Die eingebildeten Kranken

Unserer Autorin ist eine neue Art der Hypochondrie aufgefallen: die Überzeugung, als Kind unerkannt gelitten zu haben.

Ein seltsamer Wettbewerb war das, neulich beim Abendessen: Alle, die um den Tisch saßen, übertrumpften sich gegenseitig darin, wer als Kind die meisten Symptome von ADHS hatte. Alle erinnerten sich daran, dass sie extrem unkonzentriert waren, leicht abzulenken, unangemessen wütend, oft jähzornig, hibbelig, unordentlich, ungeschickt, das ganze Programm.

Und alle heißt wirklich alle. Ich also auch, volle Kanne. Eigentlich war es um Tatort contra Polizeiruf gegangen. Ich war die, die sagte, dass ich so ungefähr nur noch den Polizeiruf aus Rostock mag, sonntags aber nichts anderes als Tatort in Frage kommt. Begründung: Ich brauche Struktur, dringend. Ich fühle mich nur sicher und der folgenden Woche gewachsen, wenn ich jeden Sonntagabend das gleiche Programm durchziehe.

»Ha!«, sagte einer am Tisch. »ADHS, klare Sache. Also, wenn es die Diagnose schon gegeben hätte, als ich Kind war: Ich wär ja auch auf Ritalin gesetzt worden. Na ja, ich hab’s auch so hingekriegt.« Selbstzufriedenes Lächeln. Seine Tischnachbarin hatte ständig Unfälle gehabt, ja klar, ein so impulsives Kind. Der Nächste sprach über diese irre Rastlosigkeit, inneres wie äußeres Chaos, das sich in der Jugend in null Bock auf nichts ausdrückte. Als dann noch Rechtschreibprobleme auf den Tisch kamen, die natürlich auch nicht als Legasthenie diagnostiziert worden waren, merkten wir, dass wir vom Thema abkamen.

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Und auch wieder nicht. Denn das eigentliche Thema war ja nicht die ernsthafte Auseinandersetzung mit der einen oder anderen Krankheit beziehungsweise Störung. Das eigentliche Thema war Selbstbeweihräucherung. Da waren wir nicht weit von den Prominenten entfernt, die von ihrer verwegenen Jugend (vom Drogenkonsum bis zu Motorradstunts) erzählen.

Wir taten uns leid, so im Nachhinein: die unverstandenen Kinder, umgeben von einer feindlich gesinnten, verständnislosen, sehr strengen Welt. Wir waren gerührt, voneinander und vor allem von uns selbst. Denn wir hatten uns hingekriegt, durchgebissen, mutterseelenallein, keine Medikamente, keine Psychologen, nichts von alledem, was heutzutage aufgefahren wird, wenn ein Kind an Aufmerksamkeitsdefizit leidet. Nur die eigene Kraft, tja.

Seitdem habe ich mehrere solcher Abende erlebt. Alle schienen sie zwei sehr menschliche Bedürfnisse zu befriedigen: Ab und zu will man sich ganz allgemein großartig fühlen; und ab und zu will man im Speziellen klarmachen, dass man sich echt nicht von jeder Mode und jedem Trend einfangen lässt. Auch nicht von einer Modekrankheit.

Interessant daran ist allerdings, dass diejenigen, die am lautesten schreien, vor allem eins brauchen: Aufmerksamkeit.

Illustration: Hannah K. Lee