List und Tücke

To-do-Listen sollen helfen, im Arbeitsalltag den Überblick zu behalten. Doch tatsächlich zeigen sie vor allem, was man wieder nicht geschafft hat.

Illustration: Jean Jullien

Mist! Wieso ist dieser Artikel noch nicht fertig, sondern erst auf Zeile zwei? Und wieso musste ich vorhin acht Stockwerke zu Fuß zur Kantine runterlaufen – um nicht im Aufzug neben dem Textchef zu stehen, der seit Tagen auf den Artikel wartet? Dabei war alles so gut geplant! Vor zwei Monaten notierte ich mir »To-do-Listen-Artikel schreiben« in mein To-do-Listen-Programm auf dem Bürocomputer. Der Smartphone-Kalender mahnte jeden Montag piepend: »Heft 39: To-do-Liste!« Und in der To-do-Listen-App im Handy ist die Aufgabe gleich doppelt eingetragen, in den Unterlisten »Diese Woche« und »Arbeit«. Ach ja, handgeschrieben findet sich der Vermerk »Fertig machen: To-do-Listen-Artikel!« zudem im Tischkalender – erst mit schwarzem Kugelschreiber eingetragen (am 16., 23. und 30. Juli), dann in roten Großbuchstaben (6., 13. und 20. August) und vom 27. August an wöchentlich mit neonrotem Textmarker umrundet. Und jetzt? Erst einen Absatz geschafft.

Immerhin: Der Punkt ist in all der Zeit in den To-do-Listen geklettert. Vom entspannten vorletzten Platz (über »Keller aufräumen«) bis an die alarmierende zweite Stelle (unter »Heute! Fax ans Finanzamt!!!«). Ich habe ganz offensichtlich Probleme mit To-do-Listen. Und zwar:
1) Alle meine To-do-Listen verhinderten nicht, dass ich mit diesem Text erst im zweiten Absatz bin.
2) To-do-Listen geben mir die Illusion, produktiv und effizient zu sein.
3) Der Anblick immer länger werdender To-do-Listen entmutigt mich.
4) Ich verbringe zu viel Zeit damit, neue und scheinbar effizientere To-do-Listen anzulegen.

Die tröstende Erkenntnis, dass es anderen Menschen ähnlich geht, verdanke ich Sasha Cagen, die für ihr Buch To-Do List 600 Besucher ihrer Webseite befragt hat:
1) 23 Prozent verbringen mehr Zeit damit, To-do-Listen anzulegen und zu pflegen, als Dinge darauf zu erledigen.
2) 28 Prozent bezeichnen sich als »obsessiven Listen-Anleger«.
3) 14 Prozent geben zu, dass sie To-do-Listen anlegen, um sich vor Arbeit zu drücken.

Meistgelesen diese Woche:

Es wurden schon etliche Ratgeberartikel über die Optimierung von To-do-Listen geschrieben: »Der häufigste Fehler in To-do-Listen«, »Acht Geheimnisse der perfekten To-do-Liste«, »Wie man sein Leben endlich auf die Reihe kriegt mit einer To-do-Liste«. Sucht man auf dem Smartphone im App Store nach dem Begriff »to-do list« (die englische Schreibweise), werden 1651 Apps angeboten. Amazon bietet 13 177 Kaufartikel zur To-do-Liste, und Google findet mehr als 27 Millionen Suchmaschinenergebnisse. Bedenkt man noch all die Zeitmanagementseminare, die Firmen, Coaches und Volkshochschulen anbieten, muss man annehmen, das halbe Land verzweifle an To-do-Listen.

Das hat früher besser geklappt, wie ein Blick in die Bibel zeigt. Im Alten Testament, Schöpfungsgeschichte, findet sich die erste To-do-Liste:
Tag 1: Am Anfang schuf Gott die Welt
Tag 2: Himmel und Wolken
Tag 3: Land und Meer
Tag 4: Sonne, Mond und Sterne
Tag 5: Tiere
Tag 6: der Mensch
Tag 7: Ruhetag

Diese Mutter aller To-do-Listen wurde zügig abgearbeitet. Gott hatte aber auch keinen Vorgesetzten im Nacken, der darum bat, schnell noch am Mond einige Verbesserungsvorschläge umzusetzen. Und kein Kollege fragte, ob Gott eine Excel-Tabelle mit allen Insektenarten ans Team mailen könne. Im Büro dagegen verändert sich meine morgens stets zuversichtlich erstellte To-do-Liste laufend. Unerwartete Baustellen entstehen, nicht bedachte Nebenschauplätze lenken ab; es kann auf einem Blatt Papier schnell hässlich werden, wenn zwischen Punkt 3 und 4 noch ein 3a und b gequetscht wird. Es fühlt sich an, als würde man eine nachwachsende Felswand besteigen.

Wer versagt hier? Drei Verdächtige:
1) Meine Disziplin.
2) Das Prinzip Liste.
3) Die moderne Gesellschaft.

Ja, ich lasse mich zu leicht ablenken. Bis ich hier Absatz 8 erreicht habe, war ich auf Youtube, Süßigkeiten kaufen, auf Facebook, auf Whatsapp und am Kühlschrank.

Es kamen in der Zeit aber auch 57 E-Mails an, sieben SMS und acht Anrufe. Ich musste zu zwei Konferenzen und drei Besprechungen. Ist das Konzept »To-do-Liste« veraltet? Ist unser moderner Arbeitsalltag zu kurz getaktet und zu komplex, um von Strichpunkten beherrschbar zu sein?

»Viele Führungskräfte nehmen sich schon für den Montag mehr vor, als sie in der ganzen Woche erledigen können«, schreiben Roy Baumeister und John Tierney in ihrem Bestseller Die Macht der Disziplin. Psychologen sprechen von der »Hurry Sickness«, wenn man vor lauter Multitasking vergisst, was man überhaupt erledigen wollte.

»Wir denken immer: Je komplizierter ein Problem ist, desto komplizierter muss der Lösungsansatz sein. Falsch!«, sagt Benedikt Lehnert. Und der hat immerhin eine To-do-Liste mitentworfen, die Microsoft mehr als 100 Millionen US-Dollar wert war. Das Erfolgsgeheimnis der »Wunderlist« der Berliner Firma »6Wunderkinder« sei Reduktion, sagt Lehnert: »Wir haben nur eine Hierarchieebene und nicht unbegrenzte Ebenen von Unteraufgaben.« Nachdem ich die kostenlose »Wunderlist« herunter-geladen habe, bietet sie mir allerdings gleich zehn voreingestellte To-do-Listen an: 1) Arbeit, 2) Familie, 3) Einkaufsliste, 4) Filme, 5) Reise, 6) Privat, 7) Heute, 8) Diese Woche, 9) Eingang, 10) Mir zugewiesen. Zu jedem Punkt einer Liste kann ich Teilaufgaben und Notizen hinzufügen, Datum und Erinnerungsfunktion. Aber das ist es ja, was ich oft und gern tue, statt zu tun, was zu tun ist.

»Wir neigen leider dazu, dringliche Dinge, aber nicht wichtige Dinge zu erledigen«, sagt Lothar Seiwert, Mitautor des Buchs Simplify your life – Einfacher und glücklicher leben, das in vierzig Sprachen übersetzt und drei Millionen Mal verkauft wurde. Besonders in Asien gelte der Deutsche trotzdem als perfekt organisiert. Man sollte diesen Artikel nicht in asiatische Sprachen übersetzen. Und Asiaten nicht zu der gläsernen Bürotür hier um die Ecke führen, an der so viele Post-its kleben, dass man nicht mehr hindurchsieht.

Läuft man den Gang allerdings noch etwas weiter, kommt man zur Lösung aller Probleme: der Assistenz der Chefredaktion, zur menschlichen To-do-Liste, die in Sitzungen anklopft und »Thomas wartet schon« sagt oder »Ich hab den 11-Uhr-Termin vorsichtshalber um eine Stunde geschoben«. Könnten Computer zum persönlichen Assistenten für jedermann werden? So wie in dem oscarprämierten Kinofilm Her? Darin verliebt sich ein Mann in ein intelligentes Betriebssystem, gesprochen von Scarlett Johansson.

»Manches, was der Film zeigt, ist in absehbarer Zeit vorstellbar«, sagt Benedikt Lehnert. Der Chefdesigner der »Wunderlist« erzählt, dass die Firma an mitdenkenden To-do-Listen arbeite, die etwa erkennen, dass man im Stau steht und eine Besprechung verpassen wird – um dann selbstständig, im Abgleich mit den Kalendern der Kollegen, einen neuen Termin auszumachen. Die To-do-Liste der Zukunft könnte mich erretten – oder den Tag so effizient verplanen, dass meine To-do-Liste doppelt so lang wird.

»Beerdigt eure To-do-Listen!«, schreibt der Journalist Andreas Weck. Wirklich wichtige Aufgaben merke man sich eh. Habs probiert. Ebenfalls gescheitert bin ich mit einer »Not-to-do-Liste«, auf der all die Dinge stehen, die mir Zeit rauben, und mit der Rescue-Time-App, die das Internet für Stunden blockiert. Bald bekam ich wütende Anrufe, warum ich Mails nicht beantworte.

Und auf die immergleichen Tipps der Ratgeberliteratur war ich auch schon gekommen:
1) Wenige Punkte auf die Liste
2) Das Unangenehmste zuerst
3) Die höhere Konzentrationsfähigkeit vormittags für komplexe Aufgaben nutzen, nachmittags Kleinkram.

Und jetzt? Ich will Lothar Seiwert glauben: »Sie sind eben ein Ideen-Typ: Notorisch zu spät, aber kreativ.« Auch er sei so einer: »Ich habe immer Zeitprobleme – dabei bin ich Zeitexperte!«