Die Rache der Petzen

Alles kann man heute im Internet bewerten, selbst den Obstsalat am Frühstücksbuffet. Unser Kolumnist dreht nun den Spieß um und bewertet die Bewertungskultur - mit überraschendem Ergebnis.

Seit einer Weile bekomme ich, nachdem mein Wagen in der Werkstatt war, zwei Anrufe. Der erste kommt von dem Angestellten, der sich um mein Auto gekümmert hat. Er kündigt den weiteren Anruf eines Umfrageinstituts an, mit dem ich um eine Bewertung seiner, also des Angestellten, Leistung gebeten würde. Dann sagt er: »Wenn es Ihnen möglich wäre, mit ›hervorragend‹ zu antworten, das wäre sehr nett. Es gibt auch ›sehr gut‹, ›gut‹ und so weiter, aber das zählt nicht. Beim Chef ist ›hervorragend‹ das Einzige, darunter gibt es Ärger.« Dann kommt der Anruf des Umfrageinstitutes. Ich denke: Was tun? »Hervorragend« war es nicht, eher »sehr gut«, aber ist es das wert, dass der arme Mann Ärger hat, er hat sicher Familie, er machte einen gestressten Eindruck, möchte ich, dass er so unter Druck gerät? Aber soll ich lügen, bloß weil der Mann mich mit seinem Anruf ja auch unter Druck gesetzt hat? Es ist doch gut, wenn eine Firma wissen will, ob ihre Kunden zufrieden sind. Wiederum andererseits: Wenn der Mann sich schon so erniedrigt, dass er mich um eine gute Note anfleht, muss sein Leben hart sein. Was ist denn das für eine Firma? Was ist da los, hinter den Kulissen?

Herrjemine, ich wollte nur mein Auto zurück!

Aber so einfach sind die Dinge heute nicht mehr. Wir leben in einer Bewertungswelt, überall sondert der Mensch im Internet seine Urteile ab, vom einfachen »Gefällt mir« auf der Facebook-Seite eines fränkischen Kreistagsabgeordneten bis zu umfangreichen Rezensionen des Obstsalats auf dem Frühstücksbuffet des »Sheraton«-Hotels in Offenbach. Schon die Buchung eines einfachen Hotelzimmers kann einen in Grübeleien stürzen: Da sind einerseits herrliche Elogen, die Freundlichkeit und Hingabe des Personals betreffend, die Üppigkeit der Mahlzeiten und den erlesenen Geschmack des Innenarchitekten, von der sterilen Sauberkeit der Bäder gar nicht zu reden. Andererseits finden sich auf derselben Seite über dieselbe Unterkunft wortgewaltige Schimpfkanonaden zu den Themen: Gleichgültigkeit und Indolenz der Bediensteten, inakzeptables Preis-Leistungs-Verhältnis im Restaurant und Farbenblindheit des Dekorateurs. Was die Kakerlakenscharen im Bad betreffe – ob es eigentlich noch Gesundheitsämter gebe?! Was mag da stimmen? Stammt alles Positive von einer bezahlten Claque des Hoteliers? Alles Schlechte aus den Federn gedemütigter, rachsüchtiger Autohausknechte?

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Neulich las ich, in Abu Dhabi könne ein Taxi-Fahrgast während der Fahrt mit Hilfe von Smileys auf einem Bildschirm in der Kopfstütze des Fahrers denselben bewerten. Das darf man Fortschritt nennen in einem Land, in dem vor Jahren ein Mitglied der herrschenden Familie einen Getreidehändler, mit dem er unzufrieden war, eine Dreiviertelstunde lang mit Elektroschocks und Nagelbrett-Schlägen folterte. In anderen Ländern ließe sich einwenden: Wie wäre es, man sagte dem Fahrer, wenn einem was nicht passt? Das kann man machen, nützt aber nichts, wenn man zufällig in Frankfurt am Main ist und der Fahrer nur einen nordtürkischen Dialekt spricht, ja, nicht mal weiß, wo sich das Städel-Museum befindet – was ungefähr so ist, als hätte ein Chauffeur in Füssen nie von Neuschwanstein gehört. In solchen Fällen neigt man doch dazu, dem Chef der Taxi-Zentrale ein Wörtchen zu schreiben oder wenigstens mit der Faust auf einen Smiley in der Kopfstütze des Fahrers einzuschlagen.

Sagen wir es so: Dieser ganze Bewertungskram ist nichts anderes als die Rache der Petzen, Feiglinge, Konfliktscheuen und Schüchternen an denen, die glauben, sie könnten mit den Petzen, Feiglingen, Konfliktscheuen und Schüchternen Schlitten fahren. Es ist zum einen eine verachtenswerte Idiotie, zum anderen aber nützlich und sinnvoll. Fragt man mich nach meiner Meinung, gebe ich dieselben Noten ab wie über das ganze Leben: hervorragend und unbefriedigend zugleich.

Illustration: Dirk Schmidt