Papa, der Muschigucker

Unser Autor hat einen Frauenarzt zum Vater - und lange gebraucht, um damit seinen Frieden zu machen.

Wofür der Stuhl links im Bild und das Gerät in der Hand seines Vaters dienen, wusste unser Autor früh - auch wenn er das da noch gar nicht wissen wollte. (Foto:privat)

Es war ja nicht so, dass andere Väter ihr Geld auf ehrenwertere Art verdienten. Der Papa von Max versuchte im Auftrag der Tabakindustrie zu beweisen, dass Rauchen nicht gefährlich sei. Alex Vater betrieb einen Import-Export-Handel mit dubiosen Geschäftspartnern in Kasachstan, und der vom anderen Alex machte »irgendetwas mit Computern« bei »einer Firma in Pullach«, deren Namen niemand wusste. Nun ja.

Trotzdem war ich der Einzige, der nervös wurde, wenn jemand nach dem Beruf des Vaters fragte. »Er ist Arzt«, sagte ich dann und hoffte, das Thema wäre damit erledigt. War es natürlich nie. »Toll, was denn für einer?«, wollten Mitschüler, Lehrer oder Eltern von Freunden wissen, und ich nuschelte dann leise: »Gynäkologe.« War mein Freund Max in der Nähe, war er in der Regel so freundlich, das zu übersetzen: »Muschigucker, hehehehe!« War Max nicht in der Nähe, übernahm diese Aufgabe meistens ein anderer Idiot.

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Wie jeder Heranwachsende hätte ich gern einen Helden zum Vater gehabt. Einen, der als Pilot Ozeane überfliegt, als Feuerwehrmann Kätzchen von Bäumen rettet oder auf einer Baustelle einen großen Kran steuert. Aber mein Vater, da hatte Max ja recht, guckte in Muschis. In die von den Mamas meiner Freunde, in die von Lehrerinnen meiner Schule und später auch in die von Mädchen in meinem Alter.

Ich musste 32 Jahre alt werden, bis ich meinem Vater das verzeihen und wieder stolz auf ihn sein konnte. So wie ich es als Kind gewesen war, als ich glaubte, dass er irgendwie zum Bodenpersonal der Störche gehört. Er half mit, Babys auf die Welt zu bringen, das schien ein schöner Beruf zu sein: Wenn mitten in der Nacht das Telefon geklingelt hatte, saß er morgens müde, aber zufrieden am Frühstückstisch.

Ich war zehn oder elf und unterwegs zum Supermarkt, als der Gemüsehändler an der Ecke das Ende meiner kindlichen Naivität ausrief. Er erblickte mich und schwankte aus dem Geschäft – er hatte eine große Vorliebe für Obst, das vergoren oder destilliert war. »Heeeey, Doktorbub!«, krakeelte er, sodass es der ganze Ort hören konnte. »Kauf dein Zeug bei mir! Ich schick meine Alte ja auch zu deinem Vater, damit er bei ihr unten reinschaut!«

Als ich wieder nach Hause kam, blätterte ich ein wenig in den Aufklärungsbüchern meines großen Bruders. Nun wusste ich, dass mein Papa da wohl noch ein paar andere Dinge macht, als Störche zu streicheln. Mein Leben als Doktorbub hatte begonnen. Ich musste oft an dem Obsthändler vorbei, so zwei bis drei Mal täglich.

Pubertät ist Krieg, bei jedem. Doch ich kämpfte nicht nur mit den Hormonen, sondern auch mit meiner Rolle als Sohn von Papa Peinlich. Bei der Lektüre von Doktor Sommer kicherten meine Freunde, bei den Fragen, die sie dem Doktorbub stellten, lachten sie dreckig. Ob ich manchmal, hehehe, mit ins Behandlungszimmer dürfe? Ob ich da, höhöhö, eine Kamera installiert hätte? Und ob ich nicht mal, hihihahahoho, in Papas Computer gucken könne, ob die Blonde aus der Neunten es wirklich schon getan hat?

Schwieriger als diese frühfeuchten Fantasien waren die Situationen, die nicht so vorhersehbar waren. Etwa die Bio-Stunde, in der die Lehrerin die Kladden austeilte, in denen wir Herbstlaub gesammelt und getrocknet hatten. Bei meiner stockte sie. »Und wem gehört die hier?«, fragte sie und hielt den Ordner hoch, den ich benutzte, seit er vor Jahren als Werbegeschenk ins Haus geflattert war. »Der Hefter hier ohne Namen, mit der Werbung für Scheidenpilz-Creme?« Ich musste mich nicht melden, sie kam von selbst drauf.

Noch schlimmer als die Bio-Stunde war die Geburtstagsparty, auf der ich endlich meinen ganzen Mut zusammennahm. Doch das Mädchen wollte nicht mit mir tanzen und schon gar nicht mit mir gehen. Weil: »Ich bin jetzt Patientin bei deinem Dad.« Ich heulte auf dem Klo, konnte sie aber sogar ein wenig verstehen. Wer will schon seinem Gynäkologen Hallo sagen – »Ja, ja, ich vertrage die Pille gut, die Sie mir verschrieben haben« –, bevor man mit dessen Sohn hoch ins Zimmer verschwindet?

Ich konnte meinen Vater ja schlecht bitten, seine Arbeit aufzugeben, schließlich musste er unsere Familie ernähren. Aber vielleicht hätte ich ihn wenigstens bitten sollen, beim Mittagessen nicht von seiner Arbeit zu erzählen: »Ganz normale Eierstock-Amputation, plötzlich ein Problem, das reinste Blutbad / Unglaublich dicke Frau, wollte eine Spirale, wegen der gigantischen Oberschenkel bin ich kaum hingekommen / Setzt sich auf den Stuhl, seit zwei Wochen nicht mehr gewaschen, guten Appetit allerseits.« Gynäkologen-Alltag, nichts Außergewöhnliches für ihn – für mich aber die Drehbücher der Gruselfilme, die den Rest des Tages in meinem Kopf abliefen. Hatte die Chemielehrerin nicht gesagt, sie müsse noch zum Arzt, als sie den Unterricht fünf Minuten früher beendete?

Nach der Pubertät entdeckte ich die wenigen Vorteile, die das Leben als Sohn des Gynäkologen bot. Der Block mit den Blanko-Attesten unten in seinem Schreibtisch. Die Musterpackungen mit Verhütungsmitteln, die man stibitzen oder, etwas reifer geworden, höflich erbitten konnte. Der Wirt, der Grappa um Grappa um Grappa einschenkte, weil da der Sohn des Dottore bei ihm am Tresen saß, der ihn mit Anfang fünfzig zum stolzen Papa gemacht hatte. Und irgendwann stellten mir Freunde sogar Fragen, ohne ein »Hehehe« hinterher zu schicken. Ich antwortete mit dem am Mittagstisch aufgeschnappten Wissen, fast schon Doktor, ohne Bub.

Im vergangenen Jahr kamen wir uns dann noch etwas näher, mein Papa, sein Beruf und ich. Es war ungemein praktisch, Samstagabend um neun jemanden anrufen zu können, um zu fragen: »Steak halb blutig – ist das wegen der Toxoplasmose okay? Und was ist mit gegrilltem Ziegenkäse?« Meine Freundin und ich, wir kriegten ein Kind. Und hatten eine Standleitung, durch die eine beruhigende Stimme wieder und wieder sagte: »Alles gut, alles ganz normal. Keine Aufregung.«

Dann, am ersten Januar dieses Jahres, saß ich in der Hygieneschleuse eines Münchner Krankenhauses. In fünf Minuten dürfe ich in den OP, sagte die Schwester, in weiteren fünf sei ich dann Papa. Ich war fürchterlich aufgeregt und ziemlich besorgt: Der Anästhesist sah nicht nur aus wie Bastian Pastewka, er machte auch einen blöden Witz nach dem anderen. Ich selbst hatte noch einen Kater von der Silvesternacht – aber war der etwa noch betrunken? Doch dann fiel mir ein: Selbst wenn. Da drinnen ist jemand wie mein Vater. Ein Muschigucker, der zum Helden wird, wenn nachts das Telefon klingelt. Und wie hatte Papa einmal gesagt? »Ach, so einen Kaiserschnitt, den kriegt man zur Not auch noch mit zwei Promille hin.«