Plötzlich Kummerkasten

Eine ältere Dame erzählt einem fremden Jungen an der Bushaltestelle, dass sie Krebs hat und nicht mehr lange leben wird. Der Junge ist ganz aufgewühlt. Darf man auf die Dame sauer sein?

»An der Bushaltestelle erzählte eine ältere Dame meinem Sohn, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt ist und nur noch kurz zu leben hat. Das wühlte ihn so auf, dass er Schlüssel und Geldbeutel liegen ließ. Darf ich auf die Unbekannte sauer sein, dass sie einem 14-Jährigen ihr Herz ausschüttet und ihn aus dem Gleichgewicht bringt, oder sollte ich sie bemitleiden?« CORINNA H., INGOLSTADT
Meines Erachtens hat die alte Dame falsch gehandelt. Auch wenn sie jemanden brauchte, um ihr Herz auszuschütten, sie hätte keinen fremden Jugendlichen dafür wählen dürfen, der nichts damit zu tun hat und den das belastet und überfordert. Ich glaube aber auch, dass man das der Dame schlecht vorwerfen kann, weil sie vielleicht zu schwer an ihrer eigenen Last getragen hat und ebenfalls überfordert war.

Für Sie bedeutet das, dass Sie auf der ersten Ebene ganz zu Recht sauer sein dürfen. Auf einer zweiten, reflektiven Ebene sollte es Ihnen jedoch gelingen, diesen Ärger zu dämpfen, wenn Sie über das Schicksal der Frau nachdenken. Eventuell hilft es, wenn man die beiden Probleme einander gegenüberstellt: Auf der einen Seite das Ihres Sohnes und indirekt Ihrer Familie durch die unvermittelte Konfrontation mit dem Schicksal und dem Tod. Auf der anderen Seite das der alten Dame, die nicht nur mit der Information, sondern mit dem Schicksal selbst umgehen muss. Im Vergleich verschwindet Ihr Problem nahezu.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man im Umgang mit Menschen und vor allem bei der Beurteilung von deren Verhalten weiter kommt und besser fährt, wenn man versucht, sich vorzustellen, mit welchen Problemen sie kämpfen, was sie mit sich herumtragen. Hier muss man es sich nicht einmal vorstellen, man weiß es. Das macht deren Verhalten nicht richtig, vielleicht entschuldigt es das auch nicht, aber es hilft, Verständnis aufzubringen. Was einem wiederum selbst die Situation erleichtert.

Meistgelesen diese Woche:

Sie können nun die Gelegenheit nutzen, um mit Ihren Kindern über das nicht immer freundliche Schicksal und den Tod zu sprechen, die zum Leben dazugehören. Irgendwann werden auch Ihre Kinder direkt mit beidem konfrontiert werden, und womöglich hilft es ihnen dann, sich schon einmal damit beschäftigt zu haben.

Lesempfehlungen:

Philippe Ariès, Geschichte des Todes, dtv München 11. Auflage 2005

Constantin von Barloewen (Hrsg.), Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen, Insel Verlag, Frankfurt am Main 2000

Joachim Wittkowski (Hrsg.): Sterben, Tod und Trauer, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2003

Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, zuerst erschienen in: Internationale Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse, Bd. 4 (6), 1917, S. 288-301

John S. Stephenson, Death, Grief and Mourning, Free Press, New York 2007

Neil Small, Jeanne Katz, Jennifer Lorna Hockey (Hrsg.), Grief, Mourning and Death Ritual, Open University Press, Buckingham/Philadelphia 2001

Héctor Wittwer, Daniel Schäfer, Andreas Frewer (Hrsg.), Sterben und Tod. Ein interdisziplinäres Handbuch, J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 2010

Klaus Feldmann, Tod und Gesellschaft, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2. Auflage 2010

Héctor Wittwer, Philosophie des Todes, Reclam Verlag, Stuttgart 2009

Friedrich Wilhelm Graf und Heinrich Meier (Hrsg.), Der Tod im Leben, Piper Verlag, München 2004

Elisabeth Kübler-Ross, Reif werden zum Tode, Knaur Verlag, München, 2004

Illustration: Serge Bloch