Was bedeutet eigentlich »einvernehmlich«?

Wenn keiner mehr weiß, was Vergewaltigung bedeutet, leiden alle: Frauen, Männer, der Sex. Und das Vertrauen.

Es gab mal eine Zeit, da wusste man genau, was eine Vergewaltigung ist: Jemand wird gegen seinen oder ihren Willen mit Gewalt oder Drohungen zu sexuellen Handlungen gezwungen. War Penetration im Spiel: Vergewaltigung. Sonst: sexuelle Nötigung. Nein hieß nein. Alles schien klar.

Jetzt ist nichts mehr klar. Spätestens seit dem Fall Julian Assange haben die Wörter ihre Eindeutigkeit verloren: ja, nein, einvernehmlich – das kann zu jedem Zeitpunkt etwas anderes heißen. Die Fakten sind noch einigermaßen unbestritten: Julian Assange hatte mit zwei Frauen im Laufe einer Woche jeweils einvernehmlichen Sex, bei dem offenbar hier ein Kondom platzte und dort eins fehlte. Die Frauen erfuhren voneinander und beschlossen, gemeinsam zur Polizei zu gehen. Eine Untersuchung wurde erst eingeleitet, dann fallen gelassen, dann wieder aufgenommen: Laut schwedischem Gesetz kann es seit 2005 bereits als »minder schwere Vergewaltigung« gelten, wenn sich eine Frau (oder ein Mann) »auf unpassende Weise ausgenutzt« fühlt. Und sofort hat sich die ganze Welt kollektiv auf die Schenkel gehauen über dieses Rechtsverständnis: Gott, wenn jeder schiefgegangene Sex justiziabel wäre und jedes verletzte Gefühl ein Klagegrund …

Ist es nicht zum Wahnsinnigwerden? Das, was zu jemandes Schutz gedacht ist, schadet ihm, wenn er tatsächlich davon Gebrauch macht. Denn genau das ist wieder mal das Bedrückende an diesem Fall: Kaum geht es um Sexualstraftaten, ob tatsächlich begangene oder behauptete, scheint sich jeder zum Richter berufen zu fühlen. Man kann es an sich selbst beobachten, wie leichtfertig und lustvoll man sich auf Basis von Hörensagen, Sympathiewerten und blanker Spekulation anmaßt zu wissen, was zwischen zwei Fremden hinter geschlossenen Türen passiert ist – wo man es doch oft genug nicht mal von seiner eigenen Beziehung wirklich sicher sagen könnte. War das jetzt gestern Abend einvernehmlich? Eigentlich hatte ich doch gar nicht richtig Bock.

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Das Fürchterliche an solchen öffentlichen Prozessen, die wie auch im Fall Kachelmann nur zu einem winzigen Bruchteil im Gerichtssaal geführt werden, ist, dass jeder dabei verliert. Das mutmaßliche Opfer kann die Tat meist nicht beweisen, der mutmaßliche Täter nicht seine Unschuld, beide finden keine Erlösung. Jedes zukünftige Opfer wird sich angesichts der Demütigungen dreimal überlegen aufzumucken. Und wir Zuschauer – wir Voyeure – stehen wie angewurzelt im Minenfeld des Misstrauens, das wieder mal zwischen Männern und Frauen wuchert: Scheißweiber, Scheißkerle, wir alle.

Foto: AFP Photo