Gegen die Wand

US-Häftlinge lassen sich vor idyllischen Malereien fotografieren. Die Traumkulissen sollen ihnen Hoffnung geben - und halten sie erst recht gefangen.

Palmen, Wasser, Sonne. Zwei kleine Mädchen posieren mit einem jungen Mann am Strand von New Jersey. Es sind Alyse und Remi Emdur mit ihrem großen Bruder Bruce. Aber sie machen nicht Urlaub. Und der Strand ist kein Strand, es ist ein Wandbild im Besucherraum eines Gefängnisses. Mithäftlinge haben das Bild auf Leinwand gemalt. So eines gibt es in fast jedem amerikanischen Gefängnis, manchmal auch direkt auf nackter Wand. Malen darf, wer’s kann. Die Regeln: keine dominanten Farben, kein Rot, Blau oder Schwarz; keine Bilder von Gewalt, keine Nacktheit, keine politischen Statements.

Das beliebteste Motiv ist die Idylle: Tropenstrand, Wasserfall, Gebirgspanorama. Nur vor diesen Kulissen dürfen die Häftlinge fotografiert werden. Das Foto zu machen kostet vier Dollar. Die Wandbilder erzeugen eine Illusion der Freiheit – und halten die Insassen doch erst recht gefangen: So ist kein architektonisches Detail zu sehen, das Fluchthelfern nützlich sein könnte.

Alyse Emdur, das kleine Mädchen vom Strandfoto mit Bruder, ist heute 31 Jahre alt und arbeitet als Künstlerin. Ihr Kindheitserlebnis brachte sie auf die Idee, aus solchen Wandbildern ein Buch zu machen: In Prison Landscapes sind rund hundert Häftlingsfotos zu sehen. Die Gefangenen hatte Emdur über spezielle Datingseiten wie writeaprisoner.com oder friendsbeyondthewall.com kontaktiert und um ein Foto gebeten. Jeder Zweite antwortete. »Es sind Menschen, die als Menschen gesehen und nicht vergessen sein wollen«, sagt Emdur. Der Häftling Antoine fügte seinem Foto eine Notiz bei: »Die Illusion von freien Landschaften dient einigen als Flucht, aber für mich ist es nur die Erinnerung daran, dass hier jeder Tag gleich traurig ist.« Alyse Emdur wiederum weiß noch gut, wie froh sie war, dass sie als kleines Mädchen aufs Foto zeigen und einfach »Das ist mein Bruder« zu ihren Freunden sagen konnte, statt ihn vor einem Gitterfenster präsentieren zu müssen.

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Emdur hat ihr Buch auch mit eigenen Fotos ergänzt. Darauf sieht man zehn Besucherräume ohne Insassen. Diese Bilder zeigen die Wahrheit neben den Kulissen: Sicherheitskameras, Spiegel, Stacheldraht. Der Strand ist weit weg.

Fotos: Alyse Emdur