Brutal schön

Lange wurden brutalistische Betonbauten verachtet. Jetzt findet dieser Architekturstil neue Fans – zum Beispiel unseren Autor.

Universitätsklinikum Benjamin Franklin, Berlin-Steglitz, fertiggestellt 1968. Architekten: Nathaniel Curtis, Arthur Davis, Franz Mocken. Inzwischen gehört das Klinikum zur Charité und heißt offiziell »Campus Benjamin Franklin«.

In jeder deutschen Stadt gibt es an dieser oder jener Straßenecke ein Monster. Grau, rau, fremd und ohne Respekt für seine Umgebung. Es stellt sich einem in den Weg, auch wenn man nur an ihm vorbeigeht. Jede Stadt hat Gebäude, die so hart sind und so entschieden, sich nicht einzufügen. Die gezeichnet sind von Witterungsspuren auf dem Beton – überzogen aber auch mit einem seltsamen Glanz, einer undeutlichen Sehnsucht nach der kurzen Zeit, als dieses Gebäude schön genug gefunden wurde, um es hier an diese Ecke zu bauen.

Zum Beispiel Berlin, Wilhelm-/Ecke Voßstraße, die tschechische Botschaft, gebaut Mitte, Ende der Siebzigerjahre, ein Betonkoloss, der aussieht wie ein Ufo, das zu schwer ist, um die Erde je wieder zu verlassen. Als ich davorstehe und mit dem Handy Fotos mache, bleibt eine ältere Dame stehen und sagt: »Grauenvoll, nicht wahr? Hoffentlich wird das bald abgerissen!«

Ich denke: Hoffentlich nicht, denn ich habe angefangen, Beton wieder zu lieben. So geht es vielen. Sie feiern den Beton in Büchern und Facebook-Gruppen, auf Webseiten und gefühlt der Hälfte aller Pinterest-Profile – mit diesen typischen kontrastreichen Schwarzweißfotos scharf konturierter, skulpturartiger Betongebäude. »Architektur-Pornografie« nennt der Kurator Oliver Elser vom Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt diesen Trend leicht scherzhaft. In gehobenen Bastelläden gibt es inzwischen Beton für »kreative Ideen« im Hobbybereich, Windlichter und so, zum vielfachen Preis des feinen Profibetons im Baumarkt. Das ultimative Statussymbol einer bürgerlichen Wohlfühlästhetik ist nicht mehr das Stäbchenparkett und schon gar nicht die Auslegeware, sondern der sorgfältig gegossene und dreißig Tage ausgehärtete Betonfußboden. Oder die Betonarbeitsplatte in der Küche, die vom nur auf Empfehlung schaffenden Beton-Michelangelo frei gegossen wird.

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Was da wieder aufflammt, ist die Liebe zum Brutalismus. Die Bezeichnung für diesen Architekturstil leitet sich aus dem Baustoff ab: Roher, unverkleideter Beton wird im Französischen »béton brut« genannt. Zugleich war »Brutalismus« von Anfang an ein Wortspiel, als der englische Architekturkritiker Reynar Banham den Begriff vor rund sechzig Jahren prägte: Der Beton ist roh und herb, also »brut«, und zugleich schieben sich diese Bauten brutal ins Stadtbild. »Der neue Brutalismus zeichnet sich eben dadurch aus, durch Brutalität, durch seine Ist-mir-doch-egal-Haltung, seine Dickköpfigkeit«, befand Banham damals. »Diese Gebäude geben einen Scheiß darauf, was mit ihrer Umgebung ist« – so formuliert es die deutsche Kunsthistorikerin Karin Berkemann. »Sie sagen: Ich bin ein Gebäude, setzt euch damit auseinander.«

Die Spuren brutalistischer Architektur sind nicht nur in Deutschland zu finden, sondern weltweit, vor allem in Großbritannien, der Wiege des Brutalismus, in den USA und im früheren Ostblock. Fast unberührt geblieben von der Betonfaust ist allein Skandinavien; dort, sagt der englische Schriftsteller und Brutalismus-Experte Jonathan Meades mit sanfter Ironie, habe »ein tragischer Mangel an Unsensibilität und ein Exzess an Vernunft« verhindert, dass der Brutalismus sich durchsetzen konnte.

In Deutschland stehen Tausende dieser Gebäude. Arbeitsämter, Gemeindezentren, Stadtbüchereien, Wohnanlagen, Kirchen. Die Ruhr-Universität in Bochum, das Bogenhausener Hügelhaus und das Olympische Dorf in München, die Chorweiler-Wohnanlage in Köln, das Bauamt Köln, das Postamt Marburg, Schulen wie das Katharinen-Gymnasium in Ingolstadt, und vor allem: Sakralbauten, allen voran die Pilgerkirche in Velbert-Neviges und die Maria-Magdalena-Kirche in Freiburg. Wobei die Letztgenannte untypisch ist, die Architektin Susanne Gross hat sie 2004 im brutalistischen Stil erbaut.

Evangelische Dankeskirche, Berlin-Wedding, fertiggestellt 1972. Architekt: Fritz Bornemann.

Eigentlich aber erlebte der Brutalismus seine graue Blüte zwischen 1955 und 1975. Beton konnten Architekten und Baumeister schon viel früher frei formen, aber bis der Brutalismus anfing, den rohen Beton zum Prinzip zu machen, war es darum gegangen, ihn zu verbergen. Erst der Brutalismus feierte die Formbarkeit und Beschaffenheit seines Baustoffes, er füllte die Brachen der vom Krieg gezeichneten Städte Europas.

Er hatte aber auch von Anfang an einen utopischen Zug. Im Grunde ist seine Geschichte ein Missverständnis. Vereinfacht gesagt, wollten die Architekten des Brutalismus Bauten für die Massen machen: Bauten, die wie Skulpturen für eine selbstbewusste Demokratie, eine klassenlose Gesellschaft waren. Die Vertreter des Brutalismus wollten die Städte für alle gestalten, ihre Auftraggeber waren oft die Kommunen, der Brutalismus sollte das Alte, das Elitäre, das Glatte und Unverbindliche hinwegfegen. Freie Betonareale träumten vom gesellschaftlichen Austausch, schwebende Betonfußwege von kurzen Wegen und frei fließendem Verkehr, gestaffelte Betonbalkone von Ausblicken für alle, Betonfassaden vor Gesamtschulen vom sozialen Aufstieg.

Der englische Architekturkritiker Christopher Beanland sagt, dass die Architektur des Brutalismus sich »Faustkämpfe mit dem Planungsraster der Metropolen« lieferte, damals, in ihren wilden, heroischen Jahren. Die Rhetorik erinnert selbst in wohlmeinenden Äußerungen über Brutalismus eher an Kneipenschlägereien als an Architekturkritik. Die herausragenden Vertreter des Brutalismus, sagt Beanland, hätten den Bewahrern und Verniedlichern »den Mittelfinger gezeigt«, und schon Le Corbusier, mit seiner Wohnanlage »Unité d’habitation« in Marseille der Pionier des Brutalismus, sprach mit schauriger Ehrfurcht vor dem eigenen Tun vom »Betonmassaker«.

Ja, meint Beanland, Brutalismus habe sich immer durch eine gewisse Aggression aus-gezeichnet, »aber Aggression gegen die Stadt, nicht gegen die Menschen«. Sein Kollege Jonathan Meades sagt, im Brutalismus drücke sich eine »Liebe zur Masse« aus. Nur halt eine unerwiderte – weil sich die Menschen dort, wo die Betonbauten aggressiv Platz schaffen wollten, schnell erschlagen fühlten und sich nach dem Fertighaus am Stadtrand, der Altbauwohnung, nach Leichtigkeit und Freundlichkeit sehnten.

Tschechische -Botschaft, Berlin-Mitte, fertiggestellt 1978. Architekten: Vera und Vladimir Machonin.

Brutalismus ist immer da, wo mit Beton etwas geschaffen wurde, was sich nicht versteckt und was auch nicht zu verbergen sucht, welchem Zweck es dient. Etwa die erwähnte tschechische Botschaft in Berlin, entworfen von Vera und Vladimir Machonin, der schwere Betonbau scheint zu schweben, und seine Mitteilung ist klar: Dies ist das Verwaltungsgebäude eines selbstbewussten, in die Zukunft gewandten Staates, der auffallen will, sich aber nicht in die Karten schauen lässt. Das Gebäude ist unübersehbar und uneinsehbar zugleich.

Die meisten brutalistischen Gebäude tragen ihre Absichten klar vor sich her. Die berüchtigte Ruhr-Universität in Bochum, zwischen deren Gebäudeteilen man nicht umhergehen kann, ohne »Lernfabrik, Lernfabrik« zu denken, sagt deutlich: Ja, genau, wenn möglichst viele lernen sollen, dann sieht der entsprechende Ort eben nicht aus wie eine von Efeu berankte Fantasievorstellung einer Auenland-Campus-Universität, sondern wie eine Lernfabrik. Eine aus Beton zusammengefügte, terrassenartige und auf den ersten Blick nicht anheimelnde Wohnanlage wie das Hügelhaus von Walter Ebert in München-Bogenhausen sagt: Hier wohnen viele Menschen, die auf engem Raum einen Balkon und eine möglichst sinnvoll geschnittene Wohnung haben wollen, und wenn man vielen diesen Wunsch erfüllt, dann kriegt man in einem günstigen Falle dies hier.

Oder ein besonders krasses Beispiel, Gerd Hänskas Gebäude für die »Zentralen Tierlaboratorien« der Freien Universität Berlin. Es wird seit seiner Fertigstellung Anfang der Siebzigerjahre »Mäusebunker« genannt. Schräge Wände mit winzigen Fenstern und Dutzenden von weit aus der Fassade ragenden Lüftungsrohren, ein absolut fremdartiger Anblick, und darum geht es ja: Was in diesem Gebäude passiert, gehört zu der Gesellschaft und der Welt, in der wir leben, aber es sprengt die Grenzen dessen, was wir uns im Alltag vorstellen. Das heißt, das Gebäude thematisiert durch seine schroffe Fremdartigkeit einen Widerspruch, den jede Gesellschaft aushalten muss. »Die beste brutalistische Architektur verwandelt Notwendigkeit in etwas Erhabenes«, sagt der Architekturhistoriker Barnabas Calder. Bei Sonntagsspaziergängen am Kanal Ende der Siebziger jagte der Mäusebunker mir und meiner Schwester einen Schrecken ein, sein Bild blieb mir länger im Kopf als alles, was wir sonst auf diesen Spaziergängen sahen.

Sonntagsspaziergänge sind ein wichtiges Stichwort: Die Neubewertung des Brutalismus hat eine starke nostalgische Komponente. Die britischen Architekturkritiker, die das Revival lostraten, berichten in ihren Büchern und Artikeln oft davon, wie die Bauten des Brutalismus in Birmingham, Gateshead oder London der Hintergrund für ihre Kindheit, ihre erste Liebe, ihren Aufbruch ins Studium waren, für Musikvideos, Plattencover oder Filme, an die sie sich sehnsuchtsvoll erinnern. Die Kunsthistorikerin Berkemann spricht von der »Generation Beton«. Das von ihr mitherausgegebene Internet-Architekturmagazin moderneREGIONAL erhält auf brutalismusnahe Themen wie Waschbeton besonders viel Resonanz: »Waschbeton ist ein unglaublicher Identitätsträger«, sagt sie. »Bei Waschbeton denke ich sofort an die Bodenplatten auf der Terrasse meiner Eltern, das Material hat sich mir buchstäblich eingeprägt, es gehört zu meiner Identität.«

Es gibt aus Berkemanns Sicht noch einen anderen Grund dafür, warum gerade die Generation der um die Vierzigjährigen den Beton von damals plötzlich schön findet: »Als sie in dem Alter waren, in dem sie anfingen, Architektur wahrzunehmen, begann die erste Neubewertung von Betonarchitektur, gewissermaßen ihr Niedergang. Die Energiekrise, die Umweltbewegung: Plötzlich stand die Betonarchitektur, die in den Sechzigern noch für Aufbruch, Zukunft und so weiter gestanden hatte, für Menschenfeindlichkeit und Umweltzerstörung. Wir sind also in dem Bewusstsein aufgewachsen: Beton ist böse.« An den Wänden der frühen Achtziger stand »Schade, dass Beton nicht brennt«, im Grunde die Fortsetzung einer alten Parole: »Beton verdirbt den Charakter«, hieß es noch in den Fünfzigerjahren in Büchern über Baustoffkunde.

Und so verstößt jene Generation, die mit Beton groß wurde, nun gegen ein Tabu ihrer Kindheit – indem sie die Schönheit des Betons preist und die Bausünden von damals als herausragende und mutige Architektur feiert. Brutalismus-Liebe ist also der perfekte Sturm der seit einigen Jahren vorherrschenden Nostalgie-Gesamtwetter-lage: Wer heute um die vierzig ist und sich zum Brutalismus bekennt, lässt seine Kindheit wieder aufleben und grenzt sich gleichzeitig ab, macht sich interessant, weil immer noch die meisten Leute im alten Konsens leben, Beton und seine brutalen Bauten seien furchtbar und deprimierend.

Oliver Elser vom Deutschen Architekturmuseum arbeitet gemeinsam mit der Wüstenrot Stiftung an einer großen Brutalismus-Ausstellung, die im Herbst eröffnet wird. Sie steht unter dem Motto »SOS Brutalism«, zu dem das Museum und das Architekturmagazin uncube seit vorigem Jahr eine Webseite betreuen und einen gleichlautenden Hashtag in die Welt gesetzt haben, unter dem man auf bedrohte Brutalismus-Bauten hinweisen kann. Elser sieht nämlich noch einen ganz praktischen Grund für das gegenwärtige Interesse am Brutalismus: »Diese Gebäude haben nach vierzig, fünfzig Jahren oft einen Zustand erreicht, bei dem sich die Frage stellt, abreißen oder sanieren?« Viele brutalistische Bauten sind über die Jahre schlecht gepflegt worden, weil sie so schnell unbeliebt wurden.

In Berlin-Spandau soll nach vielen Jahren das Postamt an der Ruhlebener Straße abgerissen werden, und der Tenor der Berichterstattung ist: »Vage Hoffnung auf Abriss des Schandflecks« (Tagesspiegel). Als im Februar 2014 der AfE-Turm, das auffällige Betonhochhaus der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt, gesprengt wurde, war die Freude über das live übertragene Spektakel weitaus größer als die Sorge über die Vernichtung eines brutalistischen Baudenkmals. Oder die Postverwaltung in der City Nord in Hamburg: ein fast pyramidenartiges Bürogebäude, dessen Form an die riesigen Bauten der Tyrell Corporation im Science-Fiction-Film Blade Runner erinnert, zusammengesetzt aus vorgefertigten Betonteilen, inzwischen in einem seltsamen Hellgelb überstrichen. Jahrelang galt der ganze Komplex als missglückte Bürowelt, und wer in der City Nord arbeiten musste, wurde in Hamburg eher bemitleidet als beglückwünscht. Jetzt, wo das Gebäude leersteht und auf seinen Abriss wartet, kann man sich fragen: Warum eigentlich? Die in sich selbst verschränkte Pyramidenform führt dazu, dass das Gebäude aus jedem Winkel anders aussieht, es ist ein Trumm, das viele verschiedene Gesichter hat, schräg und fremd. Vor allem aber ist es eindeutig ein Bürogebäude, ein Ort zum Arbeiten, es ist unvorstellbar, dass hier etwas so Modernes und für unser Seelenheil womöglich so Veheerendes wie die Vermischung von Arbeit und Privatleben stattfinden könnte. Der Bau sieht aus, als hätte man hier freitagnachmittags die Arbeit gut Arbeit sein lassen können.

Diese in Beton gegossene Haltung ist laut der Kunsthistorikerin Karin Berkemann der Grund, warum sich nun auch die nächste, der Nostalgie unverdächtige Generation um die zwanzig für den Brutalismus begeistert: »Ich höre immer häufiger von Studenten, dass sie diesen ganzen Stahl- und Glas-Hochglanz satt haben, diese polierten Fassaden, die keinen Makel haben.« Dieser Stil würde gleichgesetzt mit einer Arbeitswelt, in der man viel mehr als früher funktionieren, eine Fassade aufbauen, Widerspruch und Entgleisungen vermeiden müsse. »Daher diese Sehnsucht nach diesen Klötzen, diesen herben, kompromisslosen Bauten, die so unangepasst scheinen.« Klar ist es brutal, wenn ein Gebäude schon von außen sagt: Tja, hier geht’s nur ums Arbeiten. Aber ist es nicht auch ehrlich?

Fotos: Denis Barthel