Die Gewissensfrage

Die Nachbarn in der Reihenhaussiedlung möchten einen Winterdienst engagieren und die Kosten teilen, unser Leser räumt jedoch lieber selbst den Schnee weg. Muss er sich trotzdem beteiligen?

»Unsere Reihenhaussiedlung würde gern einen Winterdienst engagieren und die Kosten teilen. Ich räume aber lieber selbst, weil mir das Spaß macht. Wenn ich mich jedoch nicht beteilige, steigen für die anderen die Kosten oder das Vorhaben scheitert ganz. Muss ich mich also doch beteiligen?« Ernst B., Wiesbaden

»No man is an island – Niemand ist eine Insel«, schrieb der englische Renaissance-Dichter John Donne 1624. Nick Hornby lässt in seinem Roman About a Boy den Protagonisten Will Freeman – im Film gespielt von Hugh Grant – widersprechen: Er sei sehr wohl eine Insel, nämlich Ibiza. Bei Ihnen ist es wohl eher Grönland, da Sie gern Ihr Gespür für Schnee ausleben möchten. Scheint hierzulande doch zu drohen: Es kann der Frömmste nicht in Frieden räumen, wenn es den faulen Nachbarn nicht gefällt.

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Reihenhäuser sind Zwitterwesen. Einerseits handelt es sich um Häuser, und die sind archetypisch etwas Abgeschlossenes, Einzelnes: vier Wände und ein Dach. Andererseits haben Reihenhäuser auch etwas von einer vertikalen Wohnung, da sie – meist tiefer als breit – oft mit mehr Fläche an Nachbarn grenzen als freistehen. Dementsprechend teilen sie sich oft Erschließung und Gemeinschaftsflächen.

Das gibt das Stichwort: Gemeinschaft. Auch als rechtlicher Alleineigentümer eines Reihenhauses ist man, ob man will oder nicht, durch die Nähe zugleich Teil einer zumindest informellen Gemeinschaft. Das bedeutet nun nicht, dass in ihr das Heil läge oder Sie sich jeder Mehrheitsentscheidung beugen müssen – getreu dem Motto »Du bist nichts, deine Reihenhaussiedlung ist alles«. Die Freiheit des Einzelnen halte ich für eine der größten Errungenschaften unserer Gesellschaft. Deshalb müssten Ihre Nachbarn akzeptieren, dass es ohne Sie teurer wird. Aber falls an Ihrer Weigerung der Winterdienst für die anderen Eigentümer ganz scheitern würde, spricht aus meiner Sicht doch so manches dafür, sich zu beteiligen. Nicht zähneknirschend zwangsweise, sondern als bewusste und freie Entscheidung Ihren Mitmenschen zuliebe. Eine Denkweise, die bei aller Liebe zur Freiheit auch in anderen Konstellationen sinnvoll sein kann: No man is an island.

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Literatur:

Das Zitat „No man is an island"stammt vom englischen Renaissancedichter John Donne, der es schaffte, in demselben Absatz seiner Meditation XVII aus dem Jahr 1624 noch eine zweite Wendung für die Nachwelt zu prägen: »For whom the bell tolls - Wem die Stunde schlägt«.

„No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main. If a clod be washed away by the sea, Europe is the less, as well as if a promontory were, as well as if a manor of thy friend's or of thine own were. Any man's death diminishes me because I am involved in mankind; and therefore never send to know for whom the bell tolls; it tolls for thee."

Die gesamte Meditation kann man hier nachlesen.

Lesenswert sind in diesem Zusammenhang auch:

Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 4. Auflage 2005

Digitalisat und Volltext hier abrufbar.

Ferdinand Tönnies, Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft (Klassiker der Sozialwissenschaften), herausgegeben von Klaus Lichtblau, Springer VS, Wiesbaden 2012

Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002

Illustration: Serge Bloch