Arzt ohne Grenzen

Christoph Klein, der Direktor des Haunerschen Kinderspitals in München, ist ein Star seiner Branche. Seine Karriere verlief steil, er gilt als exzellenter Wissenschaftler mit viel Ehrgeiz. Zu viel? Jahrelang hat Klein eine experimentelle Studie vorangetrieben. Mehrere Kinder, die er behandelt hat, sind inzwischen gestorben. Eine Geschichte über Forscherdrang und seine Folgen

English version here

Liebe Leserinnen, liebe Leser des SZ-Magazins,

die folgende, aufwändig recherchierte Geschichte des SZ-Redakteurs Johannes Boie über eine wissenschaftliche Studie des Münchner Arztes Dr. Christoph Klein erschien am 22. April 2016 im SZ-Magazin.

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Dr. Klein wurde für diese Forschungsarbeit vielfach ausgezeichnet, 2010 erhielt er mit dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis den wichtigsten Forschungsförderpreis Deutschlands. 2011 wurde er zum Direktor des Dr. von Haunerschen Kinderspitals in München berufen.

Allerdings sind die Folgen der Studie verheerend. Zehn Kinder, die an dem lebensbedrohlichen »Wiskott-Aldrich-Syndrom« erkrankt waren, wurden von Dr. Klein gentherapeutisch behandelt. Acht der Kinder sind in Folge der Studie an Leukämie erkrankt, drei sind gestorben.

Dr. Klein ist juristisch gegen die Veröffentlichung unserer Geschichte vorgegangen. Er wollte sieben Punkte der elf Seiten langen Geschichte rechtlich untersagen lassen. In fünf Punkten gab ihm das Landgericht Hamburg in einer einstweiligen Verfügung Recht. Dagegen legte das SZ-Magazin am 24. Mai 2016 Widerspruch ein. Das Landgericht Hamburg hat mit seinem Urteil vom 19. Juli 2016 verfügt, dass diese fünf Punkte weiterhin nicht verbreitet werden dürfen.

Der inhaltliche Kern der Geschichte, an der Autor und Redaktion über zwei Jahre lang mit großer Sorgfalt gearbeitet haben, bleibt dabei unberührt. Wir halten die Veröffentlichung weiterhin für richtig. Wir haben uns entschieden, Ihnen den Text ab sofort online kostenlos lesbar zur Verfügung zu stellen. Um möglichst transparent zu machen, welche Textstellen auf richterlichen Beschluss hin geändert werden mussten, haben wir diese gekennzeichnet.

Da die verheerenden Folgen der Studie und unsere Berichterstattung darüber auch im Ausland für große Aufmerksamkeit sorgen, haben wir den Text um eine englische Fassung ergänzt.

Eine Link-Sammlung am Ende des Textes führt zu weiteren Veröffentlichungen von ZEIT, Spiegel Online und der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, in denen über unsere Recherchen und die Folgen geschrieben wurde.

Im Anschluss an unsere Berichterstattung haben sowohl die LMU München als auch die Medizinische Hochschule Hannover, wo Dr. Klein die Studie begann, Prüfungskommissionen eingesetzt.

Die Kommission in München hat ihre Untersuchungsergebnisse am 17. Juli 2017 präsentiert und kommt zu dem Ergebnis, dass es »keinen Anhaltspunkt für ein wissenschaftliches, ärztliches, rechtliches oder ethisches Fehlverhalten von Prof. Dr. med. Dr. sci. Christoph Klein« gebe. Diesen Abschlussbericht kommentieren unter anderem die Süddeutsche Zeitung und die ZEIT.

Der Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der Medizinischen Hochschule Hannover erklärte auf Nachfrage des SZ-Magazins am 17. Juli 2017, dass die Untersuchungen der Kommission dort noch nicht abgeschlossen seien. Wann dies der Fall sein wird, könne er nicht sagen. Wer dieser Kommission angehört, könne er ebenfalls nicht sagen.

Das SZ-Magazin wird den Fall selbstverständlich weiterverfolgen.

Michael Ebert
Chefredaktion SZ-Magazin

Als Mahmoud im September 2004 geboren wird, ist er schwer krank. Seine Eltern sind Syrer, aber die Familie lebt in Kuwait. Die Eltern von Mahmoud, der in Wahrheit anders heißt, sind Gastarbeiter. Es dauert, bis die kuwaitischen Ärzte begreifen, woran Mahmoud leidet, denn seine Krankheit ist extrem selten. Nur Jungen können sie haben, im Durchschnitt einer von 250 000. In Deutschland gibt es nur etwa drei Dutzend Jungen mit dieser Krankheit.

Neun Jahre später wird Mahmoud sterben, aber nicht unmittelbar an seiner Krankheit. Bevor man die Geschichten von Mahmoud, seinem ehrgeizigen jungen Arzt und den anderen toten Kindern verstehen kann, muss man ihren gemeinsamen Gegner kennen: das Wiskott-Aldrich-Syndrom, kurz WAS. Ursache dieser Krankheit sind Mutationen in einem bestimmten Gen, im Wiskott-Aldrich-Syndrom-Gen. Der deutsche Arzt Alfred Wiskott hat das Leiden 1937 entdeckt. Kinder mit WAS leiden, je nachdem, wie schwer ihre Krankheit ist, an Blutungen und Infektionen, Ekzemen und Gefäßentzündungen. Manche bekommen Lymphdrüsenkrebs oder Blutkrebs. Wenn ein Kind nicht behandelt wird, kann es als Baby sterben, manche erreichen das Teenager alter, wenige werden erwachsen. Im Jahr 2004, als Mahmoud auf die Welt kommt, wird WAS in Industrienationen fast immer mit einer Stammzellentransplantation behandelt. Das bedeutet, dass einem Patienten die Stammzellen eines anderen Menschen injiziert werden. Mit dieser Methode behandelt man auch Blutkrebs. Es ist eine anstrengende, brutale Therapie. Erst löschen die Ärzte die eigenen Stammzellen des Patienten mit einer Chemotherapie aus, dann transplantieren sie ihm Stammzellen des Spenders. Das geht nur, wenn die Stammzellen des Spenders zu denen des Patienten passen. Ärzte prüfen dies anhand zehn verschiedener Merkmale, die sie beim Spender und beim Empfänger vergleichen. Die Suche ist oft langwierig. Im besten Fall passen alle zehn Merkmale. Ist ein solcher idealer Spender obendrein mit dem Empfänger verwandt, gehen neunzig Prozent der Transplantationen gut, und die Patienten sind langfristig gesund. Fremde Spender, bei denen ebenfalls zehn Eigenschaften zum Empfänger passen, werden oft als »genetische Zwillinge« bezeichnet. Finden die Ärzte für einen Jungen, der an WAS leidet, einen »genetischen Zwilling«, stehen die Chancen noch bei bis etwa achtzig Prozent, dass die Transplantation erfolgreich sein wird.

Vielen Wiskott-Aldrich-Patienten geht es nach den Stammzellentherapien viel besser als zuvor. Ihre Lebenserwartung steigt um Jahrzehnte, manche empfinden sich als vollständig gesund. Allerdings gibt es noch heute - wenn auch sehr selten - Patienten, die nach der Stammzellentransplantation sterben, vor allem, wenn Spender und Empfänger nicht gut passen.

Mahmouds Leben nimmt jedoch eine andere Wendung. Sein Arzt hört, dass Mediziner in Hannover eine neue Behandlung für WAS-Kinder entwickeln. Diese Spezialisten wollen die Krankheit an jener Stelle behandeln, an der sie entstanden ist: in den Genen. Dafür werden dem Patienten nicht Stammzellen eines anderen Menschen transplantiert, sondern man greift in seine eigenen Stammzellen ein, in denen seine Gene liegen. Damals wurde diese neue Therapie noch bei keinem Wiskott-Aldrich-Patienten versucht. Deshalb erfolgt die Behandlung in Form einer Studie. Um an der Studie teilzunehmen, muss ein Patient einige Kriterien erfüllen. Er muss zum Beispiel älter als ein Jahr sein, seine Krankheit muss, was die Ausprägung betrifft, ein »klassisches Wiskott-Aldrich-Syndrom« sein. So steht es im Protokoll der Studie. Darin ist genau definiert, was während der Behandlung geschieht. Ein Studienprotokoll enthält auch ethische Erörterungen und definiert den Zweck der Studie. Mahmoud erfüllt alle Kriterien. Seine Eltern unterschreiben eine Einverständniserklärung, acht Seiten Text. Darin geht es um die Krankheit, die Gefahren und Möglichkeiten der Gentherapie, selbst um die Versicherung. Auch die Alternative, fremde Stammzellen zu transplantieren, wird darin erläutert, allerdings nur in wenigen Zeilen. Der Arzt Christoph Klein betont, dass er den Eltern der Patienten vor deren Entscheidung zur Durchführung der Gentherapie persönlich die in der schriftlichen Einverständniserklärung vorgestellte Behandlungsalternative, fremde Stammzellen zu transplantieren, erläutert hat. Mahmouds Eltern entscheiden sich für die neue Gentherapie. Im November 2009 wird er in Deutschland behandelt. Mahmoud ist fünf Jahre alt. (1)

Auch andere Eltern lassen sich von der Gentherapie überzeugen. In Bünde, Nordrhein-Westfalen, weckt Svenja Höke im November 2008 ihren Sohn Tom, eine Woche nach dessen zweiten Geburtstag. Toms Tränenflüssigkeit ist blutig. Im Krankenhaus in Minden sagt die Ärztin, sie habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute: Toms Knochenmark sei in Ordnung. Die schlechte: Die Ärztin habe keine Ahnung, was dem Kind fehlt. Die Hökes landen schließlich bei einem Professor in Bremen, der ihnen sagt: »Ihr Sohn hat Wiskott-Aldrich. Wir machen noch eine Untersuchung. Googeln Sie das nicht gleich.«

Die Hökes fahren nach Hause und googeln. Sie lesen, dass ihr Junge vielleicht nur noch ein paar Jahre zu leben hat. Der Professor aus Bremen erzählt ihnen von der Studie in Hannover. Und ein paar Tage später fährt Svenja Höke mit Tom nach Hannover, in die Kinderklinik der Medizinischen Hochschule.

Gentherapie ist vielleicht das größte medizinische Versprechen der Geschichte: Krankheiten sollen behoben werden, wo sie ihren Ursprung nahmen, in den Genen der Patienten. Vorbei an den Symptomen, direkt zur Wurzel. Gentherapie ist ein Heilsversprechen. Für Patienten wie Mahmoud, deren Krankheiten so selten sind, gilt das besonders. Denn seltene Krankheiten sind kaum erforscht. Für 7000 Krankheiten gibt es nur 120 Medikamente. In Deutschland sterben jährlich rund 3000 Kinder an seltenen Krankheiten. Dass Ärzte oft kaum helfen können, liegt auch daran, dass es zu wenige Patienten gibt, um viel und schnell über diese Krankheiten zu lernen. Und Forschung ist teuer, erst recht solche für wenige Menschen.

Die Geschichte der Gentherapie ist aber auch eine Geschichte des Risikos. Unabänderlich ist sie mit dem Namen Jesse Gelsinger verbunden. Der Amerikaner starb 1999, vier Tage nachdem er sich einer Gentherapie unterzogen hatte. Die Universität von Pennsylvania hatte dabei Regeln klinischer Forschung gebrochen. Der 18-jährige Gelsinger war im Vergleich zu anderen Patienten, die unter derselben Krankheit litten wie er, nicht besonders krank. Er hätte mithilfe einer strikten Diät und guter Medikamente durchaus leben können. Es stellte sich heraus, dass er nicht nur von seiner Krankheit getötet wurde, sondern vor allem von der Gentherapie. Seit diesem ersten Todesfall ist klar: Gentherapie ist nicht nur eine Hoffnung.

Am 10. November 2009 wird Mahmoud in Hannover behandelt, in diesem fremden Land, in dem es im Spätherbst schon so kalt ist. Aber die Ärzte sind freundlich. Und die Mediziner, die hier arbeiten, gehören weltweit zu den besten. In den Akten der Studie wird aus Mahmoud »WAS8 «: Mahmoud ist der achte Wiskott-Aldrich-Patient weltweit, der diese Gentherapie erhält. 15 Kinder wollen die Ärzte insgesamt mit der neuen Methode behandeln.

Die Therapie hat Christoph Klein erarbeitet. Als das neue Jahrtausend gerade begonnen hat, ist Klein Mitte dreißig und durchläuft eine außergewöhnlich steile Karriere. Vor dem Abitur schwärmten seine Klassenkameraden in Oberschwaben bei Ulm für Michael Jackson, Klein für Albert Schweitzer. Er grübelte, ob er Musiker oder Arzt werden sollte. Heute ist er Arzt, legt aber Wert darauf, dass er auch Organist ist. Klein hat eine C-Ausbildung in Kirchenmusik, für den nebenberuflichen Dienst als Organist und Chorleiter. Als Jugendlicher war er Ministrant. Klein studierte in Ulm Medizin und obendrein Psychologie und Philosophie, als Stipendiat des Cusanuswerkes. Bereits als Student zog es ihn an die Harvard Medical School, wo mit die besten Mediziner der Welt ausgebildet werden. Er spezialisierte sich auf pädiatrische Onkologie, die Behandlung krebskranker Kinder. Sein Kollege im Nachbarlabor arbeitete mit Mäusen. Schaltete er den Mäusen ein Gen aus, wurden die Tiere krank. Klein fragte sich: Ob das auch andersherum ginge? Ein verändertes Gen, und der Patient würde gesund?

In den Neunzigern arbeitete Klein drei Jahre in Paris, bei Alain Fischer am Kinderkrankenhaus Hôpital Necker-Enfants malades. Fischer ist einer der berühmtesten Kinderärzte Frankreichs. 1999 gelang ihm eine Sensation bei der Krankheit SCID, einer Krankheit, die WAS nicht unähnlich ist. SCID ist eine seltene angeborene Immunschwäche und führt in aller Regel nach Monaten oder wenigen Jahren zum Tod im Kindesalter. Fischer bekämpfte SCID erfolgreich mit einer Gentherapie. Das war ein medizinischer Durchbruch, den Klein, der im Jahr 2000 bei Fischer promovierte und ansonsten in Harvard unterrichtete, in der Gemeinschaft der Spitzenmediziner miterlebte.

Nun erhält Christoph Klein einen Ruf nach Niedersachsen: Er wird Oberarzt an der Medizinischen Hochschule in Hannover. Kollegen aus dieser Zeit erinnern sich an einen exzellenten Wissenschaftler, der schnell ein Team zusammenbaut. Ärzte, die damals oder später mit Klein zusammenarbeiteten, beschreiben aber auch einen Menschen, dessen Balance zwischen Arzt und Wissenschaftler unausgewogen ist: Sie sehen den ehrgeizigen Forscher, aber nicht immer einen um Patienten besorgten Arzt.

2008 wird Klein zum Direktor der Kinderklinik in Hannover befördert. Dafür hat er nur acht Jahre benötigt. In der Zwischenzeit gewinnt er fünf wichtige Preise für Mediziner. Schon im Jahr 2001 wird er Leiter einer Forschungsgruppe: »Stammzelltransplantation und Immunmodulation - Entwicklung neuer zellulärer und molekularer Therapieverfahren in der Pädiatrie«. Klein befasst sich hier intensiv mit Gentherapie. Es geht um die alte Idee mit den Mäusen und um die Idee, die seinem Doktorvater so viel Aufmerksamkeit eingebracht hat: Anstelle der Stammzellen eines anderen Menschen werden den Patienten ihre eigenen Stammzellen entnommen und, nachdem die Gene in einem Labor verändert worden sind, wieder injiziert.

Die Gruppe wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. Es ist damals eine aufregende Zeit für Wissenschaftler, die sich mit Gentechnik auseinandersetzen. Seit den Neunzigern haben weltweit Forschergruppen begonnen, Gentherapien für Kinder zu entwickeln, die an Immundefekten leiden. Abgesehen von Alain Fischers Arbeit in Paris gibt es zum Beispiel eine Studie in London, eine in Mailand - und Kleins Team in Hannover. Weil die Gentherapie noch Pionierarbeit ist, sind alle Schritte schwierig und viele Folgen ungewiss. Und als Klein damals seine Studie plant, wissen die Forscher wesentlich weniger über Gentherapie als heute. Im Rückblick formuliert Klein es so: »Auf Basis dieser präklinischen Experimente haben wir uns Schritt für Schritt an die Klinik angenähert.« Klein erklärt auch, man habe stets an ethische Fragen gedacht. Bei einer Gentherapie lassen sich einzelne Gene nicht einfach hin- und herschieben; um das verbesserte Wiskott-Aldrich-Gen wieder in das Genom des Patienten zu transportieren, muss man es erst verpacken, so wie einen Fahrgast, der in ein Taxi gesetzt wird. Die Taxis der Gene nennen Wissenschaftler »Vektoren«. Der Vektor muss also in das Genom eindringen und die neuen Erbinformationen, die keine Krankheit mehr verursachen, dort ablegen. Die Vektoren sind eine komplexe Erfindung. Sie werden im Lauf der Zeit verbessert, eine Generation neuer Vektoren löst eine Generation alter Vektoren ab. Klein arbeitet damals mit einer frühen Generation dieser Vektoren.

Eine Gentherapie muss auch der Arzt aushalten können, der sie durchführt. Umgekehrt gibt es wenig ärztliche Arbeit, die so viel Ruhm für die Ärzte bedeuten kann. Klein weiß das genau. Heute sagt er dazu, er habe an seine jugendlichen Träume von Albert Schweitzer gedacht: »Der Weg führt mich aber nicht so sehr nach Afrika, sondern an die Grenzen des Wissens in der Kindermedizin.« Klein findet mehrere Kinder, die den Kriterien seiner Studie entsprechen. Für ihn ist es die Chance, eine bislang unheilbare Krankheit zu heilen. Und für die Kinder?

Klein erinnert sich an die Zeit vor der Studie so: »Wir haben nicht gesagt, das machen wir mal, sondern das waren durchdiskutierte Nächte.« Am 29. Juli 2004 reicht er die Dokumente seiner Studie bei der Ethikkommission in Hannover ein. Klein muss dazu nur einmal über das Klinikgelände laufen. Die Ethikkommission tagt unter dem Vorsitz des Professors Hans-Dieter Tröger im Untergeschoss eines großen Hochschulgebäudes. Tröger ist eine Institution nicht nur an der Klinik, auch in der Stadt. Den Spitzenmediziner kennen Patienten, Ärzte und manche Bürger auch deshalb, weil er im Lauf der Jahrzehnte in zahlreichen spektakulären Gerichtsprozessen als Gutachter vernommen wurde.

Es ist die Aufgabe der Ethikkommission, Patienten zu schützen. Das Protokoll, der Prüfplan, die Patienteninformation, die alle Eltern unterschreiben müssen – alles muss seine wissenschaftliche Richtigkeit haben. Nur dann darf die Studie genehmigt werden. Allerdings muss die Ethikkommission die Studie nur auf dem Papier prüfen. Und zunächst hat die Kommission noch Fragen an Christoph Klein. Erst am 15. Februar 2005 liegen alle Dokumente so beisammen, dass über die Studie entschieden wird.

Nun kommt Klein zugute, dass er die Dokumente schon im Sommer 2004 eingereicht hat - wenn auch unvollständig: Vier Tage nachdem die Kommission seine Papiere offiziell als eingegangen vermerkt hat, tritt eine Gesetzesänderung in Kraft, die 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes. Das neue Gesetz ist strenger als das alte. Da Klein aber das Verfahren zur Genehmigung bereits gestartet hat, wird seine Studie noch unter dem alten Gesetz betrachtet. Klein sagt dazu, er habe sich dann aber freiwillig selbst »strengere Regeln auferlegt, als sie das Gesetz für die Studie vorschrieb«. So benennt er das Hannover Clinical Trial Center als weitere Prüfinstanz. Das Institut wird von Heiko von der Leyen geleitet, dem Ehemann der heutigen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen.

Dass Kleins geplante Studie nicht ohne Risiko ist, zeigt sich schon zu der Zeit, als die Ethikkommission noch berät – und zwar an der Studie von Alain Fischer in Paris. Ende 2002 sind zwei von zehn Patienten des Franzosen an einer Leukämie erkrankt. Immer wieder unterbricht Fischer die Studie. Als ein dritter Patient erkrankt, sagt Fischer eine weitere geplante Studie ab. Auch in London versuchen Wissenschaftler, zehn Kinder mit einer ähnlichen Methode von einer seltenen Krankheit zu heilen. Auch dort bekommt ein Kind Krebs.

Insgesamt erkranken in London einer und in Paris vier Patienten an Blutkrebs. Ein Kind aus der französischen Studie stirbt an Blutkrebs. Auch die Briten brechen ihre Studie ab. Sehr vieles deutet da schon darauf hin, dass es die Vektoren sind, die den Krebs auslösen, auch wenn es andere Studien gibt, die ähnliche Vektoren einsetzen, ohne dass Kinder erkranken.

Ein Forscher aus London, der an der britischen Studie mitgewirkt hat, sagt heute, man habe sich damals entschlossen, auf eine neue Generation von Vektoren zu warten: »Die Technik war damals schon in der Herstellung und ist viel sicherer.«

Würde zu jener Zeit auch Klein auf neue Vektoren-Generationen setzen, müsste er bei null anfangen. Neue Technik bedeutet auch: neue Forschung, neue Studie, neue Verfahren. Jahre würden vergehen, von der Klinik wäre er wieder zurück in dem Feld, das Wissenschaftler präklinische Forschung nennen. Christoph Klein entscheidet sich für die Verwendung der bereits verfügbaren Vektoren, auch in Anbetracht des Risikos. Dem SZ-Magazin schreibt er dazu: »Das Risiko einer Leukämieentstehung bei der WAS-Gentherapie konnte bei Aufnahme der Studie nicht ausgeschlossen werden.«

Die Ethikkommission der Medizinischen Hochschule Hannover erhebt keine Einwände. Auch die Bundesärztekammer befasst sich mit Kleins Studie. Dort gibt es seinerzeit eine eigene Kommission für Gentherapien. Ihr Vorsitzender, der Biochemiker Klaus Cichutek, spricht sich in einem Schreiben für die Studie aus. Cichutek arbeitet damals auch schon für das Paul-Ehrlich-Institut, die Bundesbehörde, die für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel zuständig ist. Nach der Bundesärztekammer stimmt schließlich auch die Ethikkommission der Hochschule in Hannover mit Ja, einstimmig unter dem Vorsitz von Hans-Dieter Tröger.

Der erste Patient ist ein vierjähriger Junge aus Russland. Er kommt mit seiner Mutter nach Deutschland. Sie ist Schneiderin, das Geld ist knapp, der Junge schon schwer krank. Er wird am 28. Oktober 2006 behandelt.

Der zweite Junge kommt aus Ungarn, der dritte aus dem Libanon, der vierte kommt aus Deutschland, wie auch der Junge mit der Nummer sechs: Tom Höke, der mit seiner Mutter und manchmal auch dem Großvater vom Bauernhof in Nordrhein-Westfalen anreist. Der fünfte Patient ist – wie Mahmoud, der Patient Nummer acht – ein Syrer, der aus Kuwait eingeflogen kommt. Er ist zwölf Jahre alt, als er in Hannover behandelt wird. Der siebte Patient ist Russe. Die Jungen neun und zehn kommen aus den USA und aus Australien.

Der junge Australier, Nummer zehn, wohnt in Queensland. Der Verlauf seines Lebens ist typisch für ein Kind mit Wiskott-Aldrich-Syndrom. Dass ihr Kind krank ist, erfahren seine Eltern drei Monate nach seiner Geburt. Aber erst als er 13 Jahre alt ist, wird die richtige Krankheit diagnostiziert. Jahrelang wurde er von Ärzten, die es nicht besser wussten, falsch behandelt. Ein amerikanischer Arzt, den seine Eltern in ihrer Verzweiflung aufsuchen, macht sie schließlich auf die Studie in Deutschland aufmerksam. Im Dezember 2009, rund drei Jahre nach WAS1 aus Russland, wird er in Hannover behandelt. Da ahnt niemand, dass der Australier der letzte Patient sein wird, der diese Gentherapie bekommt. Geplant sind in der Studie ursprünglich nicht zehn, sondern 15 Patienten.

Im Behandlungszimmer, in dem die Kinder stationär aufgenommen werden, herrscht konstant Überdruck, um alle Bakterien und Viren herauszublasen. Sie könnten sonst den geschwächten Kindern schnell gefährlich werden. Hier erhalten die Jungen erst die Medikamente zur Chemotherapie. Dass sie später keine fremden, sondern ihre eigenen Stammzellen zurückbekommen, bedeutet auch, dass die Chemotherapie in der Regel weniger massiv ist als bei einer Fremdspende.

Vor dem zweiten Schritt, der Stammzellenentnahme, spritzt ein Arzt den Jungen ein spezielles Medikament, das dafür sorgt, dass die Stammzellen aus dem Knochenmark ins Blut wandern; das macht es für die Kinder einfacher, weil die Ärzte nun deren Blut filtern können, um an die Stammzellen zu gelangen, statt direkt bis ans Knochenmark der Kinder zu operieren, wo die Stammzellen normalerweise liegen. Eine Maschine nimmt das Blut des Kindes auf, filtert es und leitet es zurück in den Körper. In einem Behälter bleibt eine weiße, trübe Substanz zurück. Das sind die weißen Blutzellen des Patienten. In ihnen sind, mit bloßem Auge nicht erkennbar, die Stammzellen enthalten. Der ganze Vorgang dauert vier bis fünf Stunden.

Dann fährt ein Mitarbeiter der Studie die Stammzellen nach Idar-Oberstein in Rheinland-Pfalz. Dort bearbeiten Spezialisten in einem Hightechlabor die Zellen eines Patienten vier Tage lang: Sie schicken die Vektoren mit dem korrigierten Wiskott-Aldrich-Gen in die Stammzellen der Kinder. Das verbesserte Genmaterial wird dann zurück in die Klinik gefahren und den Kindern wieder injiziert.

Lediglich bei einem der zehn Kinder schlägt die Therapie nicht an: Beim libanesischen Jungen, WAS3, notieren die Ärzte eine »klinische Verschlechterung« in den Akten der Studie. Das Kind blutet immer wieder und leidet unter lebensbedrohlichen Infektionen. Auch bei einem zweiten Versuch gelingt es den Ärzten nicht, genügend Stammzellen aus seinem Blut zu extrahieren. Den Akten nach nehmen also zehn Kinder an der Studie teil, de facto geht es aber nur um neun Kinder. (2)

Und Christoph Klein schafft, was vor ihm niemand geschafft hat. Im Oktober 2008 meldet das Deutsche Ärzteblatt: »An der Medizinischen Hochschule Hannover haben pädiatrische Hämatologen weltweit erstmals Kinder mit Wiskott-Aldrich-Syndrom gentherapeutisch behandelt – bislang erfolgreich.« Klein schreibt an die Ethikkommission in Hannover: »Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass unsere klinische Gentherapiestudie zur Behandlung von Patienten mit Wiskott-Aldrich-Syndrom weiterhin sehr erfreuliche Ergebnisse zeigt, ohne dass wir unerwünschte Nebenwirkungen sehen.« Er publiziert seine Studie in der am höchsten angesehenen medizinischen Fachzeitschrift der Welt, dem New England Journal of Medicine.

In den folgenden Jahren wird Klein mit Anerkennung und Preisen überhäuft, allen voran mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dotiert mit 2,5 Millionen Euro. Der Bundespräsident Christian Wulff zählt seine Arbeit zum »Ort der Ideen«. Den mit 50 000 Euro dotierten Eva-Luise-Köhler-Preis, den das vorherige Bundespräsidentenpaar Köhler für die Bekämpfung seltener Krankheiten vergibt, erhält Klein zusammen mit Christopher Baum, einem Forscher, der in derselben Gruppe ebenfalls an den Vektoren forscht. Wie Klein setzt auch Baum in den kommenden Jahren eine steile Karriere fort. Heute ist Baum der Präsident der Medizinischen Hochschule Hannover.

Dann erhält Klein noch den mit 25 000 Euro dotierten Paul-Martini-Preis »für herausragende klinisch-therapeutische Arzneimittelforschung«, den William Dameshek Prize der Vereinigung amerikanischer Hämatologen sowie Forschungsmittel der Europäischen Union. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung berichtet in einer großen Reportage über den Patienten Nummer vier, einen Jungen aus Deutschland, und seinen erfolgreichen Arzt. Klein geht in dem Artikel auf die Geschichte der Gentherapie ein, er spricht auch über Jesse Gelsinger. Dessen Fall zeige, erklärt Klein in der FAS, dass »im Höhenrausch der frühen Jahre auch überstürzt gehandelt wurde«. Der Fernsehsender 3sat und immer mehr Zeitungen berichten. Bilder in den Medien zeigen Klein, wie er am Bett seiner Patienten deren kleine Hände hält. Im September 2010 strahlt der Norddeutsche Rundfunk eine Folge der Sendung Abenteuer Diagnose aus, in der die Hökes mit Tränen in den Augen von Toms Gentherapie berichten und Christoph Klein die medizinischen Grundlagen erklärt. Dann sagt der Sprecher aus dem Off, die Gentherapie habe gut funktioniert, zum Schluss heißt es: »Und damit haben die Hökes es tatsächlich geschafft.«

Ende Oktober 2010, nur drei Tage nachdem er seinen Erfolg an die Ethikkommission gemeldet hat, schreibt Christoph Klein einen Brief an das Paul-Ehrlich-Institut. Dort ist seit Dezember 2009 Klaus Cichutek Präsident, jener Mann, der einst von der Bundesärztekammer aus für die Studie plädierte. Die Welt der Spitzenforscher, die sich mit Gentechnik auskennen, ist klein. Früher hat das Paul-Ehrlich-Institut nur Arzneimittel geprüft. Heute ist es auch dafür zuständig, klinische Studien zu genehmigen. Diese Prüfung blieb für Klein aus, da er die Studie beantragt hatte, bevor sich das Arzneimittelgesetz änderte. Das Institut musste seine Studie also nicht genehmigen. Die Behörde möchte von Klein aber über den Fortgang der Dinge unterrichtet werden, sie beobachtet die Studie, wie es auch das Hannover Clinical Trial Center von Heiko von der Leyen tut.

Als Leiter der Studie ist Klein verpflichtet, außergewöhnliche Vorkommnisse zu melden. Dieser Pflicht kommt er mit seinem Brief nach. Es ist eine Susar-Meldung, die Klein ans Paul-Ehrlich-Institut schickt. Susar steht für Suspected Unexpected Serious Adverse Reaction, der deutsche Fachbegriff lautet: Verdachtsfall einer unerwarteten schwerwiegenden Nebenwirkung. Weniger wissenschaftlich kann man sagen: Etwas ist schlimm schiefgelaufen.

Svenja Höke sagt, in ihrer Familie sei bei Kinderkrankheiten immer erst Luka krank geworden, Toms Zwillingsbruder. Als Tom im Herbst 2010 eine Woche nach Luka zu husten beginnt, bekommt er zunächst das gleiche Antibiotikum wie Luka. Doch was bei Luka wirkt, hilft dieses Mal bei Tom kaum.

Im Krankenhaus in Minden diagnostiziert die Ärztin, die einst Toms Knochenmark untersuchte, bei dem nun fast vierjährigen Jungen Blutkrebs. Höke greift zum Handy und ruft so lange in Hannover an, bis Klein aus einer Besprechung gerufen wird. Noch am selben Tag fährt sie mit ihrem Sohn nach Hannover. Sie dürfen nicht mehr nach Hause. Tom wird als Hochrisikopatient eingestuft, die Chemotherapie beginnt sechs Tage später. Einige Wochen darauf sehen die Hökes im NDR eine Wiederholung der Sendung, in der Toms Heilung gefeiert wird. Sie rufen den NDR an. Die Sendung wird aus dem Programm genommen.

In den folgenden Monaten und Jahren wird ein von Christoph Klein behandelter Junge nach dem anderen krank. Bei mehreren beginnt es mit einer Virusinfektion. Dann kommt der Krebs: bei Tom, den beiden Russen, dem Amerikaner, dem Australier und den beiden Syrern aus Kuwait, also auch bei Mahmoud. In den Akten der Studie stapeln sich Kleins Notfallmeldungen.

Einige Experten, die die Studie beobachten, werden unruhig. Als Christoph Kleinden vierten Fall von Blutkrebs meldet, schlägt im März 2012 eine stellvertretende Referatsleiterin des Paul-Ehrlich­ Instituts vor, alle Kinder der Genstudie so zu behandeln, als hätten sie bereits Blutkrebs. Konkret möchte sie diskutieren, ob alle vorsichtshalber die Standardtherapie gegen Blutkrebs bekommen sollten: eine massive Chemotherapie und die Stammzellen eines fremden Spenders. Ihr Vorschlag zeigt, wie es um die Patienten steht und wie sehr das Vertrauen in die Studie gesunken ist. Schlussendlich sind es laut Klein die Eltern der Kinder, die sich in Gesprächen gemeinsam mit ihm dagegen entscheiden. Zu dieser Zeit hat Klein die Studie bereits unterbrochen, anstelle von 15 Kindern behandelt er nur zehn.

Während Christoph Klein sowie Krebs und Studienärzte um das Leben der Kinder kämpfen, verfolgt Klein im Spätherbst und Winter 2010 noch eine andere Idee. Er möchte seine Studie erweitern. Warum, wenn man schon eine große Studie ins Laufen gebracht hat, nicht noch mehr wissenschaftliche Fragen lösen? Klein möchte seinen Patienten jetzt zusätzlich einen Wirkstoff verabreichen, um die Funktion bestimmter Zellen zu analysieren. Das Medikament ist bis dahin nicht zugelassen.

Die Ethikkommission in Hannover stimmt Kleins Ansinnen innerhalb von zwei Tagen zu: Man habe keine Bedenken, eine erneute Beratung durch die Mitglieder der Ethikkommission sei nicht erforderlich, schreibt Hans-Dieter Tröger, der Vorsitzende der Kommission, an Klein.

Das Paul-Ehrlich-Institut lehnt Kleins Plan dagegen ab. Intern sind Experten entsetzt: »Ein Nutzen der Gabe der Prüfsubstanz für die Kinder ist nicht belegt«, heißt es in einer internen Mail des Instituts. Das Mittel zu verabreichen, entspreche nicht »dem allgemein anerkannten wissenschaftlichen Kenntnisstand«. Die Behörde muss den vielfach ausgezeichneten Arzt an Grundregeln erinnern: Eine neue Substanz kann nicht in einem Studienzusatz getestet werden, sondern nur in einer neuen Studie. Im Januar 2011 greift Klaus Cichutek, mittlerweile der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, zum Telefon und erklärt Klein, dass er auf diesen Test verzichten müsse. Klein lenkt schließlich ein.

Im Sommer 2011 zieht Christoph Klein nach München. Es ist sein bislang vielleicht wichtigster Karriereschritt: Er wird Klinikdirektor am Haunerschen Kinderspital. Auf dem Weg in sein neues Büro im obersten Stockwerk der Lindwurmstraße 4 kommt Klein an Tafeln vorbei, die einen älteren, freundlich dreinblickenden Mann zeigen, einen seiner frühen Vorgänger. Es ist Alfred Wiskott. Klein hat jetzt die gleiche Position inne wie einst der Entdecker jener Krankheit, die er so entschieden bekämpft. Wiskott gilt als großartiger Arzt, aber sein öffentliches Bild litt, als bekannt wurde, dass er im Dritten Reich von den Überweisungen eines seiner Assistenzärzte wusste, der behinderte Kinder in die NS-Pflegeanstalt Eglfing-Haar transportieren ließ. Mindestens zwei Dutzend dieser Kinder wurden dort ermordet. Als Klein nach München zieht, nimmt er die Studie mit. Das heißt, dass die Verantwortung ab sofort bei der Kinderklinik der Ludwig-Maximilians-Universität liegt.

Christopher Baum, der ehemalige Kollege von Klein und heutige Präsident der Medizinischen Hochschule Hannover, sagt, er habe es von Klein sehr verantwortungsvoll gefunden, die Studie mitzunehmen, »obwohl schon bekannt war, dass die Studie diese Komplikationen trägt«. In Hannover folgt Kleinkommissarisch der Professor und Kinderarzt Dirk Reinhardt, ein Spezialist für krebskranke Kinder. Reinhardt ist heute Direktor der Kinderklinik in Essen. Er war dabei, als in Hannover Kinder behandelt wurden, die infolge von Kleins Gentherapie Blutkrebs bekommen hatten. Er sagt, er sei heilfroh gewesen, dass die Studie weg war. »Ich wollte damit nichts zu tun haben.«

Mahmoud ist zu Hause in Kuwait, als er im November 2011 plötzlich die Symptome einer Erkältung hat. Drei Tage lang steigt das Fieber, dann liegt es bei 39 Grad. Die kuwaitischen Ärzte diagnostizieren eine Atemwegserkrankung. Vom 12. bis zum 19. Dezember 2011 ist Mahmoud in München, ein Routinebesuch, wie ihn viele Kinder der Studie regelmäßig absolvieren. Eine Woche lang wird er untersucht. Die deutschen Ärzte schicken ihn nach Hause. Doch nur Tage später meldet sich sein Arzt aus Kuwait erneut in München: Mahmouds Blutwerte seien nicht in Ordnung. Jetzt sind die Studienärzte alarmiert. Erneut wird Mahmoud nach Deutschland geflogen, am 11. Januar 2012 wird er im Haunerschen Kinderspital untersucht. Auch Mahmoud hat Blutkrebs.

Er wird mit einer Chemotherapie behandelt. Der Junge kämpft. Die Münchner Ärzte kämpfen auch. Krebsspezialisten auf der Münchner Kinderstation denken zu diesem Zeitpunkt bereits äußerst kritisch über die Studie, die ihr neuer Chef aus Hannover mitgebracht hat. In der Klinik wird geredet. Manche Ärzte lesen jetzt nach, was Jahre zuvor in den Studien in Paris und London passiert ist.

Klein bietet in dieser Zeit allen Kindern aus der Studie an, zur Bekämpfung ihrer Krebserkrankung nach München zu kommen. Nicht alle Eltern entscheiden sich dafür. Die meisten sehen aber keine Alternative. Das Haunersche Kinderspital verfügt über eine der besten Kinderkrebsstationen Europas. In Russland oder in Kuwait sind die Ärzte oft weniger gut ausgebildet, die Technik weniger weit entwickelt. Mahmoud wird immer wieder eingeflogen. Es hilft ihm nur vorübergehend. Im Mai 2013 muss er erneut nach München, der Krebs ist wieder da. Die Ärzte wollen ihm nun eine Knochenmarkspende von einem anderen Menschen transplantieren.

Die Hökes reisen mit Tom nur einmal nach München. Hinfahrt am Donnerstag, Untersuchung am Freitag. Tom scheint es schon besser zu gehen. Am Samstag fährt die Familie vor der Heimfahrt ins Legoland. Eine Woche nach dem Termin ruft Christoph Klein auf dem Bauernhof der Hökes an. Die Werte zeigen: Tom ist erneut an Blutkrebs erkrankt.

Als Mahmoud in München ankommt, ist ein anderes Kind aus der Studie, der zweite Syrer aus Kuwait, bereits gestorben. Nachdem er von Klein behandelt worden war, lebte er noch dreieinhalb Jahre. Er wurde 15 Jahre alt. Zwei Jahre später, am 4. Oktober 2013, stirbt Mahmoud im Alter von neun Jahren. Einer von Kleins Studienärzten vermerkt in der Akte: »Studie: Wiskott-Aldrich-Syndrom Gentherapie. Aktenvermerk: Exitus letalis.« Mahmoud wird in seiner Heimat beerdigt.

Zwei Jahre später, im Dezember 2015, stirbt mit 21 Jahren auch der Australier, der zehnte und letzte Patient, den Klein mit seiner Gentherapie behandelte. Den Krebs ließen die Eltern zunächst in Brisbane, später in den USA behandeln. Von den neun Kindern, die Klein vollständig gentherapeutisch behandelt hat, sind bis heute sieben an Krebs erkrankt, manche davon mehrfach. Drei sind gestorben.

Als die ersten Kinder der Studie an Blutkrebs erkranken, gehört Dirk Reinhardt, der später Kleins kommissarischer Nachfolger werden würde, noch zu den Ärzten der Medizinischen Hochschule Hannover, die jene Kinder behandeln. Zuerst, sagt Reinhardt heute, habe er nach Stammzellenspendern gesucht, denn mit einer Stammzellentransplantation von einem fremden Spender wird Blutkrebs klassischerweise behandelt. Das war und ist auch die Standardtherapie für kleine Jungen, die an WAS leiden. Als Reinhardt damals die Behandlungen beginnt, geht er wie mehrere seiner Kollegen davon aus, dass Klein Spender für die Kinder gesucht und keine gefunden hat. Denn wenn man die Wiskott-Aldrich-Krankheit der Kinder mit fremden Stammzellen hätte behandeln können, also mit der bekannten, relativ sicheren und relativ erfolgversprechenden Therapie, dann wäre es in den Augen jener Ärzte kaum sinnvoll, sie stattdessen der experimentellen Gentherapie zu unterziehen - zumal zu einem Zeitpunkt, zu dem diese Methode schon in anderen Studien Krebs ausgelöst hatte.

Selbst Kleins ehemaliger Kollege Christopher Baum, der mit ihm zusammenarbeitete und ihn eher verteidigt, glaubt bis heute, dass Klein zumindest jene Kinder, für die es sehr gut passende Spender gab, nicht in die Studie aufgenommen habe. Baum sagt, das sei »Standard« der Wissenschaft, und so müsse es im Studienprotokoll stehen.

Doch als Reinhardt selbst für einen Patienten auf die Suche geht, findet er einen solchen Spender auf Anhieb. Das ist in diesem Moment ein großes Glück für den Jungen. Die Krebsärzte aber fragen sich: Warum bekommen Kinder, die man mit passenden Spendern von WAS hätte heilen können, plötzlich exakt solche Spender, sobald sie Blutkrebs haben? Kleins früherer Kollege Christopher Baum irrt: In Kleins Studienprotokoll steht unter den Ausschlusskriterien kein Wort darüber, ob ein Kind einen Spender haben darf oder nicht.

Bis heute haben neun der zehn Kinder in der Studie die Stammzellen eines anderen Menschen transplantiert bekommen. Das sind jene sieben, die nach der Gentherapie an Krebs erkrankt sind, außerdem ein Junge, der an einer Vorstufe von Blutkrebs erkrankte, und der Patient Nummer drei aus dem Libanon, bei dem die Gentherapie von Anfang an nicht geklappt hat. Bei ihm wird mit einer Mischung aus Stammzellen aus einer Nabelschnur und einer Spende seines Vaters seine Ursprungskrankheit Wiskott-Aldrich behandelt. Im Rückblick war das ein Glücksfall für den Jungen, aber zudem der Beweis, dass man zumindest manche der Kinder von Anfang an mithilfe eines Spenders hätte behandeln können, ohne die experimentelle Gentherapie.

Zu den Krebserkrankungen jener sieben Jungen und zu der Vorstufe von Krebs jenes weiteren Jungen wäre es ohne die Gentherapie wohl nicht gekommen. Für vier der Patienten finden die Krebsärzte Spender, bei denen alle zehn Merkmale passen. Dem heute verstorbenen Australier spendet ein Verwandter die Stammzellen, der vor der Gentherapie kein Spender sein durfte, weil er psychisch krank und dabei noch minderjährig war. Es ist allerdings möglich, dass es für den Australier auch einen nichtverwandten passenden Spender gegeben hätte. Also hätten drei, vielleicht vier Kinder der Studie mit hoher Wahrscheinlichkeit von WAS geheilt werden können, ohne Blutkrebs bei ihnen auszulösen.

Zu ihnen gehört auch Tom Höke, der nach seiner Blutkrebs-Erkrankung gleich zweimal die Stammzellen eines fremden Mannes bekommt. Svenja Höke sagt heute, Klein habe sie vor der Gentherapie durchaus über die Möglichkeit informiert, Spender für Tom zu finden; sein Zwillingsbruder sei geprüft worden, er habe nicht gepasst. Doch die gängige Therapie samt der Suche nach Fremdspendern sei für sie schon nach dem ersten Gespräch mit Christoph Klein nicht infrage gekommen. Damals habe sie gelernt: Die Chemotherapie sei bei einer Fremdspende weitaus massiver, die Behandlungsdauer länger, und danach sei das Leben auf dem Bauernhof wegen der vielen Keime heikel. Das habe sie weder ihrem Sohn noch ihrer ganzen Familie zumuten wollen. Svenja Höke sagt: »Das war ganz allein unsere Entscheidung.« Sie sei noch auf der Rückfahrt von der ersten Untersuchung in Hannover gefallen.

Bei drei Kindern in Kleins Studie finden sich während der Krebsbehandlungen Spender, die immerhin in neun von zehn Merkmalen zu ihnen passen. Zwei Jungen müssen mit den Stammzellen wesentlich schlechter passender Spender behandelt werden, mit der Übereinstimmung von fünf Merkmalen.

Nachdem in Hannover und München klar ist, dass Kleins Team vor der Gentherapie nicht bei allen Patienten passende Fremdspender gesucht hat, sind einige Ärzte verstört. Dass sie jetzt, da sie Krebs behandeln müssen, recht schnell Spender für die Kinder finden, erstaunt sie nicht mehr. Achtzig bis neunzig Prozent aller Kinder aus Europa oder Nordamerika finden heute einen passenden Spender. Unklar ist, ob Klein allen Eltern so deutlich wie den Hökes gesagt hat, dass mit einem Spender eine Alternative zur Gentherapie zur Verfügung stünde - oder ob diese Möglichkeit erst später breit diskutiert wurde. Über den Patienten Nummer drei, bei dem die Gentherapie nicht wirkte, schreibt er in einem Brief an das Hannover Clinical Trial Center: »Nachdem eine erneute Gentherapie nicht möglich war«, sei »eine Stammzellentransplantation als therapeutische Option den Eltern vorgestellt« worden.

Nun gibt es einige Fachleute, die Christoph Kleins Studie für eine Katastrophe und den Tod mancher Kinder für vermeidbar halten. Klein selbst erinnert an die Zeit der durchdiskutierten Nächte. Er sagt, es sei ihm ähnlich vertretbar erschienen, Kinder ohne Spender aufzunehmen wie Kinder mit Spendern, Letzteres vor allem, falls »die experimentelle Gentherapie nicht erfolgreich wäre« oder »falls frühe Nebenwirkungen auftreten« - der Patient könnte dann mit den Stammzellen eines fremden Spenders behandelt werden.

Andere Experten halten das für Nonsens: Eine experimentelle Therapie mache man, wenn keine anderen Mittel zur Verfügung stehen. Christian Pestalozza, emeritierter Berliner Professor für Öffentliches Recht und Mitglied einer anderen Ethikkommission, sagt: »Patienten, für die es einen tauglichen Spender gibt, dürfen keinesfalls in die Studie eingeschlossen werden. Ein solcher Spender muss gesucht werden.« Finde man vor der Studie keinen, müsse die Suche nach einem Spender selbst während der Studie weiterlaufen. Klein aber sagt, in Anbetracht der vielen ethischen Argumente in die eine oder andere Richtung habe man sich damals entschlossen, »die Frage der Verfügbarkeit eines allogenen Stammzellenspenders nicht in die Einschlusskriterien aufzunehmen«. Sein Team habe vor der Gentherapie jeweils lediglich geprüft, ob ein passendes Familienmitglied als Spender zur Verfügung steht. Dies sei bei keinem Kind der Fall gewesen, außer bei dem Australier, dessen Geschwister aber als minderjähriger psychisch Kranker nach australischem Recht nicht habe spenden dürfen.

Kleins Erklärungen sind ausführlich. Reichen sie als Begründung für sein Vorgehen? Selbst Kleins Doktorvater Alain Fischer glaubt das nicht: »Wenn wir damals eine WAS-Studie gemacht hätten, hätten wir Kinder mit passenden Spendern - verwandt oder nicht verwandt - ausgeschlossen«, sagt Fischer, »ich bin auch überrascht, dass die deutschen Behörden die Studie so, wie sie war, genehmigt haben.« (3)

Zwei Tage vor Mahmouds Tod schreibt Christoph Klein in einem Brief an Hans-Dieter Tröger, in dem er einen Überblick über die Krankheitsfälle der Studie gibt, seine Publikationen über die Studie seien »in den vergangenen zwei Jahren durch sehr kritische Reviewer erschwert« worden. Das ist zurückhaltend formuliert. In Fachkreisen wird Klein in den vergangenen Jahren öfter mit der Frage konfrontiert, ob er die Gefahr von Krebserkrankungen und Tod hätte sehen müssen, insbesondere nach den Fällen von Paris und London. Hätte Klein zumindest auf neue Vektoren warten müssen, wie seine Kollegen in Paris und London? Alain Fischer sagt dazu, die Situation sei zu Beginn von Kleins Studie nicht so klar gewesen wie heute, was die Sicherheit der Vektoren betrifft. Fischer sagt aber auch: »Ich denke, das Risikolevel wurde nicht korrekt antizipiert. Die Entscheidung wurde in einer Zeit gefällt, als das alles noch ein Graubereich war.« Wollte Klein nicht genau dort hin - an die Grenzen der Kindermedizin?

Er hat sie jedenfalls über Jahre hinweg ausgelotet. Bereits als in Paris immer mehr Kinder an Krebs erkranken, spitzt sich in seiner Studie die Lage zu. Im Januar 2008 warnt eine Mitarbeiterin des Paul-Ehrlich-Instituts schriftlich: Unter Berücksichtigung der Fälle bei den »gentherapeutisch behandelten Kindern in Frankreich und dem neu aufgetretenen Leukämiefall in England, erscheint eine erneute Nutzen-Risiko-Abwägung erforderlich«. Christoph Klein schreibt damals zurück, er sehe »grundsätzlich keine neuen Aspekte hinsichtlich des Nutzen-Risiko-Profils unserer Studie«.

Zu diesem Zeitpunkt sind erst zwei Kinder behandelt. Unter den acht, die Kleinnach dieser Warnung behandeln wird, sind auch die drei, die sterben werden. Es ist aber nicht so, dass Klein auf die Krankheitsfälle der Studien aus London und Paris überhaupt nicht reagiert. Im Dezember 2008 schreibt er in einem Brief an die Ethikkommission: »Wie Sie wissen, sind im Rahmen von zwei anderen Gentherapiestudien unerwünschte Nebenwirkungen aufgetreten.« Ausdrücklich erwähnt er die Krebsfälle in den Studien in Paris und London. Er ändert das Therapieprotokoll, ein weiteres offizielles Schriftstück der Studie. In dem Protokoll steht, wie die Patienten überwacht werden: Künftig solle das Knochenmark der Patienten alle sechs statt »wie bisher alle 12 Monate« untersucht werden. Außerdem will er die Informationen für die Patienten aktualisieren und Stammzellen der Kinder asservieren, um sie zum Beispiel im Fall einer Leukämieerkrankung erneut gentherapeutisch behandeln zu können. (4)

Der emeritierte Rechtsprofessor Christian Pestalozza sagt grundsätzlich: »Forschung auf Kosten des Lebens verbietet sich. Für einen Forscher, der heute und selbst die Forschung vorantreiben möchte, bedeutet dies unter Umständen Verzicht. Alles andere ist ethisch nicht vertretbar.« Ein Forscher, »der wissentlich trotz bestehender Standardtherapie Leben oder Gesundheit des Patienten « gefährde, verstößt nach Pestalozzas Ansicht zudem gegen das Berufsrecht der Ärzte, auch gegen die Deklaration von Helsinki, die die ethischen Grundsätze für medizinische Forschung am Menschen festschreibt. Sie ist für Ärzte verbindlich. Ein Fall, der diese Regelung betrifft, könne auch »strafrechtlich relevant« sein, nämlich dann, wenn sich »das Risiko verwirklicht« - also in dem Moment, in dem Teilnehmer einer Studie Krebs bekommen oder sterben.

Als das SZ-Magazin im Zuge dieser Recherchen an die Medizinische Hochschule Hannover herantritt, blockt diese erst einmal ab. Erst als die Anwälte derSüddeutschen Zeitung beim Verwaltungsgericht Hannover einen Antrag auf eine einstweilige Anordnung gestellt haben, schicken die Mediziner Akten. Schließlich kommt es zu einem Treffen. Bei einem Rundgang über das Klinikgelände erzählt der Pressesprecher der Medizinischen Hochschule, Christoph Klein habe sein Arbeitsplatz in Hannover damals nicht gefallen. Er habe gemeint, Spitzenmedizin müsse auch aussehen wie Spitzenmedizin. Der Betonbau, in dem die Räume für die Stammzellentransplantation der Kinder liegen, habe diesem Anspruch verständlicherweise nicht genügt. In München plant Klein derzeit einen Neubau der Kinderklinik. In einer Broschüre, in der er für die Pläne wirbt, schreibt er, eine moderne Klinik für Kinder müsse »state-of-the-art Forschungsflächen vorhalten«. Der Herrscher von Oman, Sultan Qabus bin Said al-Said, wird den Münchner Neubau mit einer Spende von 17 Millionen Euro ermöglichen.

In Hannover spricht Hans-Dieter Tröger das rollende R des Bayern, auch nach einem Leben im Norden. Ein älterer Herr mit Hornbrille, Jackett und Cordhose, der schnell denkt und scharf urteilt. Tröger ist selbst von einer schweren Krankheit gezeichnet. Beim Interview nimmt er Platz an einem Tisch mit Christopher Baum, dem Präsidenten der Medizinischen Hochschule Hannover. Baum trägt ein weinrotes Hemd zum Maßanzug. In diesem Gespräch ist Tröger sein Respekt für Christoph Klein anzumerken, wohl auch Unverständnis dafür, dass dessen so komplexe Arbeit hinterfragt wird.

Alle drei, Baum, Tröger und Klein, eint Härte. Alle drei sind Menschen, die im Lauf ihrer Karriere gelernt haben, sich an Protokolle und Wahrscheinlichkeiten zu halten. Es sind Menschen, die die Forschung vorantreiben - und die damit leben müssen und können, wenn sich in einem Ordner die Susar-Warnmeldungen stapeln. Baum sagt über die Anfangszeit von Kleins Studie: »Das war damals auch die Pionierzeit der Gentherapie, es gab noch nicht viele Daten. Das war ein Risiko, das man abwägen und dem man sich stellen musste.«

Wie genau es zur Genehmigung der Studie in der Ethikkommission der Medizinischen Hochschule Hannover kam, darüber entstehen im Lauf unserer Recherchen unterschiedliche Versionen. Am Ende ist es wohl gar nicht so wichtig. Der Entschluss der Expertenrunde fiel einstimmig. (5)

München, Haunersches Kinderspital. Christoph Klein achtet sehr genau darauf, was er sagt und wie er es sagt. Im Interview in seinem Büro setzt er oft an, zögert, korrigiert sich, zögert erneut. Es ist ihm wichtig, wie die Öffentlichkeit ihn und seine Arbeit wahrnimmt, gerade in kritischen Situationen. In dem Schreiben, in dem er dem Paul-Ehrlich-Institut berichtet, dass Tom Höke an Krebs erkrankt ist, schreibt er erst vom Krebs und dann von der Presse: »Im Blick auf eine Berichterstattung für die Presse rege ich eine enge Absprache an.« Und: »Es wird Rückfragen geben. Gerne würden wir die Problematik pro-aktiv darstellen.« Immer wieder nutzt Klein die offiziellen Schreiben, in denen es um die Krebserkrankungen seiner Patienten oder um deren Tod geht, um Vorschläge für den Umgang mit der Öffentlichkeit zu machen. An Klaus Cichutek, der während der Studie zum Präsidenten des Paul-Ehrlich-Instituts befördert wird, schreibt Klein anlässlich der Krebserkrankung des damals neunjährigen russischen Jungen: »Ich persönlich sehe keine Notwendigkeit einer Presseerklärung, da wir bereits im vergangenen Jahr den ersten Fall publiziert haben.« Ein Jahr später, im Januar 2012, wird im Münchner Merkur dann doch im Detail über den Jungen aus Moskau berichtet, allerdings mit dem Einverständnis von Klein. Die Zeitung sammelt Geld für die Behandlung des Kindes. Die Journalistin erwähnt in ihrem Artikel auch die Gentherapie. Sie schreibt: »Ob die einst rettende Therapie zu Sergeys Krebserkrankung geführt hat, weiß man noch nicht. Für Klinikleiter Klein zählt im Moment nur eins: Er will Sergey erneut das Leben retten.« In Wahrheit liegt seit Jahren nahe, dass die Gentherapie den Blutkrebs verursacht hat. Klein selbst schreibt bereits zwei Jahre zuvor auf Nachfrage des Paul-Ehrlich-Instituts in einem Brief nach dem ersten Krebsfall der Studie: »Wir müssen davon ausgehen, dass diese Leukämie auf dem Boden der vorherigen hämatopoetischen Stammzellengentherapie entstanden ist.« Schon damals ist allen Beteiligten klar, dass in Hannover und München das geschehen ist, was zuvor in London und Paris passiert war.

Doch in Christoph Kleins Umfeld verbreiten sich schlechte Nachrichten oft langsamer als gute. Davon können selbst Behörden betroffen sein, die erwarten, von ihm informiert zu werden. Am 9. April 2014 beschwert sich das Paul-Ehrlich-Institut schriftlich bei einem Arzt aus Kleins Team: Man habe von Mahmouds Tod erst aus einem Artikel in der Ärztezeitung erfahren. Kleins Team hat der Behörde von Mahmouds Tod nicht berichtet. Vom Tod des Australiers im Dezember 2015 erfährt das Institut Monate später durch die Recherchen des SZ-Magazins. Auch die Ethikkommission in Hannover wird darüber erst im März 2016 von Kleininformiert.

Am Haunerschen Kinderspital erinnern sich Mitarbeiter daran, dass Klein nach einem Artikel in der Lokalpresse, in dem es nicht um die Gentherapie ging, der ihm aber missfiel, nach Schuldigen gesucht und mit Folgen gedroht habe. Mitarbeiter, auch Ärzte, waren erleichtert, als sich herausstellte, dass es der Vater eines Patienten gewesen war, der mit der Presse gesprochen hatte.

Auch dem SZ-Magazin verweigern mehrere Onkologen und Hausärzte der Patienten rund um die Welt das Gespräch. Eine Oberärztin an einem deutschen Klinikum sagt am Telefon nur: »Bitte besprechen Sie das mit Herrn Klein.« Viele erwarten den Anruf eines Journalisten bereits, wenn das Telefon klingelt. Ein deutscher Krebsexperte, Vorgesetzter von dreißig Ärzten an einer renommierten deutschen Einrichtung, die an der Studie mitgewirkt hat, sagt spontan am Telefon, die Studie sei »von ihrem Outcome her verheerend«. Dann erklärt er, mehr wolle er nicht sagen. Christoph Klein, sagt der Mediziner, habe gern die Kontrolle. Eltern, deren Kinder nach wie vor von Klein behandelt werden, brechen den Kontakt ab, offenbar nachdem sie Rücksprache mit Klein gehalten haben. Eine Mutter sagt am Telefon: »Herr Klein will die Kontrolle behalten wegen schlechter Geschichten.« Dabei hat sie wohl nicht einmal Schlechtes zu erzählen. Allein: Sie traut sich offenbar nicht. Die Familie Höke ist zum Interview bereit, hat aber umgekehrt keinen Kontakt mehr zu Klein.

Klein stellt nur auf nachdrückliche Bitten den Kontakt zur Familie eines Kindes her. Der Austausch mit der Mutter des australischen Jungen per E-Mail im Dezember 2014 ist insofern aufschlussreich, als es ihrem Sohn zum Zeitpunkt der Anfrage noch gut geht. Die Mutter schreibt damals, der Patient, mittlerweile ein junger Mann, sei gesund, er wolle Krankenpfleger werden. Er starb ein Jahr nach dieser E-Mail. Kontakt zu Familien, die mit seiner Behandlung vielleicht nicht zufrieden sind, möchte Klein nicht vermitteln, schon gar nicht zu Eltern, deren Kinder gestorben sind. Er scheint sich sicher, dass sie ihre Geschichte nicht erzählen wollen: »Wir bitten um Verständnis dafür, dass wir das Leid derjenigen Eltern, die Kinder verloren haben, respektieren.«

Auch wenn Klein in der kleinen Welt der Genmediziner kritisiert wird, steht er darüber hinaus immer noch glänzend da. Im Jahr 2014 erhält er einen weiteren Preis, der in Fachkreisen berühmt ist: den mit 150 000 Euro dotierten Hector Science Award. Das Preisgeld spendet er seiner Stiftung Care-for-Rare. Sie setzt sich für Kinder mit seltenen Krankheiten ein.

Sechsmal wurde Tom Höke am ganzen Körper bestrahlt, die Langzeitschäden sind nicht abzusehen. Auf dem Bauernhof seiner Familie steht ein blauer Aktenordner für Wiskott-Aldrich und ein grüner für Leukämie. Tom ist ein paar Zentimeter kleiner als sein Zwillingsbruder Luka, weil er eine Zeitlang nicht gewachsen ist. Gemeinsam lernen die Brüder das große Einmaleins, dann stecken sie ihre Köpfe hinter ihre Tablet-Computer. Wenn man die Mutter zur Krankheit befragt, kommt hinter Toms Bildschirm ein halb gelangweiltes »Was ist?« hervor. Svenja Höke sagt: »Für mich ist die Studie gescheitert, und zwar komplett.« Sie schaut einen Moment auf den Tisch, die beiden dicken Ordner unter den Händen. »Aber wenn es geklappt hätte, wäre es das Beste überhaupt gewesen.«

Wegen einer von Prof. Dr. Klein erwirkten Gerichtsentscheidung der Pressekammer des Landgerichts Hamburg ist bzw. sind:

(1) in diesem Absatz ein Satz ergänzt;
(2) in diesem Satz vier Wörter entfernt und vier dafür hinzugefügt worden;
(3) in diesem Absatz ein Satz entfernt und ein Zitat von Prof. Alain Fischer nach Rücksprache mit Prof. Alain Fischer geändert;
(4) in diesem Absatz ein Satz ergänzt;
(5) in diesem Absatz mehrere Worte ergänzt und gestrichen, darunter ein wörtliches Zitat aus einer E-Mail von Prof. H-D. Tröger;

Links:
Die ZEIT
Spiegel Online
Hannoversche Allgemeine Zeitung

Illustration: Grace Helmer