Ehrfurcht vor dem Hodenrekordler

Unser Kolumnist glaubte, alles über Sexualität zu wissen. Bis er sich mit den Fortpflanzungsmethoden von Insekten befasste.

Falls es einen Schöpfer gibt, muss man ihn um manche Einfälle sehr beneiden. Nehmen wir gewisse Motten, die in Höhlen auf Borneo leben und Fledermäusen als Futter dienen. Wogegen sie sich aber zu wehren wissen; um das Sonarsystem ihrer Feinde zu stören, produzieren sie irritierend hochfrequente Töne – und zwar mit Hilfe ihrer Genitalien, ein Vorgang, den wir nur von der Ruderwanze Micronecta Scholtzi kannten, die (relativ und nach Körpergrößen gemessen) das lauteste Tier der Welt ist. Scholtzi reibt zu Lärmerzeugungszwecken den Penis am Bauch (also dem eigenen), das macht 99,2 Dezibel, was einer Autohupe entspricht.

Ein hupender Penis. Wie gesagt, ich empfinde Neid auf dergleichen Ideen.

Übrigens hat sich der erwähnte Schöpfer besonders beim Thema »Sex von Insekten« ausgetobt, er muss da eine Wahnsinns-Woche gehabt haben, vielleicht hatte er was geraucht? Beispielsweise schuf er die Bananenschnecke Ariolimax dolichophallus, gut, das ist kein Insekt, fällt mir aber nun mal gerade ein. Die Bananenschnecke ist, wie viele Schnecken, gleichzeitig Mann und Frau, doch erreicht ihr Penis bisweilen das Doppelte ihrer Körperlänge von fünfzehn Zentimetern, was von einer gewissen Erfreulichkeit sein mag, nach dem Sex aber hinderlich sein kann – weshalb diese Tierart ihr männliches Geschlechtsorgan nach Gebrauch oft ohne Sentimentalitäten abbeißt, um, weil das Stück nicht nachwächst, nur noch Frau zu sein. Jetzt aber wirklich zu den Insekten, die, wie wir 2017 erfuhren, immer weniger werden. Der Mensch vernichtet etwas, auf das Gott seinen Ideenreichtum konzentrierte, erstens. Und zweitens: Wie wollen wir ohne Insekten leben?

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Es ist dringend geboten, sich mit der Fortpflanzung dieser Tiere umfassend zu beschäftigen und in der Bevölkerung die Bewunderung für all dies Bedrohte zu wecken.

Was soll man etwa dazu sagen, dass männliche Bienen die Königin im Flug begatten? Wobei ihr Geschlechtsteil abbricht, kein Wunder bei diesem akrobatischen Akt, der den Tod des Männchens zur Folge hat. Es sinkt zu Boden und verblutet im Gebüsch. War es das wert?, fragte sich schon manche am Boden dahinscheidende Drohne.

Wie soll man es weiterhin finden, dass die Europäische Gottesanbeterin Mantis religiosa dem sie begattenden Mann in actu bisweilen den Kopf abbeißt, aber nicht in sexueller Enthemmung, sondern aus schierem Appetit!? So dass männliche Gottesanbeterinnen (das ist grammatisch richtig so!) vor der Paarung immer sorgfältig klären, ob die Frau hungrig ist. Aber manchmal irren sie sich.

Wie ist drittens zu beurteilen, dass bei bestimmten Staubläusen die Weibchen einen Penis haben, mit dem sie aus einer vaginaähnlichen Körperöffnung der Männchen Samen absaugen? Der Vorgang dauert bis zu siebzig Stunden! Das liegt daran, dass die Flüssigkeit sehr nahrhaft ist und auch der Ernährung der Frauen dient, die sonst, in Höhlen lebend, vorwiegend Fledermausexkremente fressen.

Um es mit Isabella Rossellini zu sagen, die unter dem Titel Green Porno eine Kurzfilmreihe über Sex von Tieren produziert hat: »Die Natur ist unendlich skandalös.«

Noch mal zu den Rekorden: Die Ruderwanze ist, wie erwähnt, relativ gesehen das lauteste Tier. Mit denselben Maßstäben gemessen: Wer hat die größten Hoden? In absoluter Hinsicht der Südkaper, ein Glattwal: 500 Kilogramm pro Stück, insgesamt eine Tonne, woraus beim Erguss zwanzig Liter Sperma hervorschießen.

Aber das war nicht die Frage. Lange dachte man, die männliche Fruchtfliege sei mit 10,6 Prozent des Körpergewichts der Hodenrekordler. Vor Jahren aber entdeckte ein Team von der University of Derby: Es ist Platycleis affinis, eine Laubheuschrecke. 14 Prozent des Gewichts! Auf mich übertragen, 14 Prozent von 88 Kilogramm: 12,3 Kilo. Dank an den Schöpfer auch noch mal von dieser Stelle.