»Ich fand ihn nie nett«

Vor drei Jahren beschloss der Anwalt Geir Lippestad, den norwegischen Massenmörder Anders Breivik zu verteidigen. Er hatte Angst vor dem, was auf ihn zukommen würde. Zu Recht. Eine Nachbesprechung.

Es gibt nicht viele Momente, in denen Geir Lippestad innehält. Lang sind sie auch nicht.

Geir Lippestad ist noch nicht da. Die Kollegen in seiner Osloer Kanzlei bieten ein Glas Wasser an und gucken hilflos. Sie können auch nur hoffen, dass er kommt, sagen sie. Niemand weiß Bescheid über seine Termine. Vor drei Jahren, am 23. Juli 2011, sagte Lippestadt zu, den norwegischen Attentäter und Massenmörder Anders Behring Breivik zu verteidigen. Seitdem ist der Anwalt gefragt wie ein Filmstar.

Er kommt dann eine halbe Stunde zu spät, in einer Hand eine prall gefüllte Aktentasche, die aussieht wie eine alte Schultasche und deren braunes Leder mit den Jahren immer dunkler geworden ist. Er wirkt gehetzt, räumt ein hellblaues Hemd weg, das auf dem Schreibtisch liegt, und entschuldigt sich für die Unordnung im Büro, er war seit Tagen nicht hier, kommt gerade mit dem Auto aus dem hohen Norden Norwegens, eine weite Fahrt.

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SZ-Magazin: Sie sind aber atemlos. Arbeiten Sie jetzt mehr, nach dem Prozess?
Geir Lippestadt: Ich habe immer viel gearbeitet. Aber meine Frau würde wohl sagen, es ist mehr geworden. Ich reise jetzt viel, das kostet Zeit und Kraft. Aber ich arbeite so gern.

Würden Sie es heute wieder tun – Breivik verteidigen?
Ja. Sicher, es war ein schwieriger Fall. Aber ich glaube an den Rechtsstaat. Darum.

Wie schnell haben Sie sich damals entschieden, den Fall anzunehmen?
Es war sehr früh am Morgen des 23. Juli 2011, als mich die Polizei anrief. Wir waren in den Sommerferien segeln gewesen und erst am Abend vorher zurückgekommen. Ich wusste von der Bombe im Regierungsviertel. Dann sah ich im Fernsehen, was auf Utøya passiert war. Ich wusste, dass der Mann viele junge Menschen erschossen hatte. Und ich hatte Angst, einen Mann zu verteidigen, der so etwas getan hatte. Ich habe an meine Familie gedacht. An meine Kinder.

Wie ist es Ihren Kindern ergangen?
In den ersten Tagen wurde unser Haus mit Tomaten beworfen, und wir brauchten Polizeischutz. Zum Glück waren Schulferien, so wurde es nur für die kleinen Kinder schwierig: Die anderen Eltern im Kindergarten wollten nicht, dass unsere Kinder in den Kindergarten gingen. Aber nach ein paar Tagen hat sich die Aufregung gelegt.

Warum?
Weil die Leute verstanden haben, dass ich den Fall nicht angenommen habe, weil ich Breiviks Ansichten teile, sondern weil ich an den Rechtsstaat glaube.

Hätten Sie den falschen Beruf, wenn Sie ihn nicht verteidigt hätten?
Wenn man glaubt, dass man mit seinem Team so einen Fall schaffen kann, muss man ihn übernehmen. Meine Frau hat mir auch zugeraten. Sie ist Krankenschwester und hat mich gefragt: Glaubst du, ein Arzt sagt, ich operiere jemanden nicht, weil er ein schlechter Mensch ist?

Im Spielfilm In einer besseren Welt der dänischen Regisseurin Susanne Bier rettet ein Arzt in einem afrikanischen Flüchtlingscamp einem blutrünstigen Miliz-Anführer und Mörder das Leben – was andere Menschen das Leben kosten wird. Die Entscheidung quält ihn sehr.
Ein klassisches Dilemma. Der Arzt im Film kann nicht das Richtige tun. In unserem Fall war es kein Dilemma. Ich wusste nach ein paar Stunden, dass die Entscheidung richtig war. Weil wir einen Terroristen wie einen Menschen behandeln und seine Rechte und Würde achten müssen, denn das ist unsere Stärke. Natürlich ist seine Tat schrecklich. Aber behandeln wir ihn anders als jemanden, der zwei Menschen umgebracht hat? Oder einen Mann, der eine Frau erst vergewaltigt, dann umbringt? Wenn wir von unseren Werten abrücken, weil eine Tat besonders schrecklich ist – wer zieht wo die Grenze? Das ist eine zutiefst ethische Frage.

Björn Ihler, 22 Jahre alt, ist Breivik auf Utøya knapp entkommen. Er sagte vor Gericht, man dürfe einem wie Breivik nicht die Macht geben, das norwegische Rechtssystem und die demokratischen Prinzipien zu ändern. Das klingt fast unheimlich besonnen.
In den ersten Tagen haben alle diese Werte beschworen. Die Regierung. Das Parlament. Der König. Die Kirche. Die Journalisten. Aber vor allem haben die jungen Leute, die Überlebenden, denen, den Mikrofone vor die Nase gehalten wurden, sobald sie aus dem Boot stiegen, gesagt: Wir werden seinem Hass mit Liebe begegnen.

Wenn Sie von Anfang an überzeugt waren, dass es richtig war, ihn zu verteidigen – warum haben Sie in einem viel zitierten Interview gesagt, Sie hätten Angst, Ihre Seele in diesem Prozess zu verlieren?
Weil ich so viel Horror erlebt habe. Weil ich so viel Kummer und Leid begegnet bin. Ich habe meine Seele nicht verloren, aber ich wusste, wie schwierig es sein würde, den Opfern gegenüberzutreten in meiner Rolle. Unser Bestreben war es natürlich, Breivik so gut wie möglich zu verteidigen. Aber unser Bestreben war es auch, niemandem dabei wehzutun. Keines der Opfer unnötig leiden zu lassen, sondern ihnen den Raum zu geben, den sie brauchten. Das war ein Balanceakt, weil man als Anwalt die Zeugen ja auch benutzt.

In Deutschland läuft derzeit der NSU-Prozess. Die Zeugen, die Angehörigen der Opfer, fühlen sich nicht immer gut behandelt von den Anwälten der Angeklagten Beate Zschäpe.
Nun, Anwälte haben vor allem eine Aufgabe: ihrem Mandanten gerecht zu werden. Aber man kann sich natürlich fragen, was man den Opfern zumutet, um einen Angeklagten zu verteidigen. Wir haben darauf verzichtet, Themen wie die Sicherheitsvorkehrungen oder das Verhalten der Polizei auf Utøya zu vertiefen. Das hätte den Opfern und ihren Angehörigen unnötig Leid zugefügt und nichts zur Klärung des Falls beigetragen.

Heißt das: Wenn Sie Zeugenaussagen gebrauchthätten für Ihre Verteidigung, hätten Sie den Opfernund Angehörigen mehr zugemutet?
Das heißt: Wenn ich Menschen Leid zufügen muss, um meinen Mandanten zu verteidigen, dann bin ich dazu in der Lage, ja.

Du sitzt da, bist professionell und versuchst, nicht darüber nachzudenken, was du fühlst. Aber wenn du nach Hause kommst und deine eigenen Kinder siehst, reagiert etwas in dir.

Seltener Besuch: Lippestad im Büro. Die Kanzlei liegt in Oslos Fußgängerzone, drei Gehminuten vom Regierungsviertel entfernt.
Sie haben vor über zehn Jahren einen Neonazi verteidigt und das als traumatisch empfunden. Warum?
Der junge Mann hatte einen 15-jährigen dunkelhäutigen Jungen in Oslo umgebracht, das war der erste rassistisch motivierte Mord in Norwegen. Der Prozess lief über drei Jahre. Ich hatte schon Mörder verteidigt, aber den Neonazi hat das ganze Land gehasst. Und mich hat das ganze Land dafür gehasst, dass ich ihn verteidigt habe. Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich habe viel aus diesem Fall gelernt.

Was vor allem?
Kommunikation. Ich habe verstanden, dass man als Anwalt einen guten Ruf braucht. Die Gesellschaft muss dir vertrauen. Die Richter müssen dir vertrauen. Sonst kannst du diese Arbeit nicht machen. Als publik wurde, ich werde Breivik verteidigen, tauchten überall Bilder von mir und dem Neonazi auf. Dazu die Frage: Warum verteidigt Lippestad Neonazis? Ich habe mich sofort ganz deutlich von Breiviks Ansichten
distanziert.

Im Flur von Lippestads Kanzlei ist eine Warteecke eingerichtet, Ikeasofa, Ikeasessel, Ikeakissen, an einer Wand ein Bücherregal mit alten ledergebundenen Bänden. Dem Sofa gegenüber hängen zwei gerahmte Zeichnungen: Lippestad mit seinem Mandanten, dem damals 17 Jahre alten Neonazi Ole Nicolai Kvisler. Kvisler wurde 2002 wegen Mordes am 15 Jahre alten Benjamin Hermansen zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Weil Lippestad den Neonazi verteidigt hatte, wünschte Breivik sich ihn als Anwalt. Lippestad ist aber auch Mitglied der Norwegischen Arbeiterpartei, deren Nachwuchs Breivik in Utøya auslöschen wollte.

Sie haben auf nicht schuldig plädiert, weil Breivik darauf bestand, aus Notwehr gehandelt zu haben. Haben Sie sich manchmal gewünscht, auf schuldig plädieren zu können?
Es ist nicht mein Job, darüber nachzudenken. Wenn dieser Mandant sagt, ich plädiere auf nicht schuldig, weil ich mich selbst verteidigen musste, dann kann man das natürlich nicht ernst nehmen. Aber wenn das sein Wunsch ist, dann ist es meine Aufgabe zu sagen: nicht schuldig. In seinem Fall ging es ja vor allem darum: Ist
er verrückt oder ist er es nicht?

Sie haben zunächst versucht, ihn für unzurechnungsfähig zu erklären.
Wir haben sechs Monate damit zugebracht zu beweisen, dass Breivik verrückt ist. Ein Gutachten hielt ihn für unzurechnungsfähig. Dann erklärte er sich selbst plötzlich als zurechnungsfähig. Die Experten hatten ihr Urteil abgegeben – und er stritt das ab. Sollte ich auf ihn hören, auf das Monster? Das war ein Dilemma. Ich war davon überzeugt, dass Breivik geistesgestört ist und behandelt werden muss.

Das war nicht nur Ihre Verteidigungsstrategie, sondern Ihre Überzeugung?
Zu der Zeit war das meine Überzeugung, ja. Als er darauf bestand, gesund zu sein, zogen wir die Möglichkeit überhaupt erst in Betracht. Und nach einem Monat intensiver Beschäftigung mit ihm kamen die Ärzte und Gefängniswärter zum Schluss, dass er nicht verrückt ist. Das hieß, dass er ins Gefängnis kommen würde und nicht in die Klinik.

Was glauben Sie heute: Ist er gesund oder verrückt?
Nach der Zeit vor Gericht und den Aussagen der Ärzte und anderer Experten bin ich davon überzeugt, dass er zurechnungsfähig ist.

Sie haben sehr viel Zeit mit Breivik verbracht. Wie haben Sie sich nach diesen Treffen gefühlt?
Wenn jemand 77 junge Menschen hinrichtet, um eine politische Erklärung abzugeben, wenn dieser Mann sagt, dass es natürlich schwierig, aber notwendig gewesen sei, diese jungen Menschen abzuknallen; wenn dieser Mann detailliert beschreibt, wie er diese jungen Leute abgeknallt hat, und man ihm zuhören muss, dann fühlst du dich grauenhaft. Du sitzt da, bist professionell und versuchst, nicht darüber nachzudenken, was du fühlst. Du machst dir Notizen. Aber wenn du nach Hause kommst und deine eigenen Kinder siehst, reagiert etwas in dir. Darum habe ich versucht, diese Begegnungen aus meinem System zu kriegen, bevor ich nach Hause gekommen bin. Gehen funktionierte am besten.

Hatten Sie Angst, dass Sie Breivik durch die zwischen Ihnen entstehende Nähe mögen könnten?
Nein. Manchmal musste ich mir regelrecht ins Gedächtnis rufen: Er ist ein Mensch. Ich habe ihm die Hand geschüttelt zur Begrüßung. Nicht aus Respekt, sondern weil ich ihn wie einen Menschen behandeln wollte. Er hat keinen Anflug von Reue gezeigt. Das ist ungewöhnlich. Die meisten Menschen, die schreckliche Dinge getan haben, bereuen und suchen nach Erklärungen. Breivik hat das nicht getan. Das hat es leicht gemacht, distanziert zu bleiben.

Sie haben ihn nie sympathisch gefunden?
Wenn er über seine Schwestern oder seine Mutter gesprochen hat, dann hat er das auf eine nette Art getan. Er kann nett zu Menschen sein, das konnte man erkennen. Aber ich fand ihn nie nett.

Sind Sie zufrieden mit dem Urteil: 21 Jahre Gefängnis?
Die Norweger haben darauf vertraut, dass er eine angemessene Strafe bekommt. Er hat sie bekommen. Und mein Land war hinterher stolz darauf, dass wir diesen Verbrecher menschlich behandelt haben.

Macht Sie das alle stolz? Sie sind sehr gelobt worden dafür, wie Sie Breivik verteidigt haben.
So empfinde ich nicht. Ich hätte diese Arbeit so nicht leisten können, wenn ich nicht diese Gesellschaft im Rücken gehabt hätte. Jeder möchte doch mal ein Held sein. Ein Anwalt kann keine Heldentaten vollbringen. Die Heldentaten vollbringen die Opfer und ihre Angehörigen. Die Mütter und Väter, Brüder und Schwestern der Opfer, die im Gericht zehn Meter entfernt von ihm gesessen sind und ihn angehört haben.

Hören Sie noch von Breivik?
Ja. Er sitzt in Isolationshaft. Vor ein paar Monaten hat er uns damit beauftragt, dafür zu sorgen, dass er im Gefängnis anständig behandelt wird. Zu lange Isolationshaft macht Menschen kaputt. Wir werden weiter dafür sorgen, dass seine Rechte nicht verletzt werden.

Sie haben ein Buch über die Zeit geschrieben. Eine Rechtfertigung? Therapie?
Denke ich nicht. Natürlich ist das Buch eine Verarbeitung des Prozesses. Aber es geht mir vor allem um die Werte, die ich immer wieder anspreche. Darum, wie wir Menschen behandeln, die anders sind als wir. Wir Norweger halten uns ja für sehr offen und tolerant.

Sind Sie es nicht?
Rassismus existiert auch hier. Wir sind mit einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft konfrontiert, aber wir wissen gar nicht, ob wir der Herausforderung gewachsen sind. Jetzt leben fünf Millionen Menschen hier, in ein paar Jahren werden es sechs Millionen sein.

Sie erzählen von sich privat in diesem Buch. Von Ihrem Vater, der von heute auf morgen verarmte und sich so sehr schämte, dass er seiner Familie nicht mehr in die Augen sehen konnte. Warum tun Sie das?
Es ist so leicht, jemanden zu verurteilen, weil er nicht den Erwartungen entspricht. Aber es sind Kleinigkeiten, die dazu führen, dass jemand abstürzt. Es kann jedem passieren. An einem Tag hast du eine Familie, einen Job, ein Haus. Am nächsten Tag hast du den Job nicht mehr und bald kein Haus und keine Familie mehr. Ich finde es wichtig zu akzeptieren, dass Menschen nicht einer Norm entsprechen müssen. Wenn wir keine Toleranz üben und den Menschen nicht das Recht zubilligen, unterschiedlich zu sein und zu denken, wird das sehr gefährlich für uns.

In den letzten Minuten hat Lippestad ständig auf die Uhr geguckt. Jetzt sagt er, er sei spät dran, seit dem Morgen laufe er der halben Stunde Verspätung hinterher, habe nun einen Gerichtstermin, unverschiebbar. Er schnappt sich seine Aktentasche, stiehlt sich fast aus der halb geöffneten Tür der Kanzlei, springt die Treppen hinunter und eilt durch die Fußgängerzone zum Gericht, ein zäher Mann im blauen Jackett mit einer Aktentasche, die seine rechte Schulter etwas nach unten zieht, so schwer ist sie. Lippestad hat nichts getrunken während des Gesprächs, hat sein Jackett nicht abgelegt, keinen Kollegen begrüßt, sich von keinem Kollegen verabschiedet. Er ist nur ganz kurz aufgetaucht, richtig gesehen hat ihn keiner. Man ahnt, warum er niemanden hat, der über seine Termine Bescheid weiß. Damit er jederzeit wieder abtauchen kann.
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Geir Lippestad
ist im Juni 50 geworden, lebt in Oslo mit Meerblick, ist in zweiter Ehe mit Signe verheiratet und hat acht Kinder: zwei aus seiner ersten Ehe, vier aus Signes erster Ehe, zwei gemeinsame. Eine seiner Töchter war sehr schwer behindert, erkrankte während des Breivik-Prozesses und starb im vergangenen Jahr. Das Urteil gegen Anders Breivik wurde am 24. August 2012 nach einem zehn Wochen langen Prozess (43 Verhandlungstage) gesprochen: 21 Jahre Gefängnis. Breivik verzichtete auf eine Revision
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Fotos: Andrea Gjestvang