Kopf oder Zagreb

Eine Münze werfen. Zum Flughafen fahren. Keine Gedanken machen. Der Plan dieser Reise war: Einmal im Leben Reisen ohne Plan.

Zu Hause hatten die Tage sich wie Sirupfäden gezogen, ich musste raus. Also schrieb ich die Namen von acht Städten auf Zettel, in denen ich nie gewesen war, Belgrad, Bratislava, Tallinn, warf Münzen, bis eine übrig blieb, buchte einen Last-Minute-Flug für den nächsten Morgen und hielt mich vom Internet fern; ich wollte mich auf mein Ziel nicht vorbereiten können. Es ist ein Plan, der seit Längerem in mir rumort: einmal nichts planen, ohne Empfehlungslisten einfach abhauen, zusehen, wie weit man damit kommt.

Reiner Zufall, dass ich in Zagreb bin und wohin ich jetzt gezogen werde. Ich gehe einer Frau nach, irgendeiner, sie interessiert mich nicht, sie soll auf keinen Fall bemerken, dass jemand ihr folgt. Ich muss nur wissen, wohin sie geht, denn dorthin will ich auch. Es ist die Spielregel meiner Reise: Ich hänge mich aufs Geratewohl an Menschen an.

Sie bringt mich in eine Markthalle. An ein paar Dutzend Ständen werden Fische angeboten, in Styroporboxen auf Eis gelagert, Sardinen, Tintenfische, vieles, was ich nicht identifizieren kann, die kroatischen Namen sagen mir ja nichts. So wie ich sonst reise, wäre ich hier sicher nicht gelandet. Wieder draußen suche ich mir einen älteren Herrn als Vorangeher. Er kauft Blumen, lässt sich Tomaten, Paprika, Zwiebeln geben. In Sichtweite liegt eine Kathedrale, ich darf sie nicht besichtigen, muss dem Herrn hinterher. Er schlendert aber bloß vor sich hin, scheint viel Zeit zu haben und kein bestimmtes Ziel.

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Viele Menschen auf den Straßen. Es ist schon Ende September und immer noch warm genug, um sich gemächlich dahintreiben lassen zu können, hier ein Schaufenster begutachtet, dort einem Straßensänger zugehört, dann auf einer Bank fünf Minuten Rast eingelegt. Die halbe Stadt scheint es so zu machen. Flaniert durch die Gegend, sitzt in Straßencafés, hat es überhaupt nicht eilig. Schön hier, man könnte glatt hier leben, es passiert zwar nichts, das aber auf angenehme Weise.

Genau das, was ich wollte: mich selbst vergessen, endlich einmal. Das eigene Bewusstsein austricksen, das mich beim Verreisen immer wieder dasselbe tun lässt – Sehenswürdigkeiten, Museen mit moderner Kunst, paar Buchläden, Restaurants, die sich so dem globalen Geschmack angepasst haben, dass es in ihnen schmeckt wie überall. Jetzt sitze ich in einem »Grill« an einer Ausfahrtsstraße und vertilge glücklich eine riesige Portion Cevapcici, die letzten habe ich in meiner Kindheit gegessen, in den Sommerferien auf einer damals noch jugoslawischen Insel. Nur, weil ich einem Liebespaar nach bin.

So geht das drei Tage lang. Ich komme viel herum. In einem Park ein Chor, der kroatische Volkslieder singt, die Stimmen gleiten wie sprudelnde Wellen übereinander. In der Oberstadt das Parlamentsviertel, Gebäude wie herausgeputzt, viele kroatische Flaggen. Einmal um die Ecke: eine rührende Montmartre-Simulation, die sich Strossmartre nennt, ein paar Künstler bieten ihre Arbeiten an, es sind bloß keine Touristen da, um sie ihnen abzukaufen. Ein anderes Mal habe ich mir eine Frau ausgesucht, die immerzu weiter- und weitergeht, vom Zentrum weg, die Läden werden billiger, die Fassaden blättriger, wohin will sie denn bloß, dann biegt sie um eine Ecke und steckt einen Schlüssel in eine Haustür, ich muss den ganzen Weg zurück.

Bekommt man eine Ahnung, wie eine Stadt ist, wenn man sich so durch sie bewegt wie ich, ohne die Höhepunkte? Von ihren Rhythmen vermutlich und von einer Grundstimmung. Was könnte ich sagen, wenn man mich fragt, wie Zagreb ist? Ein wenig beschaulich. Schmuck. Keine Staus, keine Hektik, Berlin sieht kaputter aus. Es gibt viele Kinder, fällt mir auf, erstaunlich viele Banken. Abends hübschen sich die Frauen zum Ausgehen auf. Die Innenstadt: ein Straßencafé am anderen, alle voll, als wollten die Zagreber noch die letzten Sommertage auskosten.

Einem Mann hinterher. Sieht sich in einer Auslage Sportschuhe an. Lässt sich in einer Bäckerei ein Sandwich einpacken. Schiebt sich an einem Pulk alter Frauen vorbei, die vor einer Muttergottesstatue beten, er hat ein Ziel, fünf Minuten später sind wir da, doch noch ein Museum für mich.

Auf einem Podest liegt ein Flaschenöffner in Form eines Schlüssels, an der Wand daneben erzählt eine Tafel seine Geschichte: Jeden Tag hast du mir kleine Geschenke gemacht. Der Schlüssel war eines von ihnen. Du hast mir den Kopf verdreht, aber du wolltest einfach nicht mit mir schlafen. Wie sehr du mich geliebt hast, habe ich erst begriffen, nachdem du an Aids gestorben warst.

Es ist ein Museum für zerbrochene Beziehungen. Zu besichtigen sind die Überbleibsel von Liebesgeschichten, die euphorisch begannen und dann kläglich zu Ende gingen, Betrug, Langeweile, Unverträglichkeit der Charaktere, das Übliche.

Im Ernst? Ein Ort, an dem des Endes der Liebe gedacht wird? Es war in diesem Augenblick, dass in mir eine Art Liebe zu Zagreb erwachte.

Vielleicht mache ich das in Zukunft auch zu Hause: Menschen nachgehen, sie werden mich schon irgendwohin bringen, wo man aus eigenem Antrieb nie hinkäme, Glück findet, das man noch nicht kennt.

LESEN
Lonely Planet Guide to Experimental Travel: eine Sammlung von Methoden für das Reisen nach dem Zufallsprinzip.

BESUCHEN
Das Museum of Broken Relationships (www.brokenships.com) befindet sich in der Ćirilometodska 2 in der Zagreber Oberstadt.

SCHLAFEN
Das »Palace Hotel« in der Trg J.J. Strossmayera 10 (www.palace.hr) hatte zufällig ein Zimmer frei, ist sehr komfortabel und trotz des imposanten Namens angenehm günstig.

Foto: Florian Kolmer