Unter Wasser, unter Druck

In Japan suchen Taucherinnen nach Seeschnecken, immer in bedrohlicher Tiefe, immer mindestens zu zweit. So entstehen lebenslange Freundschaften.

Das Wort »Abalone« begegnet dem durchschnittlichen Mitteleuropäer vielleicht im Alter von zwölf zum ersten Mal, wenn er im Jugendbuch Insel der blauen Delphine liest, wie sich ein verwaistes Indianermädchen damit über 18 Jahre lang am Leben erhält. Er erfährt dort, dass Abalonen ziemlich große Muscheln sind – Seeschnecken aus der Familie der Haliotidae korrekterweise, aber das kommt nicht so ausführlich zur Sprache –, dass sie sich unter Wasser an Felsen festsaugen, von denen man sie abkratzen muss, und dass sie genauso lecker sind wie nahrhaft.

Die nächste Begegnung mit Abalonen findet dann etwa acht Jahre später statt, bei einer der zahllosen 007-Wiederholungen im Fernsehen: Im Verlauf von Man lebt nur zweimal heiratet Herr Bond eine gertenschlanke japanische Abalone-Taucherin im weißen Bikini. James-Bond-Filme schlittern ab und zu an der Wahrheit vorbei, so auch in diesem Fall. Das stimmt so nämlich nicht, mit dem Bikini: Früher trugen solche Taucherinnen Lendenschurze, später weiße Baumwollhemden, inzwischen Neopren. Wahr hingegen ist, dass Abalonen in Japan von Frauen aus der Tiefe des pazifischen Ozeans geholt werden, und zwar nur von Frauen, seit mehr als 1500 Jahren.

»Ama« ist der Name für diejenigen, die diesen Beruf ausüben, wörtlich übersetzt heißt es »Meerfrau«, und das trifft ihr Wesen genauso wie ihren Aufenthaltsort. Die Ama sind zu Hause im Meer. Sie gehören zu den besten Tauchern der Welt. Manche tauchen mehr als 20 Meter tief, einige halten die Luft eineinhalb Minuten an. Andere tauchen kürzer, weniger tief, näher am Strand, aber gemeinsam ist allen, dass sie den Ozean nicht fürchten, auch dort nicht, wo er schwarz und tief ist. Nie gehen sie mit Sauerstoffflaschen unter Wasser, aber immer begleitet von anderen Frauen, die dasselbe tun.

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Warum Männer traditionell nicht nach Abalonen tauchen, wird unterschiedlich erklärt. Sie haben weniger Körperfett, heißt es, da können sie die Kälte schlecht vertragen. Oder sie sind beim Fischfang, weit weg auf Booten draußen auf hoher See. Sie sind vielleicht einfach auch nur, wird unter den Ama gekichert, das schwächere Geschlecht. Die Ama wirken gut gelaunt und selbstbewusst, nicht nur wegen ihrer Allianz mit dem Meer, sondern auch wegen der Einnahmen, die sich daraus ergeben. Abalonen gelten als Delikatesse, exquisite Gerichte werden aus ihnen bereitet und zu exquisiten Preisen verkauft. Früher hätte eine Ama sogar mehr als einen Mann mit ihrer Arbeit ernähren können, und auch heute, in Krisenzeiten, ist Abalone-Tauchen noch lukrativ.

Obwohl sie vor Raubbau geschützt sind, werden die Abalonen allerdings weniger und mit ihnen die Ama, wenn auch aus anderen Gründen. Aus der Familie einer Ama kam mindestens eine Tochter, die auch Ama wurde – so war es über Jahrhunderte. Bis die Töchter lieber in Büros arbeiten wollten, am liebsten in der Großstadt, da wird die Haut nicht so dunkel von Sonne und Salz. Was zur Folge hat, dass inzwischen schon Männer nach Abalonen tauchen, sie sind nicht allzu viele, aber jung. Die aktiven Ama hingegen werden immer älter. Die Meerfrauen gehen ins Wasser, bis sie 60, 70, 80 Jahre alt sind. Bloß um des Geldes willen tun sie das kaum. Also wird es wohl an der Freundschaft liegen, die bei der gemeinsamen Arbeit zwischen den Frauen entsteht und die jeder Tag im Meer wieder bestätigt.