»Ich kann nicht anders: Ich muss nörgeln«

Zum Tod von Marcel Reich-Ranicki: Seine besten Sätze aus der unvergessenen Fernsehsendung »Das Literarische Quartett«, von Anfang bis Zwist.

Anfang
Die Weltliteratur besteht aus Debütromanen. Das ist doch immer so: Der erste Roman ist das Wichtigste und dann kommt gar nichts mehr. Also, vielleicht sagen wir mal Goethe, der hat mit einem Debütroman angefangen. Und der war sehr gut. ( Literarisches Quartett vom 14.1.1993)

Anthropozentrismus
Mich interessiert in der Literatur eigentlich nur der Mensch. Mäuse und Kühe interessieren mich nicht. (18.2.1991)

Benn, Gottfried
Einer der dümmsten Sätze, der je von einem deutschen Lyriker gesagt wurde, stammt von Benn: Bei jedem Lyriker gebe es fünf oder sechs gute Gedichte. Ich weiß nicht, warum dieser Satz immer wieder zitiert wird. Bei Goethe finde ich 56 oder 76 gute Gedichte. Und bei Heine 16 oder 26. (25. 3. 1988)

Meistgelesen diese Woche:

Berlinroman
Das gibt's überhaupt nicht. Was ist denn das für'n Unsinn. Das ist Quatsch! Alexanderplatz , nein, nein, nein, nein, nein. Also Balzac hat viele Romane geschrieben, die in Paris spielen, aber es gibt keinen einzigen Parisroman von Balzac. Berlin ist natürlich in Berlin Alexanderplatz nicht das Thema. Ein Roman zeigt die Erlebnisse, die Leiden von Menschen. Eine Stadt kann nur die Szene, den Hintergrund geben. (5.3.1999)

Bernhard, Thomas
Man kann überhaupt nicht Literatur machen, ohne zu übertreiben. Die ganz großen Schriftsteller waren ja pure Übertreibungskünstler. So'n Shakespeare hat doch übertrieben wie'n doller Kerl. Bei Thomas Bernhard ist die Übertreibung ganz extrem. (5.3.1999)

Christentum
Dieses Literarische Quartett ist keine Veranstaltung im Rahmen der Woche der Brüderlichkeit. Was schlecht ist, ist schlecht, und es muss gesagt werden. (18.2.1991)

Desinteresse
Wozu soll ich eigentlich ein Buch über Kalkutta lesen? Mich persönlich interessiert Kalkutta überhaupt nicht. Wenn ich aber ein Buch über Kalkutta lesen möchte, dann doch nicht von einem Poeten, der dahin gefahren ist für drei oder vier Monate, der sich etwas umgesehen hat. Was hat er dort gesehen? Schmutz, Gestank, Elend, Armut. Das wissen wir doch. (30.9.1988)

Empfindung
Es kommt nicht auf die Beschreibung der physiologischen Prozesse an, das kann jeder, es ist nicht schwer zu beschreiben, wie ein Penis in eine Vagina dringt oder ein Bleistift in eine Tasche gesteckt wird. Es kommt darauf an zu zeigen, was die Frau oder der Mann oder gar beide während dieser Sachen empfinden. (10.3.1989)

Erotik
Wenn ich die deutsche Literatur der letzten zwanzig Jahre lese, die ist ja unerhört unerotisch. Da war zum Beispiel der große Thomas Bernhard - vollkommen unerotisch. Oder Grass: eigentlich immer unerotisch. Siegfried Lenz - immer. Martin Walser - beinahe immer. Wenn sich das deutsche Volk nach seinen Schriftstellern von heute richten würde, es würde sich überhaupt nicht mehr vermehren. Da sieht man, wie gering der Einfluss dieser Schriftsteller ist. (10.10.1991)

Feld, ein weites
Wertlose Prosa, langweilig und unlesbar. Keiner hat den Grass dazu aufgefordert, über die Wiedervereinigung zu schreiben. Mir wär viel lieber, wenn Grass über die Liebe zu seiner Frau geschrieben hätte. Interessiert mich viel mehr als seine Ansichten zur Wiedervereinigung. (24.8.1995)

Feministische Theorie
Diese Antonia Byatt hält nichts von der feministischen Literaturwissenschaft - allein das macht sie schon sympathisch. Der Teufel soll mich holen, wenn Herr Karasek das nicht mit Vergnügen gelesen hat. Geben Sie's zu! (13.5.1993)

Goebbels, Joseph
Grass sagt seit zehn oder 15 Jahren immer wieder, die deutsche Kritik sei schlecht. Das ist ja seit Lessing bekannt und jeder Autor, der verrissen wurde, wiederholt es. Grass will, dass die Kritiker nur über die Bücher informieren. Das wollte - mit Verlaub - Joseph Goebbels auch. Und Grass muss endlich belehrt werden, es ist höchste Zeit: Kritik ist unter anderem dazu da, die literarischen Werke zu werten und zu beurteilen. (24.8.1995)

Goethe, Johann Wolfgang von

Wissen Sie, wer sympathisch war? Walther von der Vogelweide. Denn von dem wissen wir gar nichts. Und wenn wir über einen Dichter viel wissen, dann ist er arg unsympathisch. Thomas Mann war sehr unsympathisch, Brecht ebenfalls, Heine auch sehr fragwürdig und Goethe, na, keine sympathische Figur. (3.6.1988)

Gordimer, Nadine
Ihre Bücher sind künstlerisch so schwach, dass ich wetten möchte, sie kriegt den Nobelpreis. Zumal sie ja auch noch weiblichen Geschlechts ist. (18.2.1991)

Handke, Peter
Es gibt deutsche Schriftsteller, wenn die kompletten Schwachsinn ihrem Verlag liefern, dann hat der Verlag zwei Möglichkeiten: zu drucken oder abzulehnen. Lehnt er ab, dann geht dieser prominente Schriftsteller zu einem anderen Verlag. Zwölf andere Verlage sind glücklich, wenn sie Handke bekommen. Ob ein Buch gut oder schlecht ist, ist für einen Verleger eine sekundäre Überlegung. Das Entscheidende ist: Bringt es Geld oder bringt es Geld nicht? (24.8.1995)

Heimat
Ich bin eurozentrisch veranlagt! Ich bin und will eurozentrisch sein und das kann mir keiner verwehren! Meine Welt ist zwischen Athen und Dublin oder zwischen Lissabon und Stockholm. (15.12.1996)

Hunde
Es ist, glaube ich, der Peter Handke ein Autor, der seit vielen Jahren schon auf den Hund gekommen ist, man kann sagen, auf den metaphysischen Hund. Und Botho Strauß ist auf den ideologischen Hund gekommen. Er schreibt Unsinn! (25.4.1997)

Indien

Ich kann Ihnen voraussagen, was Martin Walser in Kalkutta schriebe: einen Roman über den Bodensee. (30.9.1988)

Irland
Ich habe einen Widerwillen gegen die irische Literatur, ich kann das nicht ertragen, immer die Slums und immer wird gesoffen und ein bisschen gekotzt zwischendurch. Elend und muffiger Katholizismus. (15.12.1996)

Joyce, James
Das weiß man, dass der Ulysses in Deutschland maßlos überschätzt wird. Er wird ja nur deshalb so überschätzt, weil ihn kaum jemand gelesen hat. (14.5.1990)

Kafka, Franz

Ganz unter uns: Ich hab nicht gern Insekten. Ob das Die Fliegen sind bei Sartre oder diese Geschichte von Kafka, die nicht zu seinen allerbesten gehört. Insekten verführen die Autoren. (31.3.1994)

Kempowski, Walter
Kempowski ist ein wackerer Sammler, fleißig, hat vier Bände gesammelt und wir danken Gott, dass es nicht fünf geworden sind. (24.2.1994)

Kindheitserinnerungen
Sind meist langweilig in der Literatur. Deswegen sind auch in Autobiografien, die immer so früh anfangen, die ersten Kapitel meist die schwächsten. (23.8.1992)

Kirsch, Sarah
Wenn Sie wüssten, wie viel Arbeit es mich gekostet hat, Sarah Kirsch Gedichte abzuverlangen, sie immer wieder anzurufen oder ihr Briefe zu schreiben: Sarah, ich und die ganze deutsche Nation warten auf Ihre nächsten Gedichte, könnten Sie nicht was schicken? (26.12.1988)

Von Langeweile bis Zwist

Das Literarische Quartett im Jahr 1991: Sigrid Löffler, Hellmuth Karasek, Ulrich Greiner und Marcel Reich-Ranicki (v.l.n.r.).

Langeweile
Das höchste ästhetische Kriterium! Es gibt kein höheres für mich! Für mich ist Der Zauberberg ein spannender Roman, deswegen ist er so gut und für mich ist dieses Finnegan's Wake kein interessantes Buch, obwohl es literarhistorisch eine hohe Bedeutung haben mag. (12.2.1990)

Liebe
Ich geb es zu, das mag ja gegen mich sprechen, aber ich interessiere mich für Liebes- geschichten von Intellektuellen. Die Liebesgeschichten von Bauern können vielleicht auch sehr aufregend sein, aber das ist nicht ganz mein Fach. (10.10.1991)

Literarisches Quartett

Uns wird von Zuschauern oft vorgeworfen, dass wir die Bücher nicht hinreichend loben. Wir sind nicht der verlängerte Arm der Werbeabteilungen deutscher Verlage. (12.12.1993)

Literaturgeschichte
Das haben wir doch alles im Expressionismus schon gehabt, wie böse die Bäume sind und die Straßen und die Wege. (19.11.1992)

Mann, Thomas
Die langjährige Freundin und Ehefrau von Philip Roth, Claire Bloom, hat jetzt in der englischen Presse Interviews erteilt, dass ihr Mann an einer sexuellen Obsession leidet. Dieser Informationswert ist ungefähr so, wie wenn meine Frau der Presse heimlich mitteilen würde, dass ich Thomas Mann schätze. Ist auch allmählich bekannt. (18.10.1996)

Nobelpreis

Den Nobelpreis sollte wohl erst Updike bekommen und dann Philip Roth, aber es werden beide ihn nicht bekommen, denn es wird sich ja sicher noch irgendjemand aus dem Sudan finden. Dass die nicht schreiben können, spielt gar keine Rolle. Eben weil sie nicht schreiben können im Kongo, muss man denen den Nobelpreis geben. (5.3.1992)

Nouveau Roman
Claude Simon war für mich immer der langweiligste und schlechteste Repräsentant des Nouveau Roman. Butor hat zwei, drei fabelhafte Bücher geschrieben, der Robbe-Grillet war schon schwächer, die Nathalie Sarraute sehr interessant und unmöglich war Claude Simon. Der hat dann vor elf Jahren ein Buch geschrieben, über das überall publiziert wurde: endlich ein gutes Buch von Claude Simon. Drei Jahre später hat er den Nobelpreis bekommen. Das wissen wir ja, dass den Nobelpreis immer zweitrangige Autoren bekommen. Hat ihn Strindberg bekommen? Nein, Selma Lagerlöf. Hat ihn Brecht bekommen? Nein, Hermann Hesse. In Stockholm lieben sie nicht sosehr die hervorragende Ware. Grass wird ihn deshalb schon noch kriegen. (14.1.1993)

Obsession

Ich komme auf mein Steckenpferd zurück, nicht zum ersten Mal im Literarischen Quartett : Ich glaube nicht an den großen, umfangreichen Gegenwartsroman in deutscher Sprache. Darauf antwortet man mir: aber die Buddenbrooks! Ja, es ist neunzig Jahre her. Heute können die Schriftsteller die Welt in einem Panoramaroman von sechs-, siebenhundert Seiten nicht mehr in den Griff bekommen. Ich bin von meiner These überzeugt. Sie ist so lange richtig, bis ein Roman entsteht, der sie widerlegt. (6.5.1991)

Postmoderne
Was ist ein postmoderner Roman? Bitte sagen Sie es mir! Ich weiß es nicht, ich möchte mal endlich belehrt werden, denn postmodern ist Blödsinn. Nicht in der Architektur, das ist nicht mein Gebiet. Da weiß ich nur: Es ist hässlich. Aber in der Literatur ist das der bare Blödsinn. (12.10.1989)

Qual
Der Alfred Andersch schrieb im Roman oft solche Sätze wie: Mir gelingt dieser Roman nicht, es fällt mir so schwer weiterzuschreiben, ich weiß nicht, wie ich das jetzt weiterschreiben soll. Ja, bitte, wenn's dir nicht gelingt, dann hör auf, den Roman zu schreiben und quäle uns nicht mit deinen misslungenen Werken. (12.2.1990)

Rezeptionsästhetik

Ich erwarte, dass ich nicht gelangweilt werde. Das ist mein Hauptverhältnis zur Literatur. (30.9.1988)

Schreibblockade

Manchmal ist eine Schreibblockade für die Leser ein Segen, das wollen wir nicht vergessen. (15.12.1994)

Sexualität
Es gibt ja Leute, die sagen, dass das ab und zu Spaß macht. (10.3.1989)

Tod
Wenn in einem Buch Liebe und Tod ganz stark vorkommen, wenn's ein schlechter Autor ist, dann gleitet er bei diesen Themen in den Keller und es ist nur Kitsch. Wenn's aber ein guter Autor ist, dann geht's sofort in die Höhe und ein Buch wird in dem Augenblick aufregend und interessant. (25.3.1999)

Unseld, Siegfried

Er traf mich, nahm mich in die Ecke eines Zimmers und sagte: "Ich muss dir etwas Vertrauliches sagen, nur dir sage ich es. Ich bringe im Herbst ein Buch. Das ist ein Meisterwerk, das ist ein Genie, ein Jahrhundertbuch. Und bitte denk daran, dass es ein richtiger Kritiker beurteilt. Weißt du, ich dachte an..." Und dann hatte er schon einen Namen genannt, wer vielleicht das Buch besprechen könnte. Unseld sprach mit so einer ungeheuerlichen Suggestivität auf mich ein, dass ich schon zu denken begann, das könnte ja ein interessantes Buch sein. Ich bin häufig darauf reingefallen, weil er so suggestiv sprach und mit einer solchen Kraft das Buch empfohlen hat. Wenn ich das Buch nachher gelesen habe und ihn gefragt habe: "Sag mal, unter uns, was hast du mir da angedreht? Das ist ein ganz schwaches, missratenes Buch." Kein Wort mehr, er hat schon wieder vom nächsten Buch geredet. Glücklich der Autor, der einen solchen Verleger hat! (26.12.1988)

Updike, John
Also, man lernt hier das Amerika von heute kennen. Mich interessiert das überhaupt nicht! Mich interessiert nicht, wie Amerika so aussieht! Der Mann interessiert mich als Typ überhaupt nicht, so'n kleiner Autohändler mit seinen Ambitionen, ist doch abscheulich. (8.10.1992)

Verleger
Freunde, was ist denn ein guter Verleger? Ein guter Verleger ist jemand, der ein schlechtes Buch gut verkaufen kann. (26.12.1988)

Vögeln
Also, das ist doch die Schilderung der Sexualität, wie wir sie so in der Weltliteratur noch nicht hatten. Hauptmotiv ist ein Wort, ich muss es hier aussprechen. Es gibt Kapitel, wo man unentwegt lesen muss: Wir werden ficken, wir haben gefickt, wir wollen ficken, wir wollen noch mal ficken. Das ist alles, mehr hat Updike nicht zu bieten. Manchmal kommt "vögeln". Das ist eine Abwechslung und das sieht man dann mit Freude. (24.8.1995)

Völkerkunde
Die Verleger wissen nicht mehr, was sie drucken sollen: Engländer, Amerikaner, Franzosen, Italiener reichen nicht. Jetzt kommen alle, Holländer, Dänen - und das ist gut so, dass die kleinen Völker nun auch auf dem deutschen Markt sind. (31.3.1994)

Walser, Martin

Der schreibt seit 25 Jahren einen Roman nach dem anderen. Die meisten werden von der Kritik überwiegend negativ beurteilt, viele sind total vergessen. Und zu Recht. Dennoch: Er stolpert von einer Niederlage zur nächsten und ist unaufhörlich ein bekannter, ein eigentlich immer berühmter werdender Schriftsteller. Das hat Gründe. Und einer der Gründe ist gerade das, was ihm sehr verübelt wird: dass er nicht aufhört, regelmäßig Bücher zu publizieren. (30.9.1988)

Wiederholung
Seit Jahren wiederhole ich das und ich erkläre hiermit zum 95. Mal: Jeder Roman - bitte nicht Zauberberg oder Buddenbrooks! - der mehr als 500 Seiten umfasst, ist schlecht. Bis zum Gegenbeweis werde ich das wiederholen. Kommt ein Roman von mehr als 500 Seiten und er wird gut sein, bin ich bereit, vor laufender Kamera auf die Knie zu fallen. (14.1.1993)

Zwang
Ich nörgele über die meisten Bücher, die gelesen werden. Ich kann nicht anders: Ich muss nörgeln. (9.12.1991)

Zwist
Wir werden uns nicht einigen und wir sollen und müssen uns nicht einigen. Freunde, wir sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen. (25.4.1997)

Dieses Alphabet erschien erstmals im SZ-Magazin vom 2. Juni 2000.

Fotos: dpa