»Flasche geben ist doch viel moderner«

In dieser Woche hat unsere Kolumnistin es mit einer Frau zu tun, die auf keinen Fall stillen möchte. Als Hebamme findet sie es immer bedauerlich, wenn Brüste, diese Superfeatures des weiblichen Körpers, ungenutzt bleiben. Sie selbst hat sogar schon mal an einer Milch-Verkostung teilgenommen.

Illustration: Cynthia Kittler

Sie hatte einen deutschen Nachnamen, aber einen melodischen französischen Vornamen, ich bin mir nicht sicher, war es Estelle oder Claire? Sie sah jedenfalls toll aus, wie eine dieser Superfrauen auf den Werbeplakaten von Banken und Unternehmensberatungen. Sie trug ein dunkelblaues Etui-Kleid – bestimmt Designer-Schwangerschaftsmode – und Schuhe in waghalsiger Höhe.

Wenn Frauen wie sie zu uns in die Klinik kommen, schaue ich sie mir immer besonders genau an, spüre nach, ob sich da ein Bedauern in mir regt. Vielleicht, denke ich dann, hätte ich mit meinem Jura-Studium auch so ein Leben haben können.

Im Vorgespräch hatte Claire-Estelle gesagt, dass sie auf keinen Fall stillen wollte. Flasche geben, das sei doch extrem praktisch. Und wegen der Arbeitsteilung mit dem Mann auch viel moderner. »Ich will auf Gartenpartys nicht ständig zum Stillen ins Hinterzimmer rennen müssen.« Es war November und ich fragte mich, welche Gartenpartys sie meinte.

Meistgelesen diese Woche:

Jeder wie er mag. Wirklich. Wobei es natürlich zig Gründe gibt, die das Stillen nicht nur gesundheitlich ratsam machen, sondern auch zu einem der faszinierensten Features, die der weibliche Körper zu bieten hat. Ist es nicht, auch im Sinne des Erfinders, schade, wenn es ungenutzt bleibt?

Brüste sind ein Wunderwerk an Technik, eine Mischung aus mobilem Kühlschrank, unendlicher Lagerhalle und 24-Stunden-Kiosk, der es vermag, jenen weißen Wunderstoff aus Protein und Fett bei Frühchen anders zusammenzusetzen und auszugeben als bei fünf Monate alten, properen Kindern. Kein Milchpulver der Welt kann das.

Okay, machen wir uns nichts vor: Wahrscheinlich gehöre ich wie fast alle Hebammen der Still-PR an, kläre über Vorteile und Nutzen auf und freue mich auch, dass Stillen wieder so im Trend liegt. Aber eines weiß auch ich: Ich kann niemanden umstimmen, der so fest entschlossen wie Claire-Estelle ist.

Und ich bin auch die letzte, die den Segen von Ersatznahrung anzweifelt, für Frauen, die einfach keine Wahl haben. Oder die sich wochenlang mit blutigen Brustwarzen herumschlagen und durch den Druck und die Versagensängste am Verzweifeln sind. »Machen Sie sich keinen Kopf,« sage ich in solchen Fällen. Genau dafür wurde die Ersatznahrung erfunden. Was eher selten passiert: Dass Frauen es gar nicht erst probieren wollen.

Doch Claire-Estelles Entschluss stand fest. In drei Monaten würde sie einen neuen Job anfangen, »nicht optimal jetzt, ich weiß«, hatte sie im Vorgespräch erzählt. Aber zu dieser Unternehmensberatung habe sie nunmal immer gewollt. »Es muss irgendwie gehen.« Nach dem Kaiserschnitt lag das kleine Mädchen auf ihrem nackten Bauch, zum sogenannten Bonding, wir lassen es meistens solange dort liegen, bis es intuitiv zum ersten Mal nach der Brust sucht. Es schmatzt dann und streckt die Zunge raus und schnüffelt und patscht, will sagen: Wo ist hier die Bar?

Ich hatte mit Claire-Estelle ausgemacht, dass sie ihrer Tochter wenigstens das Kolostrum geben würde. So nennt man die kleine Menge Vormilch, die der Körper vorsorglich für den G-Day angelegt und eingelagert hat, damit die Brüste nicht explodieren, und die oft als nicht-richtige Milch abgetan wird. Dabei ist sie genau das Gegenteil: hochkonzentrierter Stoff, eine Art Energydrink mit Anti-Körpern darin. Fand Claire-Estelle natürlich eklig. Ich erzählte ihr, dass es einfach nur sehr süß schmecke.

In der Ausbildung haben wir nämlich ein Milch-Quiz gemacht, die Sommelière war unsere Lehr-Hebamme, wir mussten blindverkosten und zuordnen: Stutenmilch, Ziegenmilch, Kuhmilch, Menschenmilch, Milchpulver – und Kolostrum.

Letzteres war am einfachsten zu identifizieren. Ein Glas mit einer kleinen Menge eigelbfarbener Flüssigkeit. Ein bisschen Überwindung war beim Probieren dabei, aber das einzige, das mir damals tatsächlich Würgereiz verursacht hat, und das sage ich nicht, weil ich Teil der weltumspannenden Still-PR bin, war die Ersatznahrung. Schmeckt gar nicht wirklich wie Milch, weil vieles darin chemisch aufgespalten ist, um das Ganze für Babys verträglicher zu machen.

Fünf Tage nach der Entbindung traf ich Claire-Estelle im Möbelhaus. Ich war nicht bei ihrer Entlassung dabei gewesen, aber als ich sie erspähte, war ich fast sicher: Sie muss direkt vom Krankenhaus hergefahren sein. Ihre Tochter schlummerte im Maxi Cosi im Einkaufswagen zwischen Servietten, Etageren und Gläserkartons. Claire-Estelle sah aus wie aus dem Ei gepellt.  Hat sie sich etwa einen Stylisten in die Klinik kommen lassen?

Als sie mich entdeckte, begrüßte sie mich herzlich. »Ich brauche dringend noch Stühle«, erklärte sie freudig, »wenn mich jetzt im Wochenbett alle besuchen wollen – wo sollen die sich denn hinsetzen?« Ich lächelte und nickte. »Konnte ihr Mann nicht ...« wandte ich vorsichtig ein. »Ach, der ist gerade beruflich so im Stress, und das Möbelhaus liegt ja wirklich auf dem Heimweg«, winkte sie ab.

Einen Tag später stand mein erster Wochenbetttermin bei ihr an. Als ich vor ihrer noblen Dachgeschosswohnung stand und klingelte, machte mir eine andere Claire-Estelle die Tür auf: Jogginganzug, Haare strähnig, in der Küche hatte sich eine wackelige Pyramide aus Geschirr und Fläschchen-Utensilien gebildet. Es sah aus wie bei fast allen im Wochenbett – nur dass das Chaos auf 200 Quadratmeter statt auf 70 verteilt war.

Ihr Mann sei auf Dienstreise, die Gäste kämen gleich. Wenn das Baby nach dem Füttern einschlafe, müsse sie dringend die Wohnung auf Vordermann bringen. Als ich in der Küche das Fläschchen zubereitete, dachte ich: Das mit der Arbeitsteilung müsst ihr noch üben.