»Ich wollte erfahren, wie man fünf Millionen Menschen vergast«

Claude Lanzmann, Regisseur des berühmten Holocaust-Dokumentarfilms »Shoah«, wird 90. Im Interview spricht er über die Entstehung dieses Werks, seine Liebesbeziehung zu Simone de Beauvoir und den grundlegenden Fehler von Spielbergs Film »Schindlers Liste«.

Am 27. November wird Claude Lanzmann 90 Jahre alt.

SZ-Magazin: Herr Lanzmann, haben Sie letzte Nacht nicht gut geschlafen?
Claude Lanzmann: Ich schlafe eigentlich immer schlecht. Ich schlafwandele. Dann wache ich plötzlich auf vor Angst, etwas versäumt zu haben. Die Angst ist so stark und so greifbar, das ist eine Art Panik.

Was könnten Sie versäumt haben?
Ein Flugzeug. Ein Schiff. Ich stehe auf, ziehe mich an, aber ich weiß nicht, wo ich bin. Ich weiß auch nicht, ob ich ein Taxi rufen soll und ob ich überhaupt zum Flughafen muss. Und dann stelle ich fest, dass ich bei mir zu Hause bin und es mitten in der Nacht ist. Das ist nicht schön. Warum fragen Sie das?

In Ihrer Autobiografie schreiben Sie, dass Sie als Kind unter Alpträumen gelitten hätten. Vor allem unter einem, in dem eine Guillotine vorkommt.
Die Alpträume damals hatten ja wenigstens einen Sinn. Ich habe von der Guillotine geträumt, weil ich als kleines Kind einen Film gesehen hatte, in dem eine Guillotine eine große Rolle spielte, und das hat mich über alle Maßen beeindruckt. Aber das, was ich jetzt träume, kann ich auf nichts zurückführen. Ich weiß nicht, warum ich mich so unter Druck gesetzt fühle. Alles, was ich sagen kann, ist, dass ich es überhaupt nicht mag, mich unter Druck gesetzt zu fühlen. Einmal habe ich mich fast umgebracht in so einer Nacht. Ich stand nackt im Badezimmer und betrachtete mich im Spiegel, während ich schlief. Da muss ich ein paar Schritte rückwärts gegangen und hintenüber in die Badewanne gefallen sein. Da bin ich aufgewacht. Ich habe bis heute einen kaputten Rücken daher.

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Haben die Geschichten und Schicksale der Menschen, die Sie für Shoah interviewt haben, Sie nicht in Ihren Träumen verfolgt?
Gar nicht. Das habe ich alles in meinen Filmen verarbeitet.

Sie haben Interviews mit vielen Menschen geführt, mit Prominenten, mit Überlebenden des Krieges, mit Tätern und Opfern. Welche menschliche Eigenschaft beeindruckt Sie am meisten?
Ehrlichkeit. Ach nein, nein, streichen Sie das. Intelligenz. Und Mut. Mut finde ich bewundernswert. Ich springe aus fünf oder sieben Metern Höhe ins Wasser, weil mich das große Überwindung kostet. Ich fliege in einem Kampfjet mit, um am eigenen Leib den Blackout zu erfahren. Ich bin geritten, geklettert, getaucht, ich habe in meinem Leben immer Dinge getan, weil sie mich Überwindung gekostet haben. Ich hatte vor vielen Dingen Angst, und diese Angst wollte ich immer überwinden. Was wissen Sie eigentlich über mich? Ich meine, weil Sie mir so intime Fragen stellen?

Sie finden es intim, wenn man Sie nach den Eigenschaften fragt, die Sie beeindrucken?
Finde ich schon. Ich muss auf so etwas ja einfach gar nicht antworten.

Sie müssen auf nichts antworten. Aber Sie haben uns zu sich nach Hause zum Interview eingeladen. Also fragen wir.
Na gut, dann fragen Sie weiter.

Wovor haben Sie noch Angst, außer vor der Höhe beim Springen?
Raten Sie mal, warum meine Autobiografie Der patagonische Hase heißt: Ich bin ein Angsthase. Und wer wissen möchte, wovor ich Angst habe, kann das Buch lesen.

Sie könnten es uns auch erzählen.
Man schreibt doch Bücher, um nicht mehr über diese unangenehmen Dinge reden zu müssen. Sie dürfen sich gern aus meinem Buch bedienen. Die Angst zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Ich lese gerade alles über den deutschen Widerstand gegen Hitler. Einige dieser Männer damals waren Helden. Echte Helden. Es erforderte unglaublich viel Mut, sich den Henkern der Gestapo entgegen zu stellen. Ich bewundere solche Menschen zutiefst. Haben Sie die Filme über den Prozess gegen die Mitglieder der Bewegung vom 20. Juli gesehen? Sie dürften keine Gürtel und keine Hosenträger tragen, die Hosen rutschten ihnen vom Hintern runter, wenn sie sie nicht festhielten. Der Strafrichter war Roland Freisler, ein Bandit, ein Schurke, wie so viele Generäle der Wehrmacht. Sie haben diese Männer gefoltert und ihnen diesen entwürdigenden Schauprozess gemacht. Dann haben sie sie mit Stahlkabeln an Fleischerhaken gehängt wie Schweinehälften und ihren Todeskampf gefilmt, damit Hitler sich das ansehen konnte. Da muss man heulen.

Ist es immer noch der Zweite Weltkrieg, der Sie vor allem beschäftigt?
Er lässt viele Leute nicht los.

Sie haben für Ihre Dokumentation Shoah zwölf Jahre damit zugebracht, mit Überlebenden über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust zu reden. Mit Menschen, die eigentlich gar nicht reden wollten, weil sie Angst hatten. Wie haben Sie sie zum Reden gebracht?
Es gibt da nicht die eine Methode. Wie man auf Leute zugeht, hängt davon ab, um wen es sich handelt. Wenn ich weiß, der andere lügt, muss ich anders vorgehen als wenn ich weiß, einer ist ehrlich mit mir. Auch wenn es jemand ist, der Schwierigkeiten damit hat, offen zu sprechen. Ich meine, der SS-Mann in Shoah lügt ja ganz offensichtlich. Also habe ich ihm gesagt, ich möchte gar nicht über Sie reden oder darüber, wie Sie die Dinge sehen, erzählen sie mir einfach, was sich ereignet hat, ganz genau. Man empfindet keine Empathie mit so jemandem. Und doch fasziniert mich so einer. Es liegt auch eine Faszination im Widerwärtigen.

Ist es deprimierend, sich die Perspektive der Täter und der Mörder anzuhören?
Das trifft es nicht. Es ist nicht mein Thema, ob ich deprimiert bin oder nicht. Es geht nicht um mich. Das Wichtigste war doch, diese Menschen zum Sprechen zu bringen. Zu erfahren, was sie getan haben. Wie man fünf Millionen Menschen vergast. Wie man das rein technisch schafft. Ich wollte keine Gefühle hören, ich wollte so genau wie möglich erfahren, wie alles ablief. Ich wollte Beschreibungen, akkurate, brutale, wertfreie Beschreibungen. Räumliche und zeitliche Präzision. Dafür habe ich alles getan. Meine Gefühle haben mich dabei ganz und gar nicht interessiert. Und die Menschen haben geredet, weil sie, die heute bedeutungslos waren, über die Zeit reden durften, in der sie aktiv und wichtig waren, in der sie gebraucht wurden. Es waren gute Zeiten, wenn man so will, also habe ich sie reden lassen. Ich habe mich weder um ihre Psyche gekümmert noch um meine.

Und wie war es bei denen, denen Schlimmes widerfahren ist? Für sie muss es sehr schmerzlich gewesen sein, diese Dinge wieder zu erleben.
Ich empfand es als meine Lebensaufgabe, mit ihnen zu sprechen. Ich konnte nicht anders. Einer der wichtigsten Protagonisten aus Shoah ist sicher Abraham Bomba, der Friseur von Treblinka. Ich hatte von ihm gehört, er war Mitglied des Sonderkommandos in Treblinka gewesen und konnte 1943 flüchten. Er hatte nicht im Eichmann-Prozess ausgesagt. Ich wusste, dass er in New York lebte und hatte immer wieder versucht, ihn ausfindig zu machen. Dann fand ich ihn bei einem New York Aufenthalt fast zufällig, verbrachte zwei Tage und zwei Nächte mit ihm, ohne Kamera und Mikro und Aufnahmegerät. Ich habe nur zugehört, ich habe mir nichts aufgeschrieben, ich wusste nicht, ob ich das jemals würde aufnehmen können. Denn damals hatte ich noch kein Geld für den Film. Aber ich hatte begriffen, dass ich geduldig sein und zuhören musste und nichts von ihm wollen durfte. Zum Abschied habe ich ihn gefragt, ob er bei einem Film sein Zeugnis ablegen würde, und er sagte ja.

Sie haben ihn für den Film in einem Friseursalon für Männer interviewt. Er weint, man hält das kaum aus.
Es war lange nicht klar, dass wir in einen Friseursalon gehen würden. Er hat den Frauen und Kindern, die in die Gaskammer kamen, die Haare abgeschnitten, zwei Minuten pro Frau, vier Scherenschnitte, mehr Zeit war nicht, es waren so viele Frauen. Je näher der Film rückte, desto mehr zweifelte er, ob er es schaffen würde, das zu erzählen. Dann kamen wir auf die Idee mit dem Salon. Die gleichen Gesten und das Klappern der Schere halfen ihm, von der Gaskammer zu erzählen, sie zu beschreiben und schließlich auch zu beschreiben, was er getan hatte. Aber das Gespräch im Friseursalon kam erst drei Jahre nach unserer ersten Begegnung zustande.

Da haben Sie ihn wieder besucht?
Als ich endlich das Geld für den Film zusammen hatte, wollte ich ihn anrufen, um ihm zu sagen, jetzt ist es so weit. Aber er lebte nicht mehr in New York. Man erzählte mir, er sei nach Israel gegangen. Er war polnischer Jude, und es gibt in Israel einen Verein von Überlebenden für jede polnische Stadt. Ich wusste, dass sein Heimatort Tschenstochau war, und wandte mich an den Verein der ehemaligen Einwohner dieser Stadt. So fand ich ihn wieder, er lebte in Holon, einem Vorort von Tel Aviv. Aber es hat Monate gedauert.

Eine Frage, die immer wieder auftaucht in Ihren Texten und die Sie sich während der Arbeit an Shoah fast ununterbochen gestellt haben: Wie Sie selbst gehandelt hätten, wenn man sie gefoltert hätte.
Weil ich es wirklich nicht weiß. Zutiefst nicht weiß.

Sind solche Gespräche eine Art der Selbstfindung und der Selbstreflektion?
Ach, das ist mir alles zu psychologisch. Ich bin ein Chronist. Kein Arzt, kein Staatsanwalt, kein Richter und auch kein Nazijäger. Ich wollte die Geschichte verstehen und sie weitererzählen. Damit wir, Sie und ich, unseren Kindern weitererzählen können, was sich da ereignet hat. Damit wir das nie vergessen.

Wie jüdisch fühlen Sie sich selbst?
Wenn Sie einen Judenstern auf dem Ärmel haben und einen Stempel »Jude« im Pass, stellt sich die Frage nicht. Es interessierte niemanden damals, ob ich mich damit identifizieren konnte oder nicht. Doch dann habe ich angefangen, mich mit der Geschichte meines Volkes zu befassen. Und ich habe nie ein Geheimnis draus gemacht, dass ich als Jude Shoah gedreht und als Jude meine Bücher geschrieben habe.

In Der patagonische Hase erzählen Sie eine Geschichte, wie Ihre Mutter in Paris zu Kriegsbeginn mit Ihnen Schuhe kaufen geht. Sie lassen Sie stehen, aus Angst. Ist das ein Moment der Schwäche, der Ihnen bis heute nachhängt?
Die Schuld, meinen Sie? Ja. Meine Mutter ließ sich haufenweise Schuhe bringen, hundert Kartons oder mehr. Und sie sah sehr jüdisch aus. Sie war schon mehrmals verhaftet worden von der Gestapo, weil sie dieses extrem schöne, sehr jüdische Gesicht hatte. Und weil sie sich nicht einschränken ließ. Ich meine, hundert Schuhkartons. Ich hatte Angst. Solche Angst, dass ich weggelaufen bin und meine Mutter allein mit den Schuhkartons da stehen ließ. Ich glaube, jeder an meiner Stelle hätte genauso viel Angst gehabt. Ich war auch sauer auf sie. Auf ihren Stolz und ihr Judentum. Als Jude hat man ja oft antisemitische Gefühle. Viele Juden haben sich verleugnet. Oder sich umgebracht. Viele wollten keine Juden sein. Ich bin heute gut darin, Jude zu sein. Ich bin stolz und glücklich, Jude zu sein. Aber damals war das anders. Sartre hat sehr gut beschrieben, was es hieß, Jude zu sein. Seine Überlegungen zur Judenfrage haben wir damals alle gelesen. Es hat geholfen, sich selbst zu verstehen. Es war eine Befreiung. Auch Shoah war eine Befreiung. Für viele Deutsche auch, wie ich hoffe.

Shoah erschien 1985 und war wichtig für Deutschland. 1993 kam das Gegenstück zu Shoah in die Kinos, Schindlers Liste. Haben Sie geweint, als Sie den Film gesehen haben?
Wirklich nicht.

Finden Sie ihn blöd? Überflüssig? Ärgerlich?
Nichts von alledem. Das ist ein Ur-Konflikt zwischen Spielberg und mir. Er hat nicht richtig nachgedacht über den Holocaust und das Kino. Man kann den Holocaust nicht darstellen.

Verzichten Sie deshalb in Shoah auch auf Dokumentationsmaterial? Wenn Ihre Gespräche vor Ort stattfinden, steht da nichts mehr, die Landschaft ist leer.
Nichts dessen, was geschehen, kann dem ähneln, was man in Bildern zeigen kann. Denken Sie an die Szene in Schindlers Liste, in der die Frau in der Dusche steht und Gas erwartet, aber es kommt Wasser. Für sie kam Wasser, für Millionen andere kam Gas. Ich habe Spielberg vor zwei Jahren in Cannes getroffen, als er Mitglied der Jury war, und ihm das gesagt. Er ist sehr sympathisch. Er hat mir einen Brief geschrieben, in dem er mir Recht gibt.

Haben Sie geantwortet?
Klar. Wir schreiben uns seitdem. Er schreibt sehr schöne Briefe.

Was schreiben Sie sich so?
Wir schreiben uns jetzt auch nicht jeden Tag und schütten einander nicht unsere Herzen aus.

Was halten Sie von seiner Shoah Foundation?
Nichts. Ist mir zu amerikanisch. Diese Fragebögen. Wissen Sie, es war so schwierig, diese Menschen für Shoah zum Sprechen zu bringen, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Ich halte mehr von meinem Ansatz.

Im Jahr 1934 fanden Sie einen Abschiedsbrief von Ihrer Mutter vor, die schrieb, sie hätte keine andere Wahl und müsse fortgehen. Sie waren neun Jahre alt und haben für Ihren kleinen Bruder und Ihre kleine Schwester gesorgt. Fühlten Sie sich von Ihrer Mutter in Stich gelassen?
Gar nicht, so bin ich nicht. Ich fand sogar, dass sie richtig gehandelt hat. Es erforderte viel Mut, zu gehen und den Mann und drei Kinder zurückzulassen. Meine Mutter war eine außergewöhnliche Person. Eine Pionierin, die nicht für die Ehe gemacht war, schon gar nicht für die jüdische Ehe, die ja arrangiert war. Sie ist ohne einen Centime gegangen und hat in einer Fabrik Sardinendosen gestapelt. Sie hat sich nie beklagt.

Claude Lanzmanns Bücherregal. Das Bild oben links zeigt ihn zusammen mit Simone de Beauvoir.

Haben Sie daher eine Schwäche für selbstständige, unerschrockene Frauen?
Warum?

Sie hatten von 1952 bis 1959 ein Liebesverhältnis mit Simone de Beauvoir, während sie gleichzeitig mit Sartre liiert war. Sie haben sogar in einer Wohnung zusammen gelebt.
Simone de Beauvoir war eine tolle, sehr intelligente Frau. Sie hat mir die Welt beigebracht. Wir haben uns gut verstanden, auf siebenundzwanzig Quadratmetern. Ich bin der einzige Mann geblieben, mit dem sie ein fast eheliches Leben geführt hat. Ich fand den Altersunterschied auch nicht so riesig, sie war 17 älter als ich, mehr nicht. Ich war sehr verliebt in sie.

Was meinen Sie, wenn Sie sagen, Sie hat Ihnen die Welt beigebracht?
Sie hat mir beigebracht zu reisen. Sie hat mir beigebracht zu sehen. Sie hat mir beigebracht zu denken. Sie hat mir beigebracht zu reden, Dinge zu überdenken, zu überprüfen, miteinander zu arbeiten und die Zeit nicht auf langweiligen Abendgesellschaften zu vertrödeln. Sondern zu zweit zu sein.

Waren Sie nicht nur ein Paar, sondern auch ein gutes Team?
Ich denke schon. Wir haben über Bücher geredet, über ihre Bücher, und ich habe mir dafür viele Titel ausgedacht. Sie hat mir immer wieder Mut zugesprochen, Shoah zu machen und auch nicht aufzugeben. Das nennt man ein gutes Team, oder?

Sie werden am 27.11. neunzig. Was fehlt noch in Ihrem Leben?
Ich hätte gern einen Hubschrauber. Ich fliege zwar Segelflugzeuge, aber lieber wäre ich Hubschrauberpilot. Und ich hätte gern ein großes Schiff. Aber das sind natürlich Kindheitsträume. Wir hatten keine Spielzeuge als Kinder, darum sind diese Wünsche vielleicht immer noch so groß.

Fotos: DPA, Thomas Bärnthaler