Die Gewissensfrage

Sie möchte Nähe, er möchte Distanz: Ist es in Ordnung, ohne den Partner Urlaub zu machen? Oder muss man deswegen ein schlechtes Gewissen haben?

»Seit Jahren dreht sich meine Beziehung letztlich um die Frage: Wie stark darf das eigene Ego innerhalb einer Partnerschaft oder Ehe ausgeprägt sein, ohne den anderen dadurch zu verletzen? Ist es zum Beispiel in Ordnung, regelmäßig allein Urlaub zu machen? Kann man dann trotzdem von einer ganz normalen Ehe oder Partnerschaft sprechen? Oder sollte derjenige, der das tut, ein schlechtes Gewissen haben?« Marcus T., Bremen

Was will man denn in einer Beziehung oder gar einer Ehe, wenn man seine Zeit lieber allein verbringt?, wird nun mancher fragen. Und die Frage ist berechtigt. Allerdings nicht als rhetorische Frage mit vorgegebener Antwort, sondern als echte, offene Frage. Eine Frage, die sich an die beiden Partner richtet, die nur die beiden beantworten können und deren Antwort für jede Beziehung anders ausfällt.

Man kann Beziehungen und vor allem die Ehe als ihre institutionalisierte Form grundsätzlich auf zwei Arten auffassen: mit von wem auch immer gegebenen Vorgaben oder als eine Verbindung zwischen zwei Menschen, die das Recht haben, die Bedingungen ihrer Verbindung in weitem Umfang festzulegen. Mir scheint die zweite Auffassung richtig, auf jeden Fall solange keine Kinder da sind, deren Bedürfnisse mit berücksichtigt werden müssen. Die Idee, das Prinzip einer Institution sollte wichtiger sein als die zwei individuellen Menschen selbst und deshalb über ihnen stehen, lässt sich nur schwer vereinbaren mit der Vorstellung vom freien Menschen, der sein eigener Zweck ist.

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Was aber, wenn die beiden Partner – wie wohl bei Ihnen – unterschiedliche Wünsche haben? In diesem Fall kann man miteinander sprechen, versuchen, sich zu einigen, sich arrangieren, eventuell Kompromisse finden. Oder, wenn das alles nicht gelingt, feststellen, dass die Vorstellungen von dem, wie man glücklich werden will, zu weit auseinanderliegen, und die Konsequenzen ziehen.

Dies könnte dafür sprechen, doch zu definieren, was in einer Partnerschaft normal ist. Aber was würde das in Ihrem Fall bedeuten? Dass einer von beiden oder beide sich dieser Norm zu beugen hätten, egal wie unglücklich sie dabei werden? Oder man zumindest feststellen kann, wer »recht hat«? Was hätten die Partner davon? Es geht doch darum, dass diese beiden Menschen eine für sie passende Lebensform finden. Wie die aussehen soll, können nur sie beide gemeinsam (!) festlegen. Und wenn die Vorstellungen zu weit voneinander abweichen, hilft es wenig zu wissen, dass einer von beiden die Norm auf seiner Seite hat. Im Gegenteil: Wer eher bereit ist, eine Norm anzuerkennen, als sich mit den Wünschen und Bedürfnissen seines Partners auseinanderzusetzen, sollte überlegen, ob er nicht lieber ein Gesetzbuch oder den Katechismus heiraten will.

Literatur zu dieser Frage:

Immer empfehlenswert zu lesen ist Bertrand Russell, in diesem Fall sein Buch „Ehe und Moral“, in dem er allerdings – ungewöhnlich für ihn als Liberalen – relativ klare Vorstellungen entwickelt, wie eine gute Ehe aussieht: Bertrand Russell, Ehe und Moral, Kohlhammer Verlag Stuttgart 1951.

Karl Lenz, Soziologie der Zweierbeziehung – Eine Einführung, Verlag für Sozialwissenschaften, 4. Auflage Wiesbaden 2009

Illustration: Marc Herold