Freie Fahrt voraus

Naschen, aber nicht dick werden. Auf Banker schimpfen, aber selbst kein Schnäppchen auslassen. Plötzlich will keiner mehr für sein Handeln geradestehen. Was wurde eigentlich aus der guten alten Konsequenz?     


Ich liebe Fortschritt. Wann immer mir etwas Neues auffällt, weckt es meine Neugier, meistens auch meine Begeisterung. Ich finde auch nicht, dass früher alles besser war – man starb an Grippe, verdingte sich in Leibeigenschaft, und Post war wochenlang unterwegs, um den Atlantik zu überqueren. Seit Kurzem aber beobachte ich Neuigkeiten, die mich irritieren: Erst mal fiel mir auf, dass in meiner Nachbarschaft ein Frozen-Yoghurt-Laden nach dem anderen aufmachte. Frozen Yoghurt ist wie Eis, nur mit weniger Fett und Zucker drin. Kurz darauf beobachtete ich Menschen, die an einer E-Zigarette saugten, statt sich das Rauchen abzugewöhnen. Schließlich erzählte mir der Erste von »EMS«, einer neuen Trainingsmethode, bei der man mühelos Muskeln bildet.

Ich wohne in Berlin-Mitte, also in so einer Art Trend-Labor. Gärtnerplatzviertel in München oder Schanze in Hamburg funktionieren ähnlich. Hier leben vor allem diejenigen, die sich statt »Guten Morgen« die Kennworte für WLAN-Verbindungen im Café zurufen – Early Adopter, Trendsetter, andere Schmähungen fallen mir gerade nicht ein. Natürlich machen die Menschen in diesen Lebensräumen keine Trends, sie sind nur die Seismografen von Veränderung. Was man hier beobachtet, zeigt sich früher oder später in der Breite der Bevölkerung. Man darf also vom Stöckchen aufs Hölzchen schließen: eine Süßigkeit, die nicht dick macht, Muskelbildung, ohne Sport zu treiben, und rauchen, ohne zu stinken. Handlung und Folge werden getrennt. Wer A sagt, muss nicht mehr B tun. Aber was, wenn auch das nur eine Folge ist – welcher Auslöser liegt dem zugrunde? Woher stammt meine Skepsis? Ich fürchte, die dazu passende gesellschaftliche Entwicklung bedeutet die Abschaffung der Konsequenz.
Deutet man die mühelose Muskelbildung und die folgenlose Nascherei und Raucherei als Zeichen, entdeckt man rasch ein Muster: Womöglich wird es bald nur eine Erinnerung gewesen sein, dass man für das, was man tat, auch mal einstehen musste. Wer zu viel futterte und sich zu wenig bewegte, wurde fett, wer rauchte, starb früher. Wer schlecht in der Schule war, wurde ausgeschimpft, wer schlecht im Job war, flog raus. Von Politikern und Führungskräften erwartete man, dass sie zurücktraten, wenn sie Mist gebaut hatten. Solche Konsequenzen werden zu gesellschaftlichen Artefakten. Heute stehen die Eltern nicht mehr ihren Kindern auf den Füßen, sondern deren Lehrern, wenn es in der Schule nicht gut läuft. In New York tritt im kommenden Jahr eine Regelung in Kraft, die den Verkauf von Limonade auf eine Höchstmenge pro Becher reduziert, weil die Kinder in der westlichen Welt immer dicker werden und offenbar nicht mehr in der Lage sind, die Folgen ihrer Handlungen abzuschätzen oder tragen zu können.

Erinnert sich noch jemand an Nick Leeson, der 1995 die Barings Bank in den Ruin spekuliert hatte und über Brunei, Bangkok und Abu Dhabi flüchtete, bis er schließlich in Frankfurt am Main festgenommen wurde? Die Banker, die 2008 die Weltwirtschaft fast zum Einsturz gebracht hätten, forderten hingegen ihre Boni ein, auch nachdem klar war, dass jemand anders, nämlich die Steuerzahler, die Konsequenzen ihres Versagens tragen müssen. Jeder kennt die Lebensregel, dass der Kapitän als Letzter das sinkende Schiff verlässt. Doch Francesco Schettino, Kapitän der havarierten Costa Concordia, verklagt zurzeit seine Reederei auf Wiedereinstellung.

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Diese Beispiele sind Indizien einer Umwälzung, die bereits begonnen hat und sich gerade erst entschlüsselt: Als die ersten Ford-T-Modelle auf der Straße fuhren, dachte auch niemand, »ah, jetzt beginnt das Fließbandzeitalter«. Als Commodore-64-Computer auf den Wunschzetteln landeten, sagte keiner: »Willkommen, Informationszeitalter!« Meilensteine rollen oft als Kiesel daher. Die Abschaffung der Konsequenz wird im Rückblick nicht auf eine Person oder ein Jahr einzugrenzen sein, sondern eher wie ein zeitgemäßes Hinüberstolpern wirken. Das Gefühl, Konsequenzen tragen zu müssen, schwindet, weil wir uns in Netzwerken bewegen, wo Entscheidungen selten die eines Einzelnen sind. Verantwortungsbewusstsein nimmt in dem Maß ab, in dem fremde Einflussfaktoren zunehmen. Und die nehmen stetig zu.  
Politiker versuchen derzeit, uns die Wirtschaft zu erklären, obwohl selbst Mathematiker sagen, dass sie keine Logik mehr im Zahlenspiel der Märkte erkennen können. Staaten verschulden sich und niemand kann sagen, ob und wann das Geld zurückgezahlt wird. Sind es überhaupt Schulden? Oder nur Zahlen, die von einer Generation auf die nächste umgebucht werden? Wenn auf ein Problem Dutzende mögliche Erklärungen kommen, steigt der Druck und die Ahnung sinkt.

Nach Fukushima gab es eine rasante Wende in der Energiepolitik, die zu neuen Fragen führte. Öl wird knapp, wo soll der Strom für die Elektromobile der Zukunft herkommen? Aus der Windenergie? Vielleicht. Aber gegen die Aufstellung der Windräder regt sich massiver Protest – jeder will alternative Energie, aber niemand die Folgen in seinem Blickfeld stehen haben. Wo viele Menschen und Einflussfaktoren zusammenkommen, wird Verantwortung nicht geteilt, sondern verschoben.
Beim neuen Berliner Flughafen (BER) muss ein Untersuchungsausschuss feststellen, wer überhaupt Konsequenzen für das Desaster tragen könnte. Vorsitzender des BER-Untersuchungsausschusses ist Martin Delius, ein Pirat. Dass ausgerechnet die Piratenpartei den Untersuchungsausschuss leitet, ist reiner Zufall, sie sind an der Reihe. Andererseits kein Zufall, dass die Piraten bis vor Kurzem die Partei mit dem meisten Zulauf waren. Die bekanntesten Forderungen der Piraten: Legalisierung jeglicher digitaler Kopie und ein bedingungsloses Grundeinkommen für jedermann. Eine ganze Partei, die für die Abschaffung der Konsequenz eintritt.

Da Zeitenwandel auch Sittenwandel nach sich zieht, hat sich bei Managern, Stars und Politikern in jüngster Vergangenheit die Ersatzhandlung etabliert, eine Entschuldigung an Stelle der Konsequenz zu setzen. Matthias Platzek und Klaus Wowereit haben sich für das BER-Chaos entschuldigt und gleichzeitig für nicht verantwortlich erklärt. Den Boni-Bankern, die sich verzockt hatten, tat es auch irgendwie leid, aber ihr Geld wollten sie trotzdem. Tony Hayward, der Vorsitzende des BP-Konzerns, entschuldigte sich für die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko, ging dann aber erst mal auf einen Segeltörn, um sich von dieser Strapaze zu erholen. Prominente entschuldigen sich öffentlich für jeden Fehltritt, heulen in Talkshows und lassen sich in eine Reha-Klinik einweisen, wo Ärzte und Pfleger ihre Probleme übernehmen. Wer fremdgeht, erklärt gern, dass die prähistorische Programmierung seine Finger führte, der Zwang, sich vermehren zu müssen. Moderne Menschen verweisen auf Mächte, die außerhalb der eigenen Verantwortung liegen. Die Märkte, die Umstände, die Natur, bei Übergewichtigen auch der Stoffwechsel oder die Limonaden-industrie. Der Einzelne ist nicht schuld, an fast nichts.

Wer von Veränderungen irritiert ist, ignoriert dabei oft, dass er einfach nur älter wird. Ich mache da keine Ausnahme. Ich habe mir das Rauchen noch mühsam abgewöhnt, mehrmals. Nun gibt es also eine E-Zigarette, die diese Quälerei unnötig macht. Nervengift saugen sich die Raucher immer noch rein, aber befreit von der Not, sich im Schneeregen in Hauseingängen zusammendrücken zu müssen – einer der Gründe, warum ich aufgehört habe. Die Sucht bleibt, aber die Ächtung schwindet. Zwanzig Minuten EMS erzielen angeblich den Effekt von zwei Stunden intensivem Training. Auf die Muskeln bin ich nicht neidisch, Muskeln habe ich selber. Doch dafür treibe ich auch seit Jahren Sport. Da hält sich meine Begeisterung in Grenzen, dass es umsonst gewesen sein soll, mich immer wieder im Training zu schinden. So, als hätte ich jahrzehntelang verbissen gespart – allerdings in Reichsmark. Im Grunde bin ich also neidisch auf Fortschritt, der zu spät für mich kommt.

Hoffentlich erlebe ich noch, dass eine Pille entwickelt wird, mit der man ohne Kater trinken und ohne Zunahme essen kann. Ich würde sie sofort nehmen. Ich hätte auch gern eine Software, die in Zukunft Texte wie diesen für mich schreibt. Einfach nur eine Idee haben und sich keine Mühe damit machen müssen – ein Traum. In Berlin-Mitte scheint dieser Traum bereits wahr zu werden: Die Einwohner zeichnen sich ja nicht nur durch Trendfühligkeit aus, sondern auch durch das Vermeiden von Festlegung und Verbindlichkeiten. Sie arbeiten an Projekten, aus denen nie etwas wird, feiern, ohne an morgen zu denken, und wollen vielleicht noch mal was ganz anderes machen. Zwischen dem EMS-Laden, der gerade in der Invalidenstraße aufgemacht hat und dem Frozen-Yoghurt-Laden am Hackeschen Markt liegen wenige Meter. Dazwischen der Adidas-Store, in dem nur noch modische Trainingskleidung angeboten wird, die für Sport ungeeignet ist. Da schließt sich doch ein Kreis, dachte ich bei meinem letzten Rundgang im Trend-Labor. Da kann man sich Klamotten kaufen, mit denen man beim EMS eine gute Figur macht.

Die letzte Frage bleibt: Warum muss ich mich über diese Klischees aus Berlin-Mitte mokieren, die alle stimmen, außer mir aber niemanden zu stören scheinen? Im Sommer kommt man kaum noch durch, so voll sind die Bürgersteige von erwartungsfrohen Nichtstuern – eine herrliche Stimmung in der Welthauptstadt der Inkonsequenz. Ich könnte ja wegziehen. Aber so einfach gebe ich nicht auf. Ich zerre ungeduldig meine Sporttasche durch die Menschen und versuche pünktlich beim Training zu sein. Spaß macht das nicht. Aber um Spaß geht es mir auch nicht. Konsequentsein macht selten Spaß. Ich gehe nicht zum Sport, weil ich mich gern schinde, sondern weil es mich hinterher unendlich befriedigt, es geschafft zu haben. Den inneren Schweinehund überwinden nannte man das zu Zeiten, als Kapitäne noch zuletzt das sinkende Schiff verließen. Genauso beruhigt es mich zu wissen, dass ich mich so weit im Griff habe, dass ich mit dem Rauchen aufhören kann. Zur Not auch noch mal. Der Stolz auf einen fertigen Text, in den ich einige Denkarbeit investiert habe, ähnelt dem Stolz, den man fühlt, wenn ein zu eng gewordenes Jackett wieder passt. Ab und zu sollte man gegen sich antreten, auch wenn man dabei genauso oft verliert wie gewinnt. Bei einer Selbsterfahrung ist das Ergebnis nicht immer gut, aber immer bringt es einen weiter. Nur so lernt man seine Grenzen und Möglichkeiten kennen. Wer Handlung und Konsequenz trennt, möchte im Grunde mit sich selbst nichts zu tun haben.

Foto: Daniel und Maxi