Eine Festung in Europa

In Berlin-Kreuzberg durften Flüchtlinge eine leer stehende Schule bewohnen. Auf die Frage, wie wir mit Asylbewerbern umgehen sollen, schien eine neue, liberale Antwort gefunden. Doch dann wurde ein junger Marokkaner von einem anderen Bewohner erstochen. Die Geschichte eines Dramas, das diesmal nicht vor Lampedusa spielt.

Er kommt zurück. Mohamed hat immer darauf gehofft, die vergangenen neun Jahre lang. Was wollte sein kleiner Bruder Anwar bloß in Europa? Früchte ernten? Da findest du in Marokko doch bessere Arbeit und kannst eine Familie gründen, hat er ihm oft gesagt. Aber Anwar wollte nicht auf ihn hören. Jetzt wartet Mohamed am Luftfracht-Terminal des Flughafens Casablanca auf ihn.

Er hat einen Krankenwagen samt Fahrer gemietet, das Auto parkt rückwärts vor der Laderampe einer grauen Cargo-Halle. Mohamed steht daneben, knetet eine Plastikwasserflasche in seiner Hand und beobachtet das Rolltor, das noch geschlossen ist. Sein Blick ist ernst, nicht traurig. Er ist der Älteste von acht Geschwistern, 49 mittlerweile, und seit der Vater gestorben ist, trägt er die Verantwortung für die Familie Rabouli.

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Mit einem Brummen öffnet sich das Rolltor, zwei Männer schieben einen Sarg hinaus, der in schwarze Plastikfolie gewickelt ist, damit kein Geruch nach außen dringt. Mohamed muss die Übergabe nur noch quittieren.

Anwar ist vier Wochen zuvor gestorben, am 25. April 2014, einem Freitag. Er wurde von einem Mann aus Gambia erstochen, vor dem Duschraum der Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg. Seit eineinhalb Jahren war dieses leer stehende Gebäude von Flüchtlingen besetzt, erst illegal, dann von der Bezirksregierung geduldet.

Die Lebensumstände in der Schule wurden von den Berliner Medien oft als Zumutung beschrieben. Es sei ein Ort außerhalb aller Kontrolle, ein »Kriminalitätsschwerpunkt«. Anwars Tod galt als tragische Zuspitzung dieser Entwicklung, und wer Schuld daran hatte, war den meisten Kommentatoren klar: der Bezirk, der seit 2006 von den Grünen regiert wird. »Ideologisch Verblendete«, die ein »Flüchtlingsghetto« errichtet haben, urteilte ein Autor in der Berliner Zeitung. Doch so einfach ist es nicht.

Zwei Monate nach Anwars Tod, im Juni 2014, wurde die Schule dann über Berlin hinaus bekannt: Mehrere hundert Polizisten belagerten das Gebäude neun Tage lang. Sie sollten es räumen, doch einige Besetzer drohten, sich dann umzubringen. Die Schule wurde zum Symbol für den Protest verzweifelter Asylbewerber. In Berlin stellt sich eine alte Frage neu: Wie wollen wir mit Flüchtlingen umgehen?

Was wollte Anwar bloß in Berlin? Mohamed dachte bis vor einer Woche, dass sein kleiner Bruder in Spanien lebt. Dann stand ein Polizist vor seiner Tür und überbrachte die Nachricht. Die Mutter ist seitdem nur noch am Weinen. Mohamed steigt in den Krankenwagen, der Fahrer rast los.

Eigentlich hatten sie Anwar schon viel früher verloren. 2005 war er illegal nach Spanien gereist; wie, hat er nie erzählt. Er war damals 22 Jahre alt. 2007 bekam er eine Aufenthaltsgenehmigung, weil er eine Spanierin geheiratet hatte, von der Mohamed nicht einmal den Namen kennt. 2011 ließ sie sich scheiden, und Anwar war wieder illegal unterwegs. Drei oder vier Mal hatte er bis dahin seine Familie in Marokko besucht und im September 2013 zuletzt bei Mohamed angerufen. Vermutlich lebte er da schon in Deutschland. Die Staatsanwaltschaft in Berlin sagt, dass Anwar unter falschem Namen einen Platz in einem Asylbewerberheim in Werdau, Sachsen, zugewiesen bekommen hatte, dort aber nie eingezogen ist. Die Mordkommission in Berlin brauchte drei Wochen, um seine Identität zu klären. Erst nachdem die Ermittler seine Fingerabdrücke nach Marokko geschickt hatten, erfuhren sie, wie der Tote heißt. Anwar hatte anscheinend gelernt, die Spuren seines alten Lebens gründlich zu verwischen.

In den vier Wochen zwischen seinem Tod und der Überführung lag er im Kühlraum eines muslimischen Bestatters in Berlin-Neukölln, und auch der sagt, dass er seit ein paar Jahren immer häufiger komplizierten Fällen wie diesem begegnet: Flüchtlinge, deren Herkunft niemand kennt, weil sie ihre Papiere weggeworfen und den Kontakt zu ihren Familien abgebrochen haben. Eine verlorene, sich verleugnende Generation. Selbst Anwars Freunde in der Gerhart-Hauptmann-Schule kannten seinen echten Familiennamen Rabouli nicht. Fünf oder sechs Monate vor seinem Tod war er dort angekommen.

Hafid hat den Streit beobachtet: Anwar steht auf dem Flur mit dem Rücken zum Duschraum, Nfamara, der Gambier, kommt auf ihn zu. Schon Minuten zuvor haben die beiden sich angeschrien. Jetzt schubst Anwar Nfamara und beschimpft ihn. Der fasst an seinen Hosenbund und hat plötzlich ein Messer in der Hand. Mehrere Male sticht er zu, Anwar stolpert rückwärts in den Duschraum hinein.

Hafids Worte überschlagen sich, wenn er von dem Streit erzählt. Er sitzt auf einer Bank auf dem Schulhof und dreht hektisch eine Zigarette. Es ist ein Abend Anfang Juni, die Zeit zwischen Anwars Tod und der Polizeibelagerung. Rechts von Hafid steht der Pavillon mit dem Duschraum, in dem die Tat geschah; links liegt der Eingang zur Schule, ein Klinkerbau, an dessen Mauern Efeu wuchert. Etwa 250 Menschen wohnen hier auf vier Etagen in 44 Räumen plus der Aula im dritten Stock. Hafid zeigt, wo er untergekommen ist.

Im Treppenhaus kleben die Schuhsohlen auf dem vor Dreck schwarzen Linoleumboden, die Wände sind mit Graffiti besprüht, in den Ecken liegt Küchenabfall: Reis und Hühnerknochen. Einige Fenster sind zerbrochen, die Toiletten gelb vom Urinstein.

Im ersten Stock leben Senegalesen, Malier und Männer aus dem Tschad, im zweiten Stock, im Mittelgang, viele Sudanesen. Wie Anwar haben sie eigentlich einen Platz in einem Asylbewerberheim irgendwo in Deutsch-land, aber 2012 sind die meisten während eines Protestmarsches nach Berlin gekommen. Damals, im Januar, hatte sich in einem Asylbewerberheim in Würzburg ein Mann aus dem Iran umgebracht, und in den folgenden Monaten demonstrierten Flüchtlinge in ganz Deutschland für eine Veränderung des Asylrechts, das sie für den Suizid des Mannes verantwortlich machten. Sie wollten nicht mehr gezwungen werden, in Heimen zu leben; sie wollten die »Residenzpflicht« abschaffen, die ihnen verbietet, einen bestimmten Umkreis ihrer Unterkunft zu verlassen; und sie wollten arbeiten dürfen. Es war der lauteste Protest, den es von Flüchtlingen in Deutschland bis dahin gegeben hatte. Im September 2012 schließlich wanderten Hunderte von ihnen zu Fuß nach Berlin, auch die Sudanesen aus dem zweiten Stock.

Ihre Heime, erzählen sie, lagen abgelegen in der Provinz. Hier wohnen sie mitten in einem pulsierenden Kiez, ganz in der Nähe des Bundestags, wo die wichtigsten politischen Entscheidungen gefällt werden. Jede zweite Woche gehen sie demonstrieren. Sie können auch selbst entscheiden, wie viele Freunde bei ihnen übernachten und wie sie ihre Zimmer einrichten, hier gibt es keinen Heimleiter, der sie kontrolliert. Wie wollen wir mit Flüchtlingen umgehen? Die Sudanesen aus dem zweiten Stock zeigen, worauf es ihnen ankommt.

Viele Flüchtlinge in der Schule sind traumatisiert. Vielen ist auch einfach nur langweilig. Alkohol und Drogen sind allgegenwärtig.

Nach ein paar Besuchen merkt man, dass sich im Inneren der Schule ein eigener Rhythmus und eine eigene Ökonomie entwickelt haben. Morgens verlassen als Erste die Romafamilien das Haus, die im ersten Stock im linken Seitenflügel leben. Die Frauen haben Glasreiniger dabei, sie gehen zur Arbeit an die Straßenkreuzungen Berlins: Für ein paar Cent putzen sie die Scheiben der meist genervten Autofahrer. Viele der Afrikaner stehen erst gegen Mittag auf. Niemand hier hat einen regulären Job, schon weil niemand eine Arbeitserlaubnis hat. Manche verkaufen Marihuana im nahe gelegenen Görlitzer Park, ein Senegalese aus dem ersten Stock schneidet in der Schule für fünf Euro Haare. Hafid hat mal gegen Geld Fahrräder repariert, bis ihm jemand sein Werkzeug stahl. Er ist erst seit sieben Monaten hier und hat anfangs in der Aula im dritten Stock geschlafen, Matratze an Matratze mit etwa siebzig Männern, auch Nfamara hat er hier kennengelernt. Die Aula ist der Ort für die Neuen und die Einzelgänger. Die Schule hat auch ohne Heimleiter eine Hierarchie.

Nach Anwars Tod ist Hafid in den rechten Seitenflügel gezogen, seine Matratze liegt auf dem Flur, in den Zimmern war kein Platz mehr. Er ist jetzt 37 Jahre alt, seine Kleidung steckt in einer Plastiktüte, und alles, was ihm wichtig ist, trägt er in einem Brustbeutel am Körper. Er schiebt sein schwarzes Polohemd nach oben, um sein Sicherungssystem zu demonstrieren: Der Brustbeutel klemmt unter einem Sport-BH, den er sich jeden Tag anzieht. »Aber ich bin nicht homosexuell!«, sagt er. Und er ist auch kein Flüchtling.

Im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention sind das nur Menschen, die vor Krieg oder Verfolgung fliehen. Sie haben Chancen auf Asyl in Europa. Hafid dagegen ist vor 14 Jahren legal in Frankreich eingereist. In seinem Brustbeutel stecken sein marokkanischer Pass und eine französische Aufenthaltsgenehmigung. Er hat in Brest Ingenieurwissenschaften studiert, war verheiratet und hat ein Kind, sagt er. Irgendwas muss dann schiefgelaufen sein in seinem Leben. Wenn Hafid von dieser Vergangenheit erzählt, brodelt es in ihm, dann bohren sich seine Finger in seine Handflächen, und er spuckt die Wörter förmlich aus. Es ist offenbar besser, ihn dann in Ruhe zu lassen.

Berlin sollte ein Neuanfang sein. Im November 2013 ist er hier angekommen, und als ihm ein paar Tage später das Geld ausging, hat ihm ein Araber von diesem Ort erzählt.

Die Schule ist über die Monate der Besetzung nicht nur für Flüchtlinge zum Rückzugsort geworden, sondern für alle Abgehängten, Abgerutschten, die das System nicht auffängt. Und nirgendwo prallen die unterschiedlichen Temperamente der Bewohner so aufeinander wie im Pavillon, gegenüber vom Hauptgebäude.

In einem der Räume findet dreimal pro Woche Deutschunterricht statt, organisiert von Studenten und Leuten aus der Nachbarschaft. Es ist eine mühsame Arbeit für Lehrer und Schüler, trotzdem kommen die meisten jede Woche wieder. Für viele Flüchtlinge ist es der erste erwähnenswerte Kontakt mit Deutschen.

Gegenüber vom Unterrichtsraum steht die Bar, die Hafid nun ansteuert. Das Bier kostet einen Euro, die Fenster sind mit Holzlatten vernagelt, an die Wände haben Flüchtlinge Bilder ihrer Heimatdörfer gemalt. Drei türkischstämmige Mädchen, 16 vielleicht, mit Kopftüchern, sitzen an einem der Tische und kiffen. Sie wohnen in der Gegend, müssen hier aber keine Sorgen haben, dass ihre Brüder oder Väter sie beim Rauchen erwischen.

Ein junger Mann aus Guinea-Bissau, Westafrika, mit Baseballmütze und Baggyhose hat an diesem Juni-Abend eine Pille genommen. Er hat noch mehr davon und bietet sie anderen Gästen an, zehn Euro das Stück: Rivotril. Das Mittel wird zur Behandlung von Epilepsie und Angststörungen angewendet, in Kombination mit Alkohol soll es glücksfördernd wie Ecstasy wirken – oder es macht aggressiv. Als der Mann kein weiteres Bier mehr bekommt, weil er schon so fertig ist, dass er seine Hose verliert, torkelt er aus dem Raum und kommt ein paar Minuten später mit einem Hammer in der Hand zurück. Zwei Gäs-te springen zwischen ihn und den Barkeeper. Die Situation beruhigt sich erst, als der DJ eine Bob-Marley-Platte spielt.

Viele Flüchtlinge in der Schule sind traumatisiert. Vielen ist auch einfach nur langweilig. Alkohol und Drogen sind allgegenwärtig.

Links von der Bar ist das Zimmer, in dem Anwar wohnte; rechts der Duschraum, in dem er verblutete.

Wenn Hans Panhoff erklärt, wie es so weit kommen konnte, erzählt er von Flüchtlingen, die auf ihrem Weg nach Europa in Wüsten verdursten oder im Mittelmeer ertrinken. Für ihn sind das die wirklich unhaltbaren Zustände, nicht jene in der Schule, für die er die Verantwortung trägt. Panhoff ist Baustadtrat der grünen Bezirksregierung von Friedrichshain-Kreuzberg. In ein paar Wochen wird er den Auftrag geben, die Schule räumen zu lassen, aber jetzt, Ende Mai, verteidigt er das Projekt noch.

Panhoff sitzt in seinem Büro im Bezirksamt, er ist 56 und war früher selbst mal Hausbesetzer, in den Achtzigern in Kreuzberg. Heute trägt er einen grauen Anzug. Als der Protestmarsch der Flüchtlinge Berlin erreichte, wollten er und seine Parteikollegen von den Grünen zeigen, dass Kreuzberg anders ist: verständnisvoller, menschlicher als der Rest der Republik.

Den Flüchtlingen wurde gestattet, auf dem Oranienplatz in Kreuzberg ein Protestcamp einzurichten. Die Menschen schliefen in Zelten, und als der Winter aufzog, brachen einige von ihnen gemeinsam mit Unterstützern aus der linken Szene Berlins in die leer stehende Gerhart-Hauptmann-Schule ein. In anderen Städten hätte die Politik spätestens jetzt die Polizei gerufen, aber in Kreuzberg duldeten sie auch diese Besetzung. »Es war Winterhilfe«, sagt Panhoff, und natürlich war es ein Signal in einer Zeit, in der die Asylbewerberzahlen rasant steigen: 2012 wurden in Deutschland rund 65 000 Erstanträge gestellt, dieses Jahr geht das Bundesamt für Migration von etwa 175 000 aus. Gleichzeitig demonstrierten in etlichen Städten Menschen gegen neu eingerichtete Asylbewerberunterkünfte, »Nein zum Heim« hieß ihre Parole. Die Europawahl im Mai machte deutlich, dass diese Angst vor den Fremden ein europäisches Problem ist.

In Kreuzberg dagegen waren die Flüchtlinge willkommen. Als es im Frühjahr 2013 wärmer wurde, lebten bereits mehr als 200 Menschen in der Schule und wollten nicht mehr gehen. Der Bezirk war zum Treffpunkt für Flüchtlinge aus ganz Europa geworden, die ihren Protest auf die Straße bringen wollten. Einige Afrikaner, die auf dem Oranienplatz zelteten, waren eigentlich in Italien registriert, weil sie mit dem Boot auf Lampedusa angekommen waren; laut den Dublin-Verordnungen der EU ist dasjenige Land für einen Flüchtling zuständig, das dieser zuerst betritt.

Wie wollen wir mit Flüchtlingen umgehen? Der Weg, den die Bezirks-regierung in Kreuzberg gewählt hat, ließ sie am Ende ziemlich allein dastehen – so wie die italienische Regierung allein dasteht, wenn Tag für Tag Flüchtlinge auf Lampedusa stranden.

Nachdem im vergangenen Jahr Hunderte Menschen vor der Insel ertrunken sind, haben die Italiener ihre Küstenwache aufgefordert, jeden Flüchtling auf jedem Boot zu retten. Und weil die Schlepper in Libyen das wissen, schicken sie jetzt noch mehr Verzweifelte in noch klapprigeren Holzkähnen auf die Reise.

Selbst in Kreuzberg kippte irgendwann die Stimmung, nachdem es rund um die Schule immer wieder zu Straftaten gekommen war, vom Fahrraddiebstahl bis zur Messerstecherei. Auch Hans Panhoff resignierte langsam an den Diskussionen mit den Besetzern, denen er sich fast jede Woche stellte, als einziger Politiker – ein Vertreter des Senats hat sich nie in der Schule sehen lassen. Die Flüchtlinge forderten von Panhoff ein Bleiberecht und Arbeit und Geld, erzählt er. »Aber das kann ich nicht leisten, ich bin Baustadtrat.«

Panhoffs Bezirk zahlt jeden Monat die Strom-, Wasser- und Heizkosten für das Gebäude, rund 10 000 Euro, und engagierte im Januar 2014 einen Sicherheitsdienst, den die Bewohner allerdings nie richtig ernst genommen haben. Aufbesserungen des Gebäudes lehnte Panhoff aber immer ab, weil er eine »Etablierung der Verhältnisse« verhindern wollte. Sein Ziel war, dass die Flüchtlinge von allein ausziehen. Weil sie es nicht mehr aushalten? Das sagt Panhoff nicht, aber man kann es sich denken. Auch neue Duschen wollte er nicht einbauen lassen, zumindest nicht auf Kosten des Bezirks.

Es gibt mehrere Theorien, warum Anwar gestorben ist. Die geläufigste ist die, dass er und Nfamara darüber stritten, wer zuerst duschen darf. Die Staatsanwaltschaft geht mittlerweile davon aus, dass Anwar schon geduscht hatte und nur noch seine Shampooflasche holen wollte, als Nfamara an der Reihe war; beide waren laut Polizeibericht zur Tatzeit bekleidet. In der Schule kursiert auch die Geschichte, dass Nfamara Anwar Geld geschuldet hat. Und ein paar von Anwars Freunden glauben, dass schwarze Magie im Spiel war. Sie fühlen sich seitdem verfolgt.

Anwar hatte die Nacht zuvor in der Bar und seinem Zimmer verbracht, das haben mehrere Bewohner bestätigt. Die Autopsie ergab, dass er mittags noch 0,7 Promille Alkohol im Blut hatte, dazu Spuren von MDMA und Ko-kain. Nfamara hatte nur ein bisschen gekifft. Mindestens sieben Mal soll er zugestochen haben, mit einem schmalen, langen Küchenmesser. Hafid glaubt, dass er das Messer dabei hatte, um sich notfalls zu verteidigen. Mehrere Flüchtlinge aus der Schule waren in den Wochen zuvor am Görlitzer Park von einem offenbar psychisch kranken Mann attackiert worden.

Nach der Tat ist Nfamara aus dem Pavillon gerannt. Um 12.25 Uhr wurde er von einem Polizisten auf der Oranienstraße gestellt, etwa 800 Meter von der Schule entfernt. Er hatte noch das Messer in der Hand, ließ es aber sofort fallen, nachdem der Polizist ihn mit gezogener Waffe dazu aufgefordert hatte. Anwar starb noch am Tatort, er hatte zu viel Blut verloren, die Rettungssanitäter konnten nichts mehr für ihn tun.

Die Mutter küsst noch einmal den Sarg, dann tragen ihn Mohamed und die anderen Brüder zurück in den Krankenwagen und fahren zum Friedhof. Schwalben schießen durch die warme Abendluft, Mohamed wirkt müde. Acht Stunden saß er heute im Auto, er wohnt in Fès, einer Großstadt 300 Kilometer östlich von Casablanca.

Anwars Familie ist nicht reich, aber auch nicht arm. Mohamed verkauft Küchenutensilien, er hat eine geräumige Wohnung mit Kronleuchtern aus Plexiglas an der Decke, die er mit seiner Frau, vier Kindern und seiner Mutter teilt. Jeden Morgen steht er um drei Uhr auf, geht in die Moschee und sitzt danach vor seinem Haus, bis der Tag anbricht, das entspanne ihn, sagt er. Es ist ein ruhiges Leben im immer gleichen Rhythmus. Vielleicht hat Anwar diese Ruhe nicht mehr ausgehalten. »Er hat immer nach Möglichkeiten gesucht«, sagt Mohamed. »Diesen Blick haben alle, die nach Europa gehen.«

Auf legalem Weg ist das für Menschen wie Anwar praktisch unmöglich. Um ein Arbeitsvisum für Deutschland zu bekommen, hätte er einen unterschriebenen Arbeitsvertrag vorweisen müssen. Die EU-Kommission hat im vergangenen Jahr eine »Mobilitätspartnerschaft« mit den Marokkanern abgeschlossen, welche die Visavergabe erleichtern soll – das gilt aber nur für Studenten, Wissenschaftler oder Geschäftsleute. Wenn in Deutschland über Flüchtlinge diskutiert wird, geht es meistens um das Asylrecht. Dabei müsste auch die Migrationspolitik im Fokus stehen, die in Europa gnadenlos kapitalistisch ist: Nur die Hochqualifizierten bekommen Zutritt – und fehlen dann in ihren Heimatländern.

»Shoot me! Shoot me!« Ihr Kopf wackelt, ihre schwarzen Dreadlocks flattern, so wütend ist sie.

Als Gegenleistung hat Marokko zugesichert, Flüchtlinge aus anderen Staaten, die über Marokko illegal in die EU gereist sind, zurückzunehmen, – obwohl es in dem Land überhaupt kein Asylsystem gibt und die meisten auf der Straße landen.

Anwar ist drei Jahre zur Schule gegangen und hat danach mit Gelegenheitsjobs sein Geld verdient. Er wusste von den Gefahren und Enttäuschungen, die der illegale Trip nach Europa mit sich bringen kann, auch in Marokko wird über die ertrunkenen Flüchtlinge im Fernsehen berichtet, und auch dort weiß man, dass so gut wie kein Marokkaner Chancen auf Asyl in der EU hat. Vergangenes Jahr wurden von 600 Anträgen in Deutschland sieben akzeptiert. Trotzdem ist Anwar gekommen, gemeinsam mit Hunderttausenden anderen. Die EU-Politik, die auf Abwehr setzt, läuft ins Leere – und zwingt Menschen wie Anwar in die Illegalität, die ein gefährlicher Ort sein kann.

Mohamed fragt sich manchmal, warum sein kleiner Bruder dachte, dass er es in Europa schafft, wo er doch schon in Marokko keinen Erfolg in der Schule und nur wenig mit seinen Jobs hatte. Oder hätte seine Familie besser auf ihn aufpassen müssen? Das Schicksal eines Flüchtlings ist immer komplex.

Nach dem Begräbnis bleibt Mohamed minutenlang allein auf dem Friedhof zurück. Er hockt neben dem aufgehäuften Erdhügel, unter dem Anwars Sarg liegt. Jetzt weint auch er.

In den zweieinhalb Monaten, die er nun in Untersuchungshaft sitzt, hat Nfamara ein einziges Mal telefoniert: mit seiner Frau in Gambia. Auch besucht hat ihn bisher niemand. Mit den anderen Häftlingen versteht er sich schon wegen der Sprachprobleme kaum: Richtig unterhalten kann er sich nur auf Mandinka, einer Sprache Westafrikas. So einsam wie jetzt, in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit, war Nfamara in seinen 40 Jahren noch nie, sagt er.

Im Besucherraum sitzen Gefangene mit ihren Familien an Holztischen, Nfamara ist der einzige Schwarze unter ihnen. Er trägt einen blauen Strickpulli, darunter das blau-weiß gestreifte Anstaltshemd. Sein Körper ist schlank, sein Gesicht rund und sanft; ein bisschen sieht er aus wie Barack Obama. Über die Tat hat er vor der Polizei noch keine Aussage gemacht, sein Anwalt hat ihm dazu geraten, und deshalb will er auch jetzt nur über sein Leben vor den Messerstichen reden.

Geboren wurde er demnach in Baddibu, einer Region nördlich des Gambia-Flusses, der das kleine Land an der Westküste Afrikas zerteilt. Sein Vater war Bauer, wie noch heute drei Viertel der arbeitenden Menschen in Gambia. Anders als Anwar hat Nfamara keine Schule besucht, sondern schon als Kind seinem Vater auf den Erdnuss- und Reisfeldern geholfen. Er kann nicht lesen und nicht schreiben.

Die Familie wohnte damals in einem Lehmhaus. Es gab keinen Strom, Wasser mussten sie aus dem Dorfbrunnen schöpfen. Nfamara erinnert sich auch an den Gebetsteppich, den sein Vater ihm geschenkt hat, aus Schafsleder. Zum Ramadan betet er in der Zelle nun auf einem Handtuch kniend.

Mit 26 zog er aus dem Dorf in die Stadt, nach Serekunda, das Wirtschaftszentrum des Landes. Er verkaufte Kleidung auf dem Mark. Das Geld schickte er seiner Frau nach Baddibu, die er kurz vor dem Umzug geheiratet hatte. Einen Teil legte er zurück. 2003, als gerade sein zweiter Sohn geboren war, hatte er umgerechnet 950 Euro beisammen, die er einem Schlepper zahlte. Die Reise führte ihn an die Atlantikküste Marokkos und dann weiter mit einem Holzboot Richtung Kanaren. Nfamara hat die meiste Zeit gekotzt auf der Fahrt, aber als das zweite Mal die Sonne aufging, kamen sie tatsächlich auf Gran Canaria an. Wie Anwar ist auch er nicht vor Krieg oder Hunger geflohen. Er war auf der Suche nach dem Glück.

Die ersten Monate verbrachte er im Flüchtlingslager, dann stellte man ihm eine Arbeitserlaubnis aus, und er ging nach Andalusien, um Gemüse zu ernten. Etwa zur gleichen Zeit stand auch Anwar auf irgendeinem Feld in Spanien.

Nur zwei Mal hat sich Nfamara in den Jahren einen Flug nach Gambia geleistet, um seine Familie zu sehen. Im Januar 2014 spülte ihn die spanische Krise dann nach Berlin. »Made in Germany«, den Spruch kannte er, so schlecht würde die Wirtschaftslage dort also nicht sein. Er flog nach Berlin und nahm eine S-Bahn Richtung Zentrum. Auf dem Alexanderplatz fragte er jemanden auf Englisch, wo sich die Afrikaner treffen. Der Mann schickte ihn in den Görlitzer Park. So fand Nfamara schließlich die Schule.

Es tue ihm leid, was er getan habe, sagt er, kurz bevor die Besuchszeit zu Ende ist. Und schlimm sei auch, dass er jetzt seine Familie nicht mehr unterstützen könne. Sein Prozess beginnt frühestens im Oktober. Die Staatsanwaltschaft will vorher ein psychologisches Gutachten von ihm erstellen lassen. Sie geht von sieben Jahren wegen Totschlags aus.

Die Polizei kommt am 24. Juni morgens um zehn, als in der Schule die meisten noch schlafen. Draußen sperren mehrere Hundert Beamte die
umliegenden Straßen weiträumig ab, drinnen laufen plötzlich Polizisten in Zivil durch die Flure. Einige tragen Mundschutz wie in einem Seuchengebiet. Die Flüchtlinge im Haus fühlen sich überrumpelt.

Hans Panhoff, der Baustadtrat der Grünen, hat sich eine stichsichere Wes-te übergezogen. Er steht vor dem Eingang zum Treppenhaus und verteilt gelbe Zettel, auf denen das Angebot seines Bezirks erklärt wird: ein Platz in einer Flüchtlingsunterkunft sowie eine Duldung für sechs Monate, in denen der Asylantrag noch einmal geprüft wird. Panhoff will das Kapitel Schule endlich beenden.

Eine Gruppe Flüchtlinge stellt sich ihm entgegen, ganz vorne Mimi, eine der wenigen Frauen, die im Haus wohnen. »Verpiss dich!«, schreit sie Panhoff an, und zu den Beamten neben ihm: »Shoot me! Shoot me!« Ihr Kopf wackelt, ihre schwarzen Dreadlocks flattern, so wütend ist sie.

Die Stimmung wird immer aggressiver, bis sich die Polizisten auf den Schulhof zurückziehen. Drinnen verbarrikadieren die Besetzer die Zugangswege. In den Flur vor dem Haupteingang werfen sie Matratzen, einer schüttet ein wenig Benzin darauf. »Nur für den Geruch, um ihnen Angst zu machen«, sagt er.

Abhauen oder kämpfen? Diese Frage muss sich jeder Bewohner nun stellen. Hafid entscheidet sich zu gehen, wie die meisten anderen. Manche werden auf ihrem Weg nach draußen von denen, die bleiben, als Verräter beschimpft.

Am Nachmittag sind noch etwa dreißig Flüchtlinge in der Schule, und das Dach wird nun zu ihrer Festung in Europa. Manche drohen zu springen, sollte die Polizei das Gebäude stürmen. Andere füllen Benzin in Flaschen. Für viele ist der Protest der letzten Jahre zum Lebensinhalt geworden, sie haben ihre Asylbewerberheime verlassen, und jetzt sollen sie wieder in so ein Heim zurück? Ohne etwas erreicht zu haben?

Um 17 Uhr erscheint Hans-Chris-tian Ströbele als Vermittler in der Schule. »Ich komme gerade aus dem Parlament, wie kann ich euch helfen?«, fragt er und nickt aufmunternd mit dem Kopf. Nasralden, einer der Sudanesen, baut sich vor ihm auf. »Was in unseren Ländern passiert, dafür seid ihr verantwortlich«, sagt er. »Wenn ihr uns jetzt aus dem Haus werfen wollt, okay, kommt doch! Wir wissen, was Krieg ist, wir haben im Krieg gelebt. Entweder du gibst uns die verdammten Papiere, oder du haust ab.«

Ströbele guckt verzweifelt in die Runde. »Das kann ich nicht«, sagt er. Papiere, also ein langfristiges Bleiberecht, könnte nur der Berliner Innensenator den Flüchtlingen gewähren, Frank Henkel von der CDU, aber der will sich nicht erpressen lassen.

In der Schule schläft in dieser Nacht kaum jemand, aus Angst vor der Polizei. Das Gebäude ist nicht nur eine Festung, sondern auch eine Falle, das merken sie jetzt. Tagsüber gehen manche bedrohlich nah am Abgrund des Daches entlang. Ab und zu wirft jemand einen Stuhl hinunter, um ein wenig Druck abzulassen. Mimi schreit morgens die Polizisten auf den Dächern ringsherum an: »Für euch gibt’s keinen Kaffee, ihr Wichser, Kaffee kommt aus Afrika!« Andere haben Gitarren und ein Schlagzeug aufs Dach getragen und spielen Musik, als feierten sie dieses Finale.

Unten auf dem Schulhof wissen Hans Panhoff und seine Kollegen vom Bezirk tagelang nicht, was sie mit denen da oben machen sollen. Sie sind so hilflos wie viele Politiker in Europa: Niemand will, dass Flüchtlinge sterben. Aber allen helfen? Wie soll das gehen?

Nach einer Woche berichten schließlich die Tagesthemen über die Menschen auf dem Dach, zumindest das haben die Besetzer geschafft: Ein Flüchtlingsdrama, das in den Nachrichten normalerweise vor Lampedusa spielt, ereignet sich jetzt in Berlin.

Am Ende einigen sich die Besetzer mit dem Bezirk auf einen Kompromiss: Sie dürfen in der Schule bleiben, während das Haus saniert wird. Der Bezirk will es zum Flüchtlingszentrum umbauen, mit 70 Schlafplätzen für Asylbewerber. Die Polizei rückt nach neun Tagen ab; ein Sicherheitsdienst soll von nun an verhindern, dass weitere Menschen in die Schule ziehen.

Hans Panhoff lebt seitdem zurückgezogen, er hat Morddrohungen erhalten, seine Partei, die Grünen, werden in Kreuzberg nun von manchen als Rassisten beschimpft. Hafid fühlte sich in der neuen Asylbewerberunterkunft anfangs ziemlich wohl. Die warme Dusche, das saubere Bett. Aber dann hatte er Streit mit seinen beiden marokkanischen Mitbewohnern auf dem Zimmer, und es brodelt wieder in ihm. Nfamara hofft, dass er nach der Haft zurück nach Spanien darf, aber vermutlich schiebt man ihn nach Gambia ab. Und Mohamed in Marokko erkennt seit Kurzem in den Augen seines Sohnes diesen unruhigen Blick, den auch Anwar schon hatte. Mohameds Sohn ist 21 und redet nur noch von Europa.

Fotos: Florian Büttner