Wie aus alter Milch neue Kleider werden

Eine findige Unternehmerin verarbeitet Molkereiabfälle zu besonders hautschonenden Textilien. Als Beweis für die Natürlichkeit ihrer Produkte hat sie sich einen verblüffenden Trick ausgedacht.

Das Problem: Allein in Deutschland werden jedes Jahr zwei Millionen Tonnen Milch weggeschüttet.
Die Lösung: Anke Domaske stellt aus der untrinkbaren Milch eine komplett chemiefreie Naturfaser her, die ideal ist für Allergiker.

Erst einmal ist der Überraschungseffekt enorm: Wie bitte? Das blaue, weiche Wickelkleid soll zu einem guten Drittel aus Milch gemacht sein? Anke Domaske streicht stolz über die feinen Fasern. »Fühlt sich wie Seide an, stimmt's?«

Domaske, 34, ist Modedesignerin, seit sie mit 19 Jahren für ein halbes Jahr nach Japan ging. Dort waren gerade Manga-T-Shirts der letzte Schrei, also T-Shirts mit japanischen Comic-Aufdrucken, und sie beschloss, daraus ein Geschäft zu machen. Studiert hat sie das nicht, aber ihre Urgroßmutter war Designerin, und von ihrer eigenen Mutter lernte Domaske von klein auf das Schneidern. »Ich bin mit der Nähmaschine aufgewachsen«, sagt die umtriebige Firmenchefin. Sie hat dann aber Mikrobiologie studiert, denn das ist ihre zweite Leidenschaft: Bakterien. Schon als Schülerin gewann sie den zweiten Preis bei Jugend forscht. »Ich dachte immer, ich müsste mich irgendwann entscheiden zwischen Mode und Biologie«, sagt Domaske, »aber dann wurde mein Stiefvater schwerkrank.« Und plötzlich wurde ihr klar, dass genau in der Kombination die Lösung lag.

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Als ihr Stiefvater 2009 an Leukämie erkrankte, waren nicht nur die Chemotherapie und die Schmerzen ein Problem, sondern auch ehemals banale Alltagsentscheidungen: Er entwickelte eine schwere Textilallergie. »Wir fanden einfach nichts, was er anziehen konnte«, erinnert sich Domaske. Sie las, dass schon in den Dreißigerjahren Fasern aus Milcheiweiß hergestellt wurden, bis sie von den billigeren Kunstfasern vom Markt verdrängt wurden. »Aber als ich mir das genauer ansah, war ich irrsinnig enttäuscht: Dazu wurden nämlich große Mengen giftiger Chemikalien verwendet, vor allem Formaldehyd, aber auch Asbest.« Auch die anderen sogenannten Naturfasern auf dem Markt vertrug ihr Stiefvater nicht: »Ehemals natürliche Fasern wie Wolle wurden dadurch ruiniert, dass bei der Herstellung immer mehr Chemie zugesetzt wird.«

Sie recherchierte und fand, die Milchfaser müsste auch ohne Chemie herzustellen sein, »aber ich wurde nur belächelt. Ich fand einfach niemanden, der an die Idee glaubte.« Auf dem Rückweg von einem besonders frustrierenden Meeting mit einem herablassenden Experten schnappte sie sich schließlich ihre drei Teilzeit-Kolleginnen von ihrer Modekollektion, und sie gingen einkaufen. »Kochplatten, Mixer, ein riesiges Kochthermometer, als würden wir Marmelade einkochen wollen, und wir fingen an, in meinem Modestudio zu experimentieren. Wir hatten ja kein Labor.«

Nach zwei Jahren konnte ihr Stiefvater das erste T-Shirt tragen: völlig natürlich, ohne Chemie, und besonders hautschonend. Die Faser kann man ganz normal bei 60 Grad waschen, sie löst sich auch nicht im Regen auf und ist so reißfest wie Baumwolle. »Es gibt über sechs Millionen Neurodermitiker in Deutschland«, sagt Domaske mit Nachdruck. »Da muss man doch mal drauf reagieren!«

Inzwischen hat sie gemeinsam mit dem Bremer Faserinstitut den Prozess perfektioniert: 2011 gründete sie ihre Firma QMilk bei Hannover, seit 2015 läuft die Produktion, für die sie unter anderem den Green Tec Award gewann. Aus alter, saurer Milch oder Käsereiabfällen gewinnt sie das Eiweiß Kasein. »Wir schöpfen das Dicke oben ab, das sieht dann aus wie Quark. Durch ein Spinnverfahren isolieren wir das Kasein, trocknen es, erhitzen es, um es haltbar zu machen, und lassen es durch etwas laufen, das wie eine Nudel-Maschine aussieht, nur sind die Löcher eben viel, viel dünner; dünner als ein Haar. So gewinnen wir die Fasern.«

Selbst wenn die Deutschen endlich einmal ihren Milchberg abbauen, wird Anke Domaske der Stoff nicht ausgehen: »Wir verwenden kein Lebensmittel«, stellt sie klar, das ist ihr wichtig. »Die Milch, die wir verwenden, ist ein Abfallprodukt, das sowieso entsorgt werden müsste - also sauer gewordene Milch aus dem Supermarkt oder das Zentrifugat aus der Käserei. Davon gibt es allein in Deutschland zwei Millionen Tonnen im Jahr. Das könnten sie als Tetrapaks einmal bis zum Mond stapeln.«

Es gibt ihre QMilk schon als Textilfaser in diversen Kollektionen, im italienischen Toilettenpapier Tenderly, in Milchkosmetik (»Schließlich hat schon Kleopatra in Milch gebadet, wegen der vielen Vitamine und Aminosäuren«), in Baby-Beissringen und Hundeknochen (»weil das Kasein einen positiven Effekt auf die Zähne hat«), in Filz und Matten. Dieses Jahr kommt milchige Bettwäsche auf den Markt; und der Outdoor-Hersteller Vaude wird Schuhe und ein Rucksack mit einem Milchfaseranteil anbieten (»vor allem an den Trägern, die Milchfaser scheuert nicht so auf der Haut«). Inzwischen verkauft Domaske ihre Produkte in 30 Länder, von den USA bis hin zu Korea und China. Bald kann sie die Kapazität auf 1000 Tonnen pro Jahr ausweiten. »Theoretisch«, sagt Domaske, »könnte man aus der Milchfaser ein ganzes Haus bauen, so stabil ist sie.«

Weil die Faser von Natur aus antibakteriell wirkt, hat Domaske auch eine Zulassung für Wundauflagen beantragt. »Die Milchfasern sind atmungsaktiv, schwer entflammbar, widerstandsfähig gegen Alkohol und Chemikalien, regulieren die Temperatur gut, und wirken auf natürliche Weise antibakteriell gegen E. coli und sogar gegen Staphylococcus aureus, also einen der gefährlichsten Krankenhauskeime.«

Domaske geht es nicht nur um die Allergiker: »Wir müssen überhaupt in der Modeindustrie unsere Herstellungsverfahren überdenken. Die sind alles andere als nachhaltig.« Die charmante Frau redet sich fast in Rage, wenn sie über den Trend spricht, Billig-T-Shirts nach einmal Tragen wegzuwerfen. »Da gibt es eben auch genau die Gegenbewegung, nämlich besonders nachhaltig zu produzieren.«

Sie mischt der Milch zwar noch andere Naturprodukte bei, die sie nicht verraten will, schwört aber, dass keinerlei Chemie im Spiel ist. Bei Treffen mit Investoren muss sie regelmäßig beweisen, dass ihre Blusen wirklich so natürlich sind, dass sie sogar essbar sind. Dann beißt sie beherzt rein. »Das Zeug schmeckt nach nichts«, sagt sie und verzieht das Gesicht, »aber essbar ist es. Ich träume von einer Bluse mit Schokoladengeschmack.«

Foto: QMilk