Mit Laib und Seele

Mit gerade mal 19 übernahm Apollonia Poilâne die berühmteste Bäckerei Frankreichs. Heute exportiert sie ihr Brot bis nach Japan, Robert De Niro und Johnny Depp lassen es sich nach Hause schicken. Und Catherine Deneuve schaut sogar manchmal selbst vorbei.

Auf den ersten Blick hatte die Studentenbude von Apollonia Poilâne am Harvard College in Massachusetts nichts Besonderes. Aber auf den zweiten Blick fiel der Brottopf auf, den die Französin sich besorgt hatte und in dem immer frisches Sauerteigbrot lag. Brot aus ihrer eigenen Bäckerei in Paris, das sie sich jede Woche per Kurierdienst kommen ließ. Denn während ihre Kommilitonen an der amerikanischen Uni morgens zum Joggen und abends auf Partys gingen, leitete die damals 19-jährige Apollonia Poilâne neben ihrem Studium ein sechstausend Kilometer entferntes Unternehmen mit gut 130 Mitarbeitern und zwölf Millionen Euro Jahresumsatz: Poilâne, gesprochen »Pwalahn«, die berühmteste Bäckerei Frankreichs.

Trotzdem kommt es ihr vor, als habe sie in Harvard »ein ganz normales Studentenleben« geführt, sagt die heute 28-jährige Firmenchefin, die sich amerikanisch-unkompliziert als Apollonia vorstellt, im Stammhaus von Poilâne in Paris. Sie ist dünn, blass, keine 1,70 Meter groß. Obwohl sie völlig ungeschminkt ist, fallen ihre großen Augen auf. Grünliche Augen. Ein ganz normales Studentenleben – außer dass wenige Monate, bevor es begann, ihre Eltern tödlich verunglückten. Frankreichs Starbäcker Lionel Poilâne und seine Frau Irena stürzten vor zehn Jahren, am 31. Oktober 2002, auf dem Weg zu ihrem Wochenendhaus mit dem Hubschrauber ins Meer. Apollonia und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Athéna blieben als Vollwaisen zurück. Noch am Todestag ihrer Eltern beschloss Apollonia, die Bäckerei weiterzuführen. Und ging wenige Monate später trotz alledem für das Wirtschaftsstudium nach Harvard, für das sie angenommen worden war. »Ich habe getan, was ich tun musste, und nicht mehr«, sagt die Unternehmerin. »Ich habe es getan, weil die Umstände so waren. Es war einfach so. Punkt.«

Per Telefon, E-Mail und FedEx leitet die Studentin den Betrieb, ihren Betrieb, der in Frankreich seit Jahrzehnten als Luxusmarke gilt wie Dior, Chanel oder Yves Saint Laurent. Vier Jahre lang regelmäßige Flüge zwischen Boston und Paris, morgens und abends Anrufe im Büro. Eine Vertraute ihres Vaters reicht ihr nacheinander die Mitarbeiter ans Telefon, mit denen etwas abzusprechen ist. Der Werksleiter hält sie auf dem Laufenden über die Produktion. »Das gesamte Personal half mir«, sagt Apollonia Poilâne.

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Catherine Deneuve, Gérard Depardieu, Robert De Niro kaufen das Sauerteigbrot, das bis heute in der kleinen Backstube unter dem Laden im 6. Arrondissement gebacken wird. In demselben alten Holzofen, mit dem Apollonias Großvater Pierre 1932 angefangen hat. In derselben Backstube, in der Apollonias Vater Lionel in den Siebzigerjahren einen Kronleuchter aus Brotteig für Salvador Dalí buk. In demselben Keller, in dem Apollonia als Kind mit Teig spielte. Als Baby lag sie statt in einer Wiege im Brotkorb.

Deshalb musste sie nicht überlegen, als sie von einem Tag auf den anderen ihre Eltern verlor. Am nächsten Morgen ging sie nicht nach unten in die Backstube, wo sie seit dem Abi arbeitete. Sondern nach oben ins Büro. »Ich habe nicht nachgedacht«, sagt Apollonia. »Es schien mir selbstverständlich, dass ich übernehme. Ich hatte immer gesagt, dass ich den Betrieb weiterführen wollte – dann kam es eben schneller als gedacht.«

Apollonia sitzt an dem Holztisch im Hinterzimmer, an dem sie jeden Morgen mit ihren Mitarbeitern frühstückt. Grau-braune Glencheck-Hose, graues Shirt, beigefarbene Strickjacke. Unscheinbar, leise, fast unsicher. Das glatte Gegenteil von ihrem Vater, der als Abenteurer und Dandy galt, langes Haar und Fliege trug, sich auf Partys mit schillernden Menschen umgab. Und in den Siebzigerjahren eine Marke machte aus dem fast zwei Kilo schweren Graubrot, das in Frankreich völlig aus der Mode war.

Ein kleiner Familienbetrieb, der Brot aus Sauerteig, Mehl, Wasser und Salz herstellt – in Deutschland nichts Besonderes. In Frankreich dagegen stand Graubrot nach dem Krieg für Mangel und Entbehrungen. Weißbrot, aus dem teureren hellen Mehl gemacht, wurde zum Symbol für Frieden, Freiheit, Wohlstand, Überschuss. Was den Poilânes egal war, sie blieben bei ihrem Sauerteig. »Mein Großvater war ein Mann mit festen Überzeugungen«, sagt Apollonia. »Er hat nicht an seinem Brot gezweifelt.« Noch weniger zweifelte ihr Vater daran. Lionel Poilâne trug über die Jahre mehr als zweitausend Bücher über Brot zusammen, er las alles, wusste alles, was es über Brot zu wissen gibt, schrieb Bücher über Brot. »Er sprach sehr gern über seinen Beruf«, sagt Apollonia. So wurde das Brot mit dem geschwungenen P in der Kruste berühmt.

Rund fünfhundert Sauerteigbrote am Tag kommen aus dem alten Ofen im Stammhaus, knapp siebentausend weitere aus der Manufaktur in Bièvres, südwestlich von Paris, die Lionel Poilâne in den Achtzigerjahren bauen ließ. Manufaktur, weil auch dort alle Arbeitsgänge von Hand geschehen. Bis auf die Kneterei. Alles weitere, den Teig ansetzen, abwiegen, runde Kugeln formen – Kugel heißt auf Französisch »boule«, daher kommt der Name »Boulangerie«, Bäckerei –, zum Gehenlassen jede Kugel einzeln in einen Weidenkorb legen, den aufgegangenen Teig in den Ofen schieben, all das ist bei Poilâne bis heute Handarbeit. Die Öfen in Bièvres sind die gleichen wie der in der Backstube in der Pariser Innenstadt; Apollonias Vater ließ seinerzeit zwei Dutzend davon nachbauen. »Holz macht eine bessere Hitze«, sagt Apollonia, »es ist die trockene Hitze, die dem Brot gut tut.«

Ein Fünftel, mehr als tausend Brote am Tag, geht per Frachtflug in alle Welt – in die USA, nach Japan, Südostasien und Nahost. Sogar im KaDeWe in Berlin und bei Käfer in München gibt es Brot von Poilâne. In Großbritannien hatte Lionel Poilâne kurz vor seinem Tod eine erste Filiale aufgemacht. Apollonia setzte eine zweite nach, richtete neben dem Stammladen in Paris eine Brotbar ein, in der es Sandwiches und Salate gibt, beschäftigt mittlerweile rund 160 Mitarbeiter und setzt 14 Millionen Euro jährlich um. Bevor sie über weitere Standorte nachdenkt, wahrt sie lieber die Qualität, die sie hat, sagt die Firmenchefin. »Und irgendwann später würde ich das Unternehmen gern an jemanden übergeben.«

Foto A. Poilâne: J. Graf/Fedephoto/StudioX