HSV-Manager oder beim Handel mit Vermarktungsrechten.

Auf diesem Feld haben Sie Pionierarbeit geleistet, als Sie kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion durch Osteuropa reisten und den Vereinen die Rechte für Bandenwerbung in ihren Stadien abkauften. Eine aufregende Zeit?
Mein Gott, ja. Ich habe als Fußballer nie behauptet, ich hätte im Spiel meine Knochen hingehalten, die Aussage hielt ich für übertrieben. Aber in Osteuropa hat es gestimmt. Besser gesagt, ich habe meinen Magen und meine Leber hingehalten. In Georgien zum Beispiel wurde vor jedem Geschäftsabschluss überprüft, ob man trinkfest ist. Es wäre ein Affront gewesen, da nicht mitzuhalten.

Wie es scheint, haben Sie ganz gut mitgehalten. Heute zählen Sie zu den wichtigsten Akteuren im internationalen Handel mit Fußballrechten.
Wir hatten am Anfang natürlich leichtes Spiel, weil wir konkurrenzlos waren. Die osteuropäischen Vereine haben sich gewundert, die konnten es gar nicht glauben, dass wir ihnen Geld für Bandenwerbung zahlen wollten. Das ist heute anders: Die verstehen das Geschäft jetzt sehr gut.

Uli Hoeneß, Präsident des FC Bayern München, beklagt regelmäßig die Kommerzialisierung des Fußballs – obwohl er sie selbst maßgeblich vorangetrieben hat, ebenso wie Sie. Irgendwelche Schuldgefühle?
Ich fühle mich nicht persönlich schuldig an dieser Entwicklung. Und ohne das ganze Geld hätte der Fußball nicht diese Entwicklung genommen, die aus meiner Sicht unbedingt nötig war. Natürlich gab es in den letzten Jahren Exzesse, manche Vereine haben weit über ihre Verhältnisse gelebt, was dann auch zu einer massiven Wettbewerbsverzerrung geführt hat.

Ein Trainer wie José Mourinho bekommt bei Real Madrid heute zehn Millionen Euro Jahresgehalt. Ist das so ein Exzess?
Die Trainer waren bis in die Neunzigerjahre total unterbezahlt im Vergleich zu den Spielern. Als ich 1981 beim HSV Ernst Happel verpflichten wollte, nannte er ein Jahressalär, das Trainer heute in zwei oder drei Wochen verdienen. Trotzdem denke ich: Wenn ein Spieler heute zehn Millionen im Jahr wert ist, dann ist es der Trainer auch. Er muss ja die ganze Mannschaft zusammenhalten. Bei Ausnahmeerscheinungen finde ich solche Summen akzeptabel.

Sie haben lange Zeit den Mangel an Spielerpersönlichkeiten in der deutschen Nationalmannschaft beklagt. Sehen Sie das nach der WM in Südafrika anders?
Nein. Zu meiner Zeit hatte jede Bundesligamannschaft Persönlichkeiten in den Reihen, also Spieler, die Verantwortung übernahmen. Das ist uns definitiv abhandengekommen.

Die meisten Spieler der deutschen Nationalmannschaft sind doch noch ziemlich jung. Gibt es einen, der vielleicht bald zur Spielerpersönlichkeit reifen könnte?
Özil.

Warum gerade er?
Der Junge bringt so viel mit, das ist unglaublich. Fast immer, wenn er am Ball ist, macht er etwas Großartiges, Unvorhergesehenes, Außergewöhnliches.

Ist er deswegen schon eine Persönlichkeit?

Natürlich nicht. Es geht um die Ausstrahlung auf und neben dem Platz. Özil ist eine Autoritätsperson in dieser Mannschaft.

Er nimmt sich immer wieder Auszeiten während des Spiels. Fast so wie Sie früher.
Ja, aber die Mannschaft billigt ihm das zu! Das ist viel wichtiger. Ich beobachte das sehr genau.

Und Bastian Schweinsteiger?
Er ist sicher in einem Atemzug mit Özil zu nennen. Seine Entwicklung ist bewundernswert. Ich habe ihn früher zwar als guten Spieler gesehen, aber vom Stuhl gerissen hat er mich nie. Es scheint, als hätte er seinen Charakter verändert, er ist ein ganz anderer Typ.

Özil hat zu Real Madrid gewechselt. Würden Sie Schweinsteiger raten, auch ins Ausland zu gehen?
Wenn man es wie Schweinsteiger in München so weit gebracht hat, ist das nicht nötig. Der FC Bayern ist der am besten geführte Fußballverein der Welt, er ist dort sehr gut aufgehoben. Ihm stehen große Jahre bevor.

Wie beurteilen Sie die Leistung von Philipp Lahm, dem Kapitän der Nationalmannschaft? Ist er der Richtige für dieses Amt?
Ein großartiger Spieler. Fast schon beängstigend, welche Konstanz er zeigt. Und er will Kapitän sein. Entscheidend ist aber immer, ob die Mannschaft den Kapitän auch akzeptiert. Das scheint bei Lahm der Fall zu sein, also ist er der Richtige.

Schweinsteiger plädiert aber für Michael Ballack.
Er hat nur einen Gedanken geäußert, den ich teile: dass Ballack bis vor Kurzem Kapitän war und durch eine Verletzung aus der Bahn geworfen wurde. Deshalb sollten wir fair mit ihm umgehen. Es liegt allein an Michael Ballack, wenn er Leistung zeigt, wird ihn Joachim Löw auch nominieren.

Und wenn nicht?
Dann hat sich das Thema erledigt. In die Nationalmannschaft gehören die besten Spieler. Das ist der normale Kreislauf.

Eine der größten Enttäuschungen des WM-Turniers in Südafrika war der Auftritt von Mario Gomez, der auch bei Bayern nicht Fuß fasst. Welchen Eindruck macht er auf Sie?
Auch für mich ist seine Leistung sehr enttäuschend. Ich merke bei ihm kein Aufbäumen. Dieser unbedingte Wille, sich mit der Situation nicht zufriedenzugeben, ist nicht erkennbar. Er fügt sich in sein Schicksal. Das ist furchtbar. Ich bedaure das sehr.

Ist es für junge Spieler heute schwieriger, zu Persönlichkeiten zu reifen? Zu Ihrer Persönlichkeitsentwicklung gehörten ja auch Ihre Eskapaden, also bis frühmorgens durch die Clubs in München zu ziehen und dann in den ersten Flieger nach Düsseldorf zu steigen, um rechtzeitig zum Training zu erscheinen. Heute stünde das sofort in der Zeitung.
Ja, meine Frechheit würde heute nicht geduldet. Deshalb sind Franz Beckenbauer und ich uns in diesem Punkt einig: Fußballer wollten wir heute nicht mehr sein. Natürlich würden wir gern das Geld mitnehmen, das heute gezahlt wird. Aber wir hatten ein angenehmeres Leben als Fußballer. Es war nicht so transparent, wir hatten einen Freiraum, der uns gewisse Dummheiten erlaubte.

Der Sexskandal um Franck Ribéry hat Sie demnach nicht sehr überrascht, oder?
Nein, überrascht hat mich das nicht. Aber ohne auf diesen speziellen Fall eingehen zu wollen: Überall, wo junge Fußballstars auftauchen, lauert die eine oder andere Versuchung. Ich weiß, wovon ich spreche. Wir waren früher auch nicht lammfromm.

Klingt alles so, als seien Sie heute ziemlich zufrieden, wie Ihr Leben verlaufen ist.
Ja, ich bin glücklich und dankbar. Ich habe eigentlich nie Stress gehabt im Leben, ich hatte immer alles im Griff. Und ich musste nie große Pläne schmieden, sondern konnte mich immer auf meine Intuition und meinen Instinkt verlassen – wie Franz Beckenbauer. Wir sind uns in vielem so ähnlich.

Außer bei den Haaren. Was passiert denn nun mit Ihrer Frisur?
Natürlich wird die Frisur auch auf meine alten Tage so bleiben. Es ist einfach nicht mehr daraus zu machen.

Günter Netzer, 1944 in Mönchengladbach geboren, gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten des deutschen Fußballs. Als Spieler wurde er Deutscher Meister und Pokalsieger mit Borussia Mönchengladbach, Spanischer Meister und Pokalsieger mit Real Madrid, Europameister 1972 und Weltmeister 1974 mit der deutschen Nationalmannschaft. Als Manager beim Hamburger SV gewann er drei deutsche Meisterschaften und 1983 den Europapokal der Landesmeister. Netzer ist heute Mitinhaber der Firma Infront Sports & Media, die mit Übertragungs- und Vermarktungsrechten handelt. Zwischen 1998 und 2010 war er für die ARD als Sportkommentator tätig, erhielt gemeinsam mit Gerhard Delling im Jahr 2000 den Grimme-Preis und im Jahr 2008 den Medienpreis für Sprachkultur.

Illustration: Dirk Schmidt