Die Gewissensfrage

Darf man eine kranke alten Dame anschwindeln, damit sie in Frieden sterben kann?

»Meine Großtante, bei der mein Bruder und ich einen Teil unserer Kindheit verbracht haben, und die uns sehr geliebt hat, liegt im Sterben. Sie möchte ausdrücklich keinen Besuch mehr, aber wir telefonieren fast täglich. Oft fragt sie nach meinem Bruder, sie leidet darunter, dass er vor vielen Jahren den Kontakt zu ihr abgebrochen hat – ohne konkreten Anlass. Nun erwäge ich, meiner Großtante ein paar liebevolle Worte ›auszurichten‹, die aus dem Munde meines Bruders sicher nicht kommen würden. Ich glaube, es würde sie sehr glücklich machen, und sie könnte friedlicher Abschied nehmen. Wie sehen Sie das?« Stefan M., Nürnberg

Im Englischen kennt man den Begriff der white lies. Damit bezeichnet man Lügen, die nicht negativ, schlecht oder böse sind, sondern im Gegenteil dazu dienen, Konflikte zu vermeiden oder sogar anderen zu helfen. Das hier scheint fast ein Paradefall zu sein: Man erfüllt einer alten, sehr netten Dame einen Wunsch und lässt sie so glücklich in Frieden sterben. Ohne dass es jemandem schadet, zumal es Ihrem Bruder ja ziemlich egal zu sein scheint, was Ihre Großtante über ihn denkt.

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Allerdings hält das einer näheren Betrachtung nicht stand. Die liebevollen Worte, die Sie Ihrer Tante vermeintlich ausrichten, in Wirklichkeit aber auftischen wollen, mögen sie tatsächlich glücklich machen, aber irgendwie bekommt das Glück Ihrer Tante durch die Lüge etwas Schales, ja mehr noch, es bekommt selbst etwas – wenn auch ungewollt – Falsches. Es ist zwar mehr als ein Schein von Glück, aber scheint doch weniger als richtiges Glück.

Damit landet man bei der Frage, worin denn eigentlich das Glück besteht, das Sie für Ihre liebe Tante anstreben. Das wiederum beinhaltet die Überlegung, ob es verschiedene Arten oder Abstufungen von Glück gibt und ob sie unterschiedlich viel wert sind. Eine Frage, mit der sich die Utilitaristen auseinandersetzen müssen, die ja das größte Glück für die größte Zahl von Menschen als Ziel ihrer Ethik anstreben. Von John Stuart Mill, einem der Begründer des Utilitarismus, gibt es dazu einen berühmten Satz: »Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr.« Ohne dass wir hier die Frage nach dem Glück abschließend lösen müssten, scheint mir im zweiten Halbsatz die Lösung Ihrer Frage zu liegen: Es mag sein, dass Ihre Großtante oberflächlich betrachtet glücklicher wird, wenn man ihr etwas vorgaukelt, aber im Endeffekt nur, weil man sie mit der Lüge nicht nur sprichwörtlich zum Narren hält, sondern – ich formuliere das in Anlehnung an Mills Bild mit Bedacht hart – zum Narren degradiert, der nur glücklich ist, weil er die Realität verkennt.

Vielleicht lebt es sich als Narr leichter. Dass es sich leichter stirbt, wage ich schon zu bezweifeln. Aber auf jeden Fall halte ich es für falsch, eine Sterbende zu einem solchen zu machen. Noch dazu ohne Not.

Zu diesem Thema empfiehlt Rainer Erlinger folgende Literatur:

Das Zitat von John Stuart Mill lautet in größerem Zusammenhang: "Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr. Und wenn der Narr oder das Schwein anderer Ansicht sind, dann deshalb, weil sie nur ihre eigene Seite der Angelegenheit kennen. Die andere Partei hingegen kennt beide Seiten." Im englischen Original lautet die Sequenz: "It is better to be a human being dissatisfied than a pig satisfied; better to be Socrates dissatisfied than a fool satisfied. And if the fool, or the pig, are of a different opinion, it is because they only know their own side of the question. The other party to the comparison knows both sides.“

Das Werk gibt es in einer zweisprachigen Ausgabe übersetzt von Dieter Birnbacher: John Stuart Mill, Utilitarianism /Der Utilitarismus, Reclam Verlag Stuttgart 2006

Lesenswert zum Utilitarismus ist außerdem:
Bernhard Gesang, Eine Verteidigung des Utilitarismus, Reclam Verlag Stuttgart 2003, darin speziell zur Frage des Glücks als zentrales Ziel des Utilitarismus: Kapitel 1 - „Was ist Glück?“

Illustration: Marc Herold