Von einem Schicksalstag zum nächsten

Brexit, Trump, jetzt die Wahl in Frankreich: In den Nachrichten häufen sich die Alles-oder-nichts-Momente. Hat die Politik sich das vom Sport abgeschaut?

Seit dem vergangenen Jahr haben wir uns an einiges gewöhnt, wir sind mit Großbritannien eingeschlafen und mit dem Brexit aufgewacht, wir gingen mit Hillary Clinton zu Bett und wachten neben Donald Trump auf, wir haben die Wahlen in Österreich überstanden, auch die in den Niederlanden, ja, sogar die neulich im Saarland.

Sind unsere Nerven besser geworden? Sind wir cooler, seit wir wissen, dass wir dauerhaft am Abgrund stehen? Und dass es immer jemanden geben wird, der zu uns sagt: Ich werde euch mit Riesenschritten voranbringen.

Vor zwei Wochen: wieder der ganz große Nervenkitzel. Es war nicht ausgeschlossen, dass Frankreich sich selbst vor die Wahl stellen würde zwischen Mélenchon, der den Austritt aus der EU anstrebt, und Le Pen, die den Austritt aus der EU anstrebt. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden: Mélenchon ist ein Bewunderer Mao Tsetungs, Marine Le Pen genießt die Unterstützung Wladimir Putins.

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Es fällt auf, dass in die Politik das aus dem Fußball bekannte Pokal-Prinzip eingekehrt ist: Alles oder nichts. Während es in einer Liga praktisch immer ein nächstes Spiel gibt und eine weitere Chance, während man dort auch unentschieden spielen kann, sich Punkte teilt und vielleicht hofft, bis zur nächsten Begegnung werde der Verteidiger X seine Verletzung auskuriert und der Stürmer Y seine Sperre abgesessen haben, gilt im Pokal Jetzt oder nie, Heute oder gar nicht, Null oder Eins. Immer steht alles auf dem Spiel, wie jetzt in Frankreich alles auf dem Spiel steht.

Fußballfreunden, insbesondere den Anhängern des FC Bayern, hat sich für immer der 26. Mai 1999 eingeprägt, als der FC Größenwahn im Champions-League-Finale gegen Manchester United bis zur 91. Minute 1:0 führte. Mario Basler, der Torschütze, trug bereits eine Kappe mit der Aufschrift Champions League Sieger 1999 - FC Bayern München, die Flaschen mit kalten Getränken waren schon geöffnet. Boris Becker, auf den Zuschauerrängen anwesend als Ober-Fan der Bayern, hat mal erzählt, er habe dann zusammen mit Franz Beckenbauer und Lennart Johansson, dem Präsidenten des europäischen Fußballverbandes, den Lift betreten, der von der Ehrentribüne ins Erdgeschoss führte. Man wollte zur Siegerehrung. »In der Aufzugkabine hörten wir Jubel. Wir dachten: Okay, der Abpfiff. Als wir kurze Zeit später durch die Katakomben in Richtung Rasen gingen, sahen wir die ManU-Spieler jubeln, die Bayern lagen am Boden. Ich dachte: Mist, doch der Ausgleich. Kurz darauf blinkt es an der Anzeigetafel: 1:2! Wir haben uns angeguckt und konnten es nicht glauben.«

Manchester hatte innerhalb von 102 Sekunden zwei Tore geschossen. Pokal-Prinzip heißt: Es ist nie zu Ende, bevor es zu Ende ist. Und wenn es zu Ende ist, dann ist es für die einen unfassbar schön, für die anderen aber ein Albtraum. Und ich glaube, es heißt auch: Wenn du um deine Ziele weißt, wenn du begeistert bist für dein eigenes Spiel, wenn du den Gegner zwar studiert hast, aber vor allem weißt, was du selbst willst und kannst, dann ist immer alles möglich.

Als die Bayern vom Rasen, auf dem sie gelegen und geheult hatten, wieder aufgestanden waren und beim Bankett abends die kühlen Getränke doch noch tranken, sagte Franz Beckenbauer: »Wir haben keinen Kampf verloren, keine Schlacht. Wir haben auch nicht das Leben verloren, wir haben ein Spiel verloren. Ich betone: Es ist ein Spiel, es war ein Spiel, und es wird immer ein Spiel bleiben.«

Das gilt für den Fußball, wie gesagt. Und es wäre schön, wenn eines Tages (möglichst bald!) das Pokal-Prinzip wieder nur dort gälte, wo es hingehört.

Bis dahin: nicht aufgeben!

Foto: AFP