Die Jagd nach dem Glibber

Bakterien, die sich in Pfützen sammeln - das soll man essen? In der peruanischen Küche gelten sie sogar als Delikatesse. Also hat sich unser Reporter auf die Suche gemacht. 

Der Berg ist heilig, ein Ort der Kraft, doch ich japse nach Luft. Percy Nunez führt mich durch dichte Nebelsuppe, irgendwo zwischen 4000 und 5000 Meter Höhe. Zwischendurch fallen Schneeflocken. Nunez, Ethnobiologe an der Universität Cusco, sucht mit mir »Llullucha«, gesprochen: Jujutscha. Das sind grüne, feuchte Bakterienklumpen, eine essbare Sorte Cyanobakterien – eine der ältesten heute noch existierenden Lebensformen. Vor etwa zweieinhalb Milliarden Jahren begannen Cyanobakterien mit der Fotosynthese und brachten damit überhaupt erst größere Mengen Sauerstoff in die Erdatmosphäre. Freundlich betrachtet, erinnern die kleinen Schleimkugeln an Kaviar. Andenbewohner schätzen sie seit Jahrtausenden als eiweißhaltigen Snack auf Wanderungen in großer Höhe. Den könnte ich jetzt auch gebrauchen, doch daran ist gerade nicht zu denken. Wir sehen kaum bis zu unseren Füßen. Nunez wirkt entspannt, er liebt die Landschaft hier oben, seine Laune ist glänzend. Manchmal verbringt er die Nacht auf einem der Felsen, um Api Pachatusan nahe zu sein, so heißt der heilige Berg.

Einige Monate zuvor hatte ich einen Küchenchef aus Lima, Virgilio Martinez, im Salzburger Restaurant »Ikarus« kennengelernt. Im »Ikarus« kocht jeden Monat ein anderer Gastkoch, Martinez stellte dort seine moderne peruanische Küche vor, die er in seinem »Central Restaurant« in Lima kreiert hat. 2014 und 2015 wurde Martinez zum besten Koch Lateinamerikas gewählt, in der Weltrangliste von San Pellegrino steht er auf Platz vier. Seine Vorbereitungen auf Salzburg waren nicht ganz einfach gewesen, viele peruanische Zutaten sind in Österreich schwer zu bekommen. Doch alles hatte geklappt, sogar die Kokablätter fürs Dessert passierten als Kräutertee die Kontrollen. Nur eine wichtige Zutat fehlte: Eben Llullucha, die Bakterien müssen sehr frisch sein, waren aber nicht rechtzeitig durch den Zoll gekommen. Martinez kombiniert Llullucha mit »Tunta«, natürlich fermentierten und auf dem Acker gefriergetrockneten Kartoffeln aus der Hochebene um den Titicacasee. Llullucha heißen die Bakterien auf Quechua, der Sprache, die viele Nachkommen der Inka heute noch sprechen.

Virgilio Martinez ist mit seiner Küchenchefin Maria Pia Leon verheiratet. Leon ist eine der ganz wenigen Frauen unter den berühmten Köchen der Welt. Nach außen repräsentiert meistens Martinez die gemeinsame Kochkunst, Leon dirigiert dann das Restaurant in Lima. Der 38-Jährige ist nicht sehr groß, schmal, mit freundlichen, dunklen Augen. Als Jugendlicher war Martinez Skater, an der Schwelle zum Profi. Später langweilte ihn ein Jurastudium, Martinez begann zu kochen. Doch so lässig er wirkt: »Wenn es um die Sache geht, bin ich sehr streng«, betont er. Und als ich in Salzburg sah, wie er sogar ein ganz kleines Aloe-Vera-Süppchen auf einer Präzisionswaage anrichtete, glaubte ich ihm sofort. Martinez Essen war fantastisch, von den hauchdünnen Crackern aus Algen und Chiasamen bis hin zum Ceviche mit Jakobsmuscheln und knusprigem Quinoa. Martinez verwendet viele Zutaten, die heute als sogenanntes Superfood gelten, besonders nahrhafte und gesunde Lebensmittel, schließlich ist Peru die Heimat von Quinoa, Maca, Lucuma. Von Früchten wie der Bananenpassionsfrucht »Tumbo« hatte ich noch nie gehört. »Chaco« klang für mich nach Kampfsport, ist aber eine Tonerde. Mit ihr würzt Martinez ein Baiser, zusammen mit einem zartgrünen Biskuit aus den Kokablättern krümelt er das Tonerde-Baiser über eine Kaffeecreme. Nur wie Llullucha schmeckt, erfuhr ich in Salzburg leider nicht.

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Das Menü im »Central Restaurant« in Lima ist nach Mikroklimazonen in verschiedenen Höhenlagen aufgebaut, so erklärte mir Martinez sein Konzept. Davon gibt es in Peru zwischen Machu Picchu und dem Amazonasdschungel mehr als in jedem anderen Land der Erde. Immer wenn Martinez ein neues Rezept entwickelt, beginnt er eine Zutat aus einer bestimmten Höhenlage zu erforschen. Damit kombiniert er andere Früchte oder Gewürze aus demselben Gebiet, und so entsteht allmählich ein neues Gericht.

Um diese Gruppen von Zutaten zu finden, hat Martinez zusammen mit seiner Schwester Malena eine Art Forschungsabteilung gegründet. Sie nennen es Mater iniciativa, Mutterinitiative, es geht ihnen um die Früchte ihres Mutterlandes. Malena Martinez ist Ärztin. Mit Biologen, Anthropologen, Fotografen, Übersetzern und Köchen organisiert sie die Expeditionen in Peru. Llullucha fand die Gruppe in den Anden, nicht weit von Cusco, in über 4000 Meter hoch gelegenen Feuchtgebieten. Immer wenn es regnet, bilden dort Cyanobakterien Gelkugeln mit dem Regenwasser. Man findet die Bakterien dann in kleinen Tümpeln oder großen Pfützen. Die Bakterien seien supergesund, erzählte mir Martinez in Salzburg. Warum ich nicht nach Peru käme? Dort könne ich Llullucha probieren.

Lima, ein paar Monate später. Die Martinez-Geschwister haben schon wieder neue Früchte, Knollen und Samen für das »Central Restaurant« gefunden. Die Suche nach neuen oder vergessenen Produkten in ihren kulturellen Zusammenhängen unterscheidet das »Central« von anderen Spitzenrestaurants. Und wenn der beste Koch des Landes eine neue oder ungewöhnliche Zutat verwendet, bedeutet das viel in Peru. Manchmal entstehen durch Martinez Vorbild in abgelegenen Dörfern neue Geschäftsmodelle mit Lieferketten, die einheimische Produkte bis auf die Märkte der Hauptstadt bringen. Noch vor wenigen Jahren waren zum Beispiel Kartoffelbauern in den Anden arm und galten als rückständig. Heute seien sie stolz auf ihre große Sortenvielfalt und ihre naturnahen Anbaumethoden, erzählt Malena Martinez. Dabei haben natürlich auch andere peruanische Spitzenköche geholfen, vor allem in Lima stehen seit einigen Jahren sehr neugierige, experimentierfreudige Köche am Herd.

Jetzt ist Mater iniciativa dabei, ein Institut zur Analyse einheimischer Knollengewächse zu gründen. Olluco, Oca oder Mashua sind bunte Knollen aus der Sauerkleefamilie. Sie schmecken fein und helfen dem Stoffwechsel. Es kann gut sein, dass sich die gesunden Knollen bald über die Welt verbreiten, so wie vor ein paar Jahren Quinoa. Auch mancher skandinavische oder amerikanische Koch betreibt einen großen Rechercheaufwand, doch in den reichen Industriestaaten hat das nicht diese direkte soziale Wirkung wie in Peru.

An diesem Abend im »Central Restaurant« in Lima probiere ich endlich Llullucha – mit einer Creme aus fermentierten Kartoffeln, tiefschwarzen Kartoffelchips-bröseln und knusprigem Kartoffelstroh aus einer dunkelvioletten Kartoffelsorte. Die kleinen Bakterienkugeln platzen am Gaumen, ähnlich wie Kaviar. Sie schmecken frisch und klar und irgendwie – grün. Die Kartoffelcreme duftet zart nach Käsefüßen, dazwischen ist ein Stück Kabeljau versteckt, und das alles passt erstaunlich gut zusammen. Aber nach dem Essen bin ich noch nicht zufrieden. Ich will unbedingt selbst sehen, wo Llullucha wächst. Die Martinez-Geschwister schicken mich auf die Reise nach Cusco, in das »Hotel Inkaterra La Casona«, dort werde man schon wissen, wo Llullucha selbst während der Trockenzeit zu finden sei.

Die ehemalige Hauptstadt des Inkareiches liegt zwei Flugstunden südöstlich von Lima, in einem weiten Tal mitten in den Anden, über 3000 Meter hoch. Die Luft ist dünn, das spüre ich bei jedem Schritt. Die Chancen, Llullucha zu finden, stünden nicht besonders gut, es habe seit Monaten nicht geregnet, erklärt Percy Nunez. Trotzdem geht er mit mir auf die Exkursion, vielleicht haben wir ja Glück.

Nunez kennt Llullucha schon von seiner Großmutter. Sie hatte die Gelklumpen gesammelt, getrocknet und der Familie damals nach Lima geschickt. Dort gab es dann eine Suppe aus andinen Lupinen mit dem wieder eingeweichten Llullucha – als Gericht für besondere Anlässe. Wenn die Gelkugeln nicht für die Trockenzeit oder für Verwandte in der Großstadt dehydriert wurden, hätten sie als Kinder auch Murmeln damit gespielt, erzählt Nunez. Manchmal isst er auf seinen Wanderungen heute noch Llullucha, direkt aus dem Wasser, aus einer Pfütze oder einem Teich.

Wir machen uns auf den Weg zum Api Pachatusan. Die Landstraße entpuppt sich als Feldweg und endet irgendwann im Nichts. An den niedrig gelegenen Hängen sehen wir noch Lamas, bald verschwinden sie mit dem Rest der Welt im Nebel.

Nunez studiert Pflanzen und Tiere der Anden – auch mit Hilfe von Pollenanalysen in den Sedimenten hochgelegener Bergseen. Dort kann Nunez herausfinden, wie die Vegetation vor Jahrtausenden aussah. Die Anden waren damals wohl von Urwald bedeckt – bis die Inkas den Wald verheizten, ähnlich wie die Römer in Italien.

Ich schnappe nach Luft. Irgendwo, nicht weit unter dem Gipfel, legt Percy Nunez eine selbst gewebte, selbst gefärbte Inkakluft an. Er stellt sich auf einen Felsbrocken und beginnt einer kleinen Flöte kreischende Geräusche zu entlocken – um die Andengänse auf unser Kommen einzustimmen. Nunez lädt mich ein, auf eine rituelle Weise Kokablätter mit ihm auszutauschen, um den Berg zu grüßen und freundlich zu stimmen. Kokablätter sind harmlos und außerdem gut gegen Höhenbeschwerden. Trotzdem weiß ich nicht so recht, was ich davon halten soll. Kurz nach der kleinen Zeremonie reißt jedoch der Nebel auf, wir stehen praktisch direkt neben einem Tümpel – und der ist voll mit Llullucha. Ein mystischer Moment. Kurz davor haben Lamas hier getrunken, wir sehen viele ihrer Fußabdrücke. Wir ziehen unsere Schuhe aus, stapfen in den eiskalten Schlamm und sammeln Schleimklumpen. Manche von ihnen sind schon größer, mit einer ledrigen Haut, manche noch klein und zart. Sie schmecken nicht ganz so fein und frisch wie in Martinez Restaurant, dafür ein bisschen nach Lama, bilde ich mir ein. Großartig.

Fotos: Hans Gerlach, Gustavo Vivanco, mauritus images/Alamy