Bilder aus dem Krieg

In der Ukraine herrscht Krieg. Aber wie sieht das Leben abseits der Front aus? In unserer Fotorubrik zeigen wir, wie die Gewalt den Alltag der Menschen beinflusst – und welche kleinen Anflüge von Normalität es zwischendurch gelegentlich gibt.

    Foto: Vincent Haiges

    Heft 52/2023, 29.12.2023

    Es ist eine seltsame Mischung aus Gewissheit und Ungewissheit, im Krieg zu leben und ein Kind zu erwarten, denn im Krieg ist nichts klar und doch alles, es wird jeden Tag und jede Nacht gekämpft, es hungern und frieren und sterben täglich Menschen, aber wer stirbt und wer nicht und wie lange das noch so geht, weiß man nicht. In einer Schwangerschaft ist auch nichts klar und doch alles, ein Kind kommt, ein neues Leben, und es verändert das eigene Leben, wie vielleicht nichts vorher das eigene Leben verändert hat, aber was wird es für ein Kind? Wird es viel oder wenig schlafen, viel oder wenig schreien, dem Vater oder der Mutter ähnlich sehen? Wird es gesund sein? Yelizaveta Perchun ist im neunten Monat schwanger, es ist ihre erste Schwangerschaft, sie ist 22 Jahre alt, und eigentlich hatte sie nicht vor, schon Mutter zu werden, aber es ist eben auch der Krieg, der in den Menschen den Wunsch weckt zu heiraten, Kinder zu bekommen und sich damit auch irgendwie eine Zukunft zu erschaffen, selbst wenn man nicht weiß, wo und wie und ob man leben wird. Yelizaveta Perchun wird ihr Baby in der Klinik in ihrer Heimatstadt Pokrovsk bekommen. Die Front ist nah, sie sagt, das ist gut, denn so sieht sie ihren Mann wenigstens ab und zu. Also bleibt sie, wo sie ist, im neuen Jahr mit ihrem Baby. Gabriela Herpell

    Vincent Haiges,35, fotografiert seit dem 25. Februar 2022 in der Ukraine. Im nächsten Jahr möchte er fast nur noch dort sein, seine Beziehung zu dem Land ist sehr eng geworden. Sein Foto ist das letzte der Rubrik »Bilder aus dem Krieg«, wir werden uns der Ukraine ab 2024 in anderen journalistischen Formaten widmen – und danken allen Fotografinnen und Fotografen für ihren Einsatz, ihre Arbeit, ihre Bilder.

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    Foto: Vincent Haiges

    Heft 51/2023, 22.12.2023

    Sie vermisse den Wald, erzählt die 15-jährige Sonia der Fotografin Johanna-Maria Fritz. Früher sei sie oft in den Wald ihres Heimat- ortes Swjatohirsk gegangen. Seit der russischen Besatzung im Sommer 2022 ist der Wald ein Minenfeld. Und Sonia darf bis zu dieser Stelle und nicht weiter. Die Zeit der Besatzung verbrachte sie mit ihrer Familie in Dnipro, in Sicherheit. Sie fürchtet sich davor, dass die Russen zurückkommen. Die Front ist nicht weit entfernt, und Sonia weiß: Wenn sie und ihre Familie noch einmal fliehen müssen, werden sie nicht zurückkommen. Dabei mochte sie Swjatohirsk früher nicht mal besonders. »Ich habe mich immer beschwert, dass wir in die nächstgrößere Stadt fahren mussten, um Klamotten zu kaufen«, erzählt Sonia. Was sie an ihrem Heimatort hat, weiß sie erst, seit sie weg war. Allerdings ist Swjatohirsk größtenteils zerstört, und sie sind auch nicht mehr viele. Früher lebten rund 300 Kinder hier, heute sind es noch 23. Man trifft sich im improvisierten Klassenzimmer im Ortskern, wo alle Kinder und Jugendlichen zwischen sieben und 16 Jahren gemeinsam unterrichtet werden. Sie malen oder schreiben Gedichte, es gibt Therapiestunden, und regelmäßig kommt die Feuerwehr zur Minenaufklärung. Sonias Freundinnen sind fast alle geflohen, innerhalb der Ukraine oder weiter weg. Eine von ihnen lebt nach wie vor ein Dorf weiter, im Sommer haben sie sich gegenseitig mit dem Fahrrad besucht, aber das geht im Winter nicht. Die Straße ist zu schlecht. Sonia chattet viel online, aber wenn sie sehe, wie die anderen Mädchen im Ort sich umarmen, mache sie das ein bisschen traurig, sagt sie. Dann vermisse sie diese besondere Form der Komplizinnenschaft, die sie mit niemandem hier mehr teilt. Mareike Nieberding

    Die Fotografin Johanna-Maria Fritz, 29, ist seit vielen Jahren weltweit in Krisengebieten unterwegs und hat für ihre Arbeit mehrere Preise erhalten. Seit knapp einem Monat ist sie zurück in der Ukraine und bereist den Osten des Landes, nahe der Front, in der Gegend von Kramatorsk.

    Heft 50/2023, 15.12.2023

    Die Stimmung beim Training war ausgelassen, es wurde viel gelacht, erzählt der Fotograf. Die Jungs machen super mit, sind motiviert, erzählt der Trainer. Darum kann man sagen: Diese Männer hatten Glück. Was Glück in einem Krieg eben ist: Rechtzeitig von Sanitätern aus einem Minenfeld geborgen zu werden, bevor man verblutet; Verletzungen zu haben, die man mit guten Ärzten und einer Amputation überleben kann; in ein modernes Reha-Zentrum zu kommen; von der Trainingsgruppe des FC Pokrova Lviv zu hören; neuen Lebensmut zu finden. Es gibt Soldaten, die sich aufgeben nach solch schweren Verletzungen, die einen lebenslang zeichnen. Aber die einbeinigen Männer hier sieht man auf dem Platz herumalbern, nicht anders als die anderen Mannschaften des Vereins ohne Kriegswunden. Kostiantyn Kaschula (Dritter von links) war der erste Spieler hier, inzwischen sind sie elf Feldspieler mit Beinamputationen plus vier Torhüter mit Armamputationen. Viele sind erst im Sommer verwundet worden. Drei Monate dauere es, zu lernen, wie sich der Körperschwerpunkt verändert, wenn man auf Krücken spielt, erzählt der sehr engagierte Trainer Bogdan Melnyk (ganz links). Berührt die Krücke absichtlich den Ball, zählt das übrigens als Foul, und mit Prothesen darf nicht gespielt werden – es gibt ein eigenes Regelwerk für Amputierten-Fußball. Im Herbst gab es ein Turnier in Belgien, wo auch eine ukrainische Mannschaft dabei war, darunter Kostiantyn Kaschula, der Kapitän des FC Pokrova Lviv. Marc Baumann

    Der Fotograf Fabian Ritter, 31, kommt aus Dortmund und war seit dem russischen Überfall im Februar 2022 mehrmals in der Ukraine. Ein Schwerpunkt seiner Foto-Essays liegt auf der Frage, wie der Krieg das Leben junger Menschen im Land verändert.

    Foto; Mykhaylo Palinchak

    Heft 49/2023, 8.12.2023

    Gerade einmal 15 Minuten dauert die Einweisung am Gewehr. Dann dürfen diese Jugendlichen in der Region Transkarpatien im Westen der Ukraine ihre neu erlangten Kenntnisse am Schießstand unter Beweis stellen – und auch ein paar Handgranaten werfen. Die Zielsichersten bekommen eineAuszeichnung. Was bizarr klingt, sei von jeher »eine übliche Outdoor-Aktivität für ukrainische Jugendliche«, sagt der Fotograf Mykhaylo Palinchak. Er selbst habe bereits vor 25 Jahren an vergleichbaren Freizeitveranstaltungen teilgenommen. Organisiert werden sie von Jugendorganisationen, die auch Mal- oder Musikkurse anbieten, staatlich unterstützt. Doch etwas war damals anders als heute: Mitte der Neunzigerjahre wurden nur die Jungen an den Waffen unterrichtet. Heute lernen auch Mädchen, wie man schießt und eine Granate scharf macht. Auch ist der Ernst heute ein ganz anderer als in Friedenszeiten, erzählt der Fotograf. Schließlich ist es nicht so abwegig, dass einer der Jugendlichen irgendwann seine neuen Fähigkeiten gegen russische Invasoren nutzen muss. Deshalb ist diese Übung auch erst der Anfang. Die Jugendlichen werden in den nächsten Jahren immer wieder an vergleichbaren Veranstaltungen teilnehmen, je älter sie werden, desto ernsthafter das Training: Im ganzen Land werden Zivilisten an den Waffen ausgebildet. Noch sind die Jugendlichen auf dem Foto zu jung für den Krieg. Aber im Ernstfall sollen sie sich verteidigen können. Vivian Pasquet

    Seit dem Kriegsbeginn reist der ukrainische Reportagefotograf Mykhaylo Palinchak, 38, durchs Land, um den Krieg zu dokumentieren. Seine Frau ist mit den beiden Söhnen nach Polen geflohen. Manchmal kommt sie für einige Tage zurück, um ihn zu sehen – Palinchak darf das Land wie die meisten wehrfähigen Männer nicht verlassen.

    Heft 48/2023, 1.12.2023

    Manche Tiere und Pflanzen haben eine wundersame Art, sich zu tarnen: Sie ahmen das Aussehen ihres Lebensraumes nach, um von Feinden nicht entdeckt zu werden. Eine Heuschrecke sieht aus wie ein Zweig, Schmetterlingsraupen schon mal wie Vogelkot. Mimese heißt diese Methode, sich vor Angriffen zu schützen. Schaut der Fotograf Igor Ishchuk auf den grauen Klotz im Vordergrund seines Fotos, sagt er, müsse er an dieses Naturphänomen denken. Sieht der Klotz doch ähnlich aus wie die Wohnhäuser im Hintergrund. »Unterschlupf« steht in roter Schrift auf ihm geschrieben: Es handelt sich um einen mobilen Bunker. Die Gebäude in diesem Teil der Stadt Kurachowe, im Osten der Ukraine, haben teils keine Schutzräume. Die wären aber bitter nötig, um sich vor Angriffen der russischen Raketen zu schützen: Das Städtchen liegt im Gebiet Donezk, nur etwa 20 Kilometer von der Frontlinie entfernt. Immer wieder schlagen hier Raketen ein, hören die Bewohner und Bewohnerinnen Artilleriefeuer wummern. Manchmal attackieren russische Soldaten dabei auch Wohngebiete – obwohl diese nach den Grundsätzen des humanitären Völkerrechts unter besonderem Schutz stehen. Die zunehmende Aggression, erzählt der Fotograf, könnte erklären, weshalb er immer häufiger mobile Schutzbunker in Wohngebieten sieht. Dieses, das zeigt das Glas in den Fenstern der Häuser, blieb vor schlimmeren Angriffen bislang verschont. Doch die Menschen hier sind vorbereitet. Vivian Pasquet

    Vor dem Krieg fotografierte Igor Ishchuk, 30, Reportagen für Unternehmen und arbeitete als Studiofotograf. Jetzt zeigt er das Leben in seinem Land in Kriegszeiten. Für sein nächstes Projekt wird er mehrere Wochen das Leben von Jugendlichen dokumentieren, die an den Frontlinien leben.

    Foto: Mykhaylo Palinchak

    Heft 47/2023, 24.11.2023

    Da ist dieser Ort, von dem sie immerzu träumt. Sie wurde dort geboren, war Kind, Jugendliche, erster Job, erster Kuss, erste Liebe. Nicht weit vom Meer, im Osten der Ukraine. Wie oft saß sie am Ufer, blickte auf die Wellen, hörte Musik. Wie oft besuchte sie die Großeltern, zusammen aßen sie Fisch, nirgends schmeckt er wie dort, sagt sie. Natürlich wusste sie beim letzten Mal nicht, dass es das letzte Mal sein würde. Sonst hätte sie es anders abgespeichert. Heute kann sie öffentlich nicht einmal mehr den Namen ihrer Heimat sagen, aus Angst, dass ihren Angehörigen etwas zustoßen könnte, die Russen haben den Ort besetzt. Sie selbst hat es geschafft zu fliehen, lebt jetzt ganz im Westen des Landes, während ihre Eltern und die Großmutter weiter zu Hause ausharren. Zwei Monate nach Kriegsbeginn ließ sie sich daher die Tätowierung stechen, die Umrisse der Ukraine, dazu das Herz im Osten. Sie sagt, sie trage oft einen Ausschnitt, damit man die Tätowierung gleich sieht. Wird sie darauf angesprochen, kann sie erzählen: von ihrem Großvater, der vorigen Sommer starb und dem sie nicht Lebewohl sagen konnte. Von ihrer Großmutter, mit der sie nicht mehr sprechen kann, weil dieser am Telefon sofort die Tränen kommen, wenn sie die Enkelin hört. Von der Lüge, die Ostukraine hätte immer zu Russland gehören wollen. Den Schmerz beim Stechen habe sie gebraucht, sagt sie. Er habe die Qualen in ihrem Inneren endlich körperlich spürbar gemacht.
    Marius Buhl

    Der Fotograf Mykhaylo Palinchak, 38, kommt ursprünglich aus Uzhgorod, der westlichsten Stadt der Ukraine. Bei einem Heimatbesuch traf er in einem Café auf die Frau mit dem Tattoo. Das Rosa, sagt Palinchak, erinnerte ihn an die Kirschblüte von Uzhgorod.

    Foto: Katya Moskalyuk

    Heft 46/2023, 17.11.2023

    Ivan Marchak, Pionier der ukrainischen Streitkräfte, war als Minenräumer in der Region Mykolajiw im Einsatz, nahe der umkämpften Front bei Cherson, als ihm ein Sprengsatz beide Unterschenkel zerriss. Sie mussten unterhalb des Knies amputiert werden. Im Februar 2023 war das. Dieses Foto zeigt ihn sieben Monate später zusammen mit seiner Frau Anna bei einer Kinovorführung in einer umgebauten Halle des Superhumans Centers bei Lwiw. Die Spezialklinik für Amputationen und Prothesen war erst im Frühjahr dieses Jahres eröffnet worden, um der wachsenden Zahl an Kriegsversehrten Herr zu werden. Darunter sind viele Minenopfer. Kaum ein Land ist so stark minenverseucht wie die Ukraine, rund ein Drittel der Landesfläche ist betroffen. Weite Teile im Osten und Süden des Landes wurden von russischen Truppen vermint, darunter viel Ackerland. Es wird Jahrzehnte dauern, sie zu säubern. Ivan ist erst am Anfang seiner Reha. Aufstehen, Gehen, Treppensteigen – all das musste er mit seinen Unterschenkelprothesen neu lernen. Für seine sechsjährige Tochter Maria sei Ivans Verletzung zunächst traumatisch gewesen, sagt Anna. Jetzt aber finde sie, ihr Vater sei »ein Superheld mit neuen Beinen«, so wie die Action-Figur Iron Man. Auf ihrem Instagram- Konto dokumentiert Anna die Fortschritte ihres Mannes. Einmal sieht man die beiden sogar tanzen. Er im Rollstuhl, sie um ihn herum. Sie tanzen ihren Hochzeitswalzer nach und sehen trotz allem sehr glücklich aus. Thomas Bärnthaler

    Die Fotografin Katya Moskalyuk, 41, lebt in Lwiw und dokumentiert den Krieg seit dessen Beginn. Im Superhumans Center ist sie regelmäßig. Für sie ist es »ein Ort, an dem Kriegsversehrte, die zunehmend das Straßenbild prägen, ihre Würde wiederbekommen«.

    Heft 45/2023, 10.11.2023

    Die Frau mit dem roten Helm auf dem Kopf ist 47 Jahre alt. Sie heißt Olena, ihren Nachnamen verrät sie nicht, und lebt in einem Dorf in einer eigentlich wohlhabenden Gegend, der Industrie- und Kohleabbauregion Dniprope­trovsk in der östlichen Ukraine, im Donbass also, wo sich pro-russische Separatisten und Ukrainer seit 2014 bekämpfen. Fast alle im Dorf arbeiten in der Steinkohlemine, Olena war 18, als sie dort anfing, damals noch nicht unter Tage. Es war den Ukrainerinnen verboten, unter Tage zu arbeiten, doch nun fehlen die Männer. 800 Männer, die in diesem Bergwerk gearbeitet haben, kämpfen im Krieg gegen die Russen oder haben im Krieg gegen die Russen gekämpft, jedenfalls sind sie nicht da, und so haben sich die Sitten gelockert – und die Frauen sich emanzipiert. Denn unter Tage verdient Olena ungefähr doppelt so viel wie vorher. Die Arbeit in den tiefen Stollen der ukrainischen Bergwerke ist allerdings auch gefährlich, schon zu sowjetischen Zeiten wurde viel zu wenig investiert und gewartet, doch die Menschen in der Ukraine brauchen die Kohle, um heizen zu können und ihre Industrie am Laufen
    zu halten. Und weil sie gebraucht werden, verlassen Menschen wie Olena die Heimat nicht, so ist es ja meistens. Wer Arbeit hat, die gebraucht wird, oder wer von den alten Eltern gebraucht wird oder von den Ziegen und den Kühen und den Hunden und den Hühnern,
    der geht nicht fort, der bleibt. Gabriela Herpell

    Ohne diesen Krieg, sagt Oksana Parafeniuk, 34, wäre sie vielleicht nicht Fotografin geworden, doch nun hat sie das Bedürfnis, die Lage in ihrem Land zu dokumentieren. Ihr Sohn ist ein Jahr und vier Monate alt. Noch findet er es aufregend, wenn Alarm in Kiew ist und sie nachts in der U-Bahn Schutz suchen.

    Heft 44/2023, 3.11.2023

    Foto: Katya Moskalyuk

    Dieser Krieg ist schwer begreifbar, selbst für Journalisten, Politikerinnen, Soldaten an der Front. Wie sollte Maryna, deren Pferdeschwanz auf dem Bild zu sehen ist, ihn verstehen? Ihr Körper ist 26 Jahre alt, ihr Denken ähnelt dem einer Zehnjährigen. Als die ersten Bomben Charkiw trafen, wurde das Krankenhaus evakuiert, das ihr annähernd ein Zuhause gewesen war. Aber das Bild von ihrem Freudensprung erzählt eine andere Geschichte, größer als Maryna, sie handelt vom gesellschaftlichen Umgang mit Abweichungen: Das ukrainische Gesundheitssystem fußt auf der Zeit der Sowjetunion, Menschen mit psychischen Krankheiten und geistigen Beeinträchtigungen werden oft isoliert. Die Initiative »Mentale Gesundheit für die Ukraine« und die Journalistin Marharyta Tulup setzen sich für betreute Wohnheime ein – gemeinschaftlicher und eigenständiger zugleich. Im September besuchte Tulup mit der Fotografin Katya Moskalyuk erstmals ein neues Haus, fernab der Front, in der Nähe eines Parks in Lwiw. Dort trafen sie Maryna, die sich wie alle Bewohner nur mit ihrem Vornamen vorstellte. Maryna nahm Marharyta Tulup an der Hand und mit in ihr eigenes Reich. Sie präsentierte die Minnie-Maus-Sammlung auf ihrem Bett. Den Spiegel, vor dem sie so gern sitzt, ihr Bild im Blick. Ein Zimmer für sich allein ist selbst im Krieg ein Grund zur Luftsprungfreude. So frei wie hier war Maryna vielleicht noch nie. Daniela Gassmann

    Die Fotografin Katya Moskalyuk, 41, wohnt in Lwiw und dokumentiert den Krieg seit Tag zwei. Das neue Wohnheim, das sie mehrmals innerhalb einer Woche besuchte, ist für sie ein hoffnungsvoller Ort – sogar ein Aquarium gibt es dort.

    Foto: Rafael Yaghobzadeh

    Heft 43/2023, 27.10.2023

    Kann es etwas Traurigeres geben als ein Kindergrab im Krieg? Dieses hier gehört Dudnik Maksim Dmitrievitch und liegt in der ukrainischen Kleinstadt Isjum. Maksim kam am 27. Januar 2016 zur Welt und starb am 22. März 2022, als die russische Armee Isjum beschoss und eroberte. Man begrub ihn im Kiefernwald am Rande der Stadt, zusammen mit mehr als 400 anderen Opfern dieser Kämpfe. Er wurde sechs Jahre alt. Ein halbes Jahr später, im September 2022, konnte die ukrainische Armee Isjum befreien. Nun wurden die Leichen in den Behelfsgräbern im Wald exhumiert und – soweit möglich – identifiziert. So kam es, dass man Maksim zum zweiten Mal beerdigte – diesmal auf dem regulären Friedhof der Stadt. Dort ist sein Grab nicht zu übersehen. Es ist mit Plastikblumen geschmückt, mit einer Figur des Superhelden Captain America, mit einer Flotte von Spielzeugautos, in der sich auch ein kleiner Panzer versteckt. Waren das vielleicht die Autos, mit denen Maksim gespielt hat, als er noch lebte? Wir wissen es nicht, und auch über das Schicksal von Eltern, Verwandten und Geschwistern ist nichts bekannt. Sicher ist bloß, dass es noch Menschen gibt, die sich an Maksim erinnern, die um ihn trauern und ihn vermissen. Das sieht man dem Grab an. Dudnik Maksim Dmitrievitch, sechs Jahre alt, starb am 22. März 2022 – eines von fast 600 Kindern, die bisher in diesem Krieg ums Leben gekommen sind. Johannes Waechter

    Der französische Fotojournalist Rafael Yaghobzadeh, 32, war seit 2014
    Dutzende Male in der Ukraine. Isjum besuchte er bisher dreimal – direkt nach der Befreiung und dann noch zweimal in diesem Jahr, zuletzt Mitte September, als dieses Bild entstand.

    Foto: Mykhaylo Palinchak

    Heft 42/2023, 20.10.2023

    Wolodymyr Wakulenko vergräbt sein Tagebuch am 23. März 2022 im Garten seines Elternhauses unter einem jungen Kirschbaum. Einen Tag später holen ihn die Russen. Wakulenko lebt damals als Schriftsteller in Isjum im Oblast Charkiw und hilft als Freiwilliger der ukrainischen Armee, bringt Zigaretten und Lebensmittel an die Front. Er wird zusammen mit seinem siebenjährigen autistischen Sohn von den Besatzern abgeführt. Der Junge kommt wieder frei, der Vater bleibt verschwunden. Im September 2022, nach der ukrainischen Gegenoffensive, werden dann die Massengräber von Isjum ausgehoben. In Wakulenkos Körper stecken zwei Kugeln. Zur gleichen Zeit suchte die Schriftstellerin Wiktorija Amelina nach Wakulenkos Tagebuch und fand es unter dem Kirschbaum. Sie brachte es nach Charkiw ins Literaturmuseum. Mitte Juni 2023 erschien der Text samt Gedichten mit Unterstützung des ukrainischen PEN-Clubs als Buch. Kurz darauf fiel auch Wiktorija Amelina der russischen Aggression zum Opfer. Sie starb nach einem Raketenangriff am 27. Juni 2023 auf eine Pizzeria in Kramatorsk. Der Fotograf Mykhaylo Palinchak hat Wakulenkos Buch nun im Museum fotografiert. Auf der hier gezeigten, fast durchgehend in Rot geschriebenen Seite findet sich ein einziger Satz in Schwarz: »Ich glaube an die Streitkräfte.« Das Symbol der ukrainischen Gegenoffensive ist ein weißes Kreuz. »Der aufgeklappte Schutzumschlag sah plötzlich genau aus wie dieses Kreuz«, sagt Palinchak. Und er machte das Bild. Wolfgang Luef

    Mykhaylo Palinchak, geboren 1985, lebt in Kiew. Bei einer Reise nach Charkiw folgte er den Spuren Wolodymyr Wakulenkos. Er fotografierte die Eltern, den Sohn, den wilden Garten samt Kirschbaum und auch das Grab Nummer 319, in dem Wakulenkos Körper gefunden wurde.

    Foto: Viacheslav Ratynskyi

    Heft 41/2023, 13.10.2023

    Dieses Foto wurde am 8. August in der Stadt Pokrowsk aufgenommen. In der Nacht zuvor hatten die Russen einen Doppelangriff gestartet: Zunächst auf ein Wohnhaus mit Pizzeria, 40 Minuten später schlug eine zweite Rakete im Hotel auf der anderen Straßenseite ein – genau dann, als Retter und Polizei vor Ort waren, um Überlebende zu bergen. Der Fotograf Viacheslav Ratynskyi arbeitete an diesem Tag an der Front im Süden der Region Donezk, aber er wollte zum Ort dieses Angriffs, als er davon hörte. Ratynskyi hatte selbst viele Nächte in dem Hotel verbracht, ebenso wie viele seiner Kollegen. Erst in der Nacht kam er in Pokrowsk an. »In einem der betroffenen Häuser traf ich die Tochter des Mannes auf dem Foto. Ihr Name ist Lydia. Sie wurde verletzt, Ärzte halfen ihr, aber sie konnte nicht zurück in ihre Wohnung, weil ihr Vater sich eingeschlossen hatte und offenbar eingeschlafen war.« Am nächsten Morgen klingelte der Fotograf bei ihr: War sie inzwischen zu Hause? Ging es ihr gut? Sie ließ ihn herein, um zu zeigen, wie stark ihre Wohnung beschädigt wurde. Da sah Ratynskyi auf dem Bett einen Mann schlafen. Lydias Vater, Stanislaw, 85 Jahre alt. Seine Tochter erzählte, er schlafe die meiste Zeit. Er habe auch zum Zeitpunkt des Beschusses dort gelegen; das von der Druckwelle zerbrochene Fenster flog über seinen Kopf, und er wachte nicht auf. Ratynskyi fragte, ob er ein Foto von ihm machen dürfe, und die Tochter entschied für ihren Vater: Ja. Lara Fritzsche

    Viacheslav Ratynskyi,33, ist Fotojournalist. Im Sommer verbrachte er mehrere Wochen in Frontnähe und wohnte im Hotel »Druzhba«. Gegenüber befand sich die Pizzeria »Corleone«, in der er immer frühstückte: ein Omelett mit Käse. Auch viele Soldaten trafen dort an freien Tagen ihre Angehörigen.

    Foto: Gió Sbriz

    Heft 40/2023, 6.10.2023

    Anna war 18 Tage alt, als der Krieg begann. Damals lebte sie mit ihren Eltern in Dnipro, einer Stadt im Osten der Ukraine, nicht weit vom Atomkraftwerk in Saporischschja, in dem ihre Großmutter einen wichtigen Posten bekleidet. In der Nähe von Saporischschja, in Enerhodar, sind auch ihre Eltern aufgewachsen. Heute sind Anna und ihre Mutter Daria auf dem Weg nach Lwiw. Sie kommen aus Deutschland, aus dem hessischen Ort Bad Sooden-Allendorf, wohin sie im Januar 2023 geflohen sind. Annas Vater Yuri musste in der Ukraine bleiben. Sechs Monate lang haben sie sich nicht gesehen. Sechs Monate sind eine lange Zeit im Leben eines Babys. Es ist heiß im Zug an diesem Juli-Tag. Daria gibt Anna Wasser zu trinken, kontrolliert ihre Temperatur im Nacken. Zum Einschlafen singt sie ihr die ukrainische Nationalhymne vor. Als Anna schläft, fängt Daria an, dem Fotografen zu erzählen und sich zu erinnern. An die Invasion, die ersten Wochen mit einem Säugling im Krieg. Wie sie Anna bei Bombenalarm in die Badewanne legte, weil irgendjemand ihr gesagt hatte, die Badewanne sei für das Baby der sicherste Ort. Dass sie sich irgendwann nicht mehr allein auf die Straße traute. Als die russischen Truppen Dnipro erreichten, entschied sie sich, nach Deutschland zu fliehen. Darias Eltern seien einst aus Russland eingewandert, sie selbst sei Ukrainerin. Sie will zurück, nur wann, das weiß sie nicht. Auf dem Bahnsteig wartet Yuri, mit roten Rosen und einem weißen Teddy. Mareike Nieberding

    Kurz nach der russischen Invasion im Februar 2022 berichtete der gebürtige Italiener und in London lebende Fotograf Gió Sbriz, 55, zunächst von der slowakisch-ukrainischen Grenze aus – und wagte sich seitdem immer weiter ins Landesinnere vor. Momentan dokumentiert er den Krieg vor allem in der Region rund um Charkiw.

    Foto: Patryk Jaracz

    Heft 39/2023, 29.9.2023

    Mädchen, die in einem sommerlich goldenen Feld das Fahrradfahren lernen – ein Bild, das ganz und gar an Kindheit erinnert. Und nicht an Krieg. Im ukrainischen Dorf Birok aber ist beides Realität. In der Nacht zum 10. August 2023 griff Russland mit Drohnen ein Öllager ganz in der Nähe an. Die Rauchsäule ist auch am nächsten Tag noch hundert Kilometer weit entfernt zu sehen. An diesem Tag lernt Alina das Radfahren. Sie ist fünf Jahre alt. Anastasia, sechs, und Arina, acht Jahre alt, laufen neben Alina her und schieben sie immer wieder an, bis sie selbst die Balance halten kann. Patryk Jaracz beobachtet die Szene. Der Fotograf hat die Rauchsäule von Weitem gesehen, er wollte wissen, was los ist, als er die Kinder zufällig entdeckt. Sie lassen sich von ihm nicht stören, sie spielen hier täglich und wirken fröhlich. Ein Foto, das einen der vielen Kontraste dieses Krieges abbildet. Es wird digital hundertfach geteilt. Iryna sieht das Foto ihrer Tochter und ihrer Nichten später im Internet. Und sie kann ihre Tränen nicht zurückhalten. Zu schmerzhaft sei es zu wissen, was in ihrem Land gerade täglich passiert und dass die Kindheit ihrer Tochter in diesen Zeiten stattfindet. Denn trotz aller Freude, aller Resilienz und aller Stärke, die in diesem Bild zu sehen sind, sei das keine Kindheit, die sich irgendeine Mutter für ihr Kind wünscht. Dana Packert

    Patryk Jaracz, geboren 1990 in Polen, lebt seit Januar 2022 in Kiew. Er will sichtbar machen, welche Folgen der Krieg in der Ukraine für Land und Menschen hat. Als er dieses Foto aufnahm, war er zum ersten Mal seit sieben Monaten auf dem Weg nach Polen, um Freunde zu besuchen.

    Foto: Bartosz Ludwinski

    Heft 38/2023, 22.9.2023

    Auch im Krieg wollen Kinder spielen. Selbst wenn Clusterbomben explodieren oder Raketen einschlagen. Beides passierte rund um die namenlose Siedlung bei Siwersk in den Tagen, bevor dieses Bild entstand. Es knallte, es rauchte, und der ukrainische Geheimdienst kündigte an, dass die russische Armee wieder aktiver werde. Also kam Kuba, der Große, um Sergej, den Kleinen, zu retten. Kuba ist Frontline Volunteer. Das sind Freiwillige, die durch besonders gefährdete Gebiete nahe der Front streifen, um die Bewohnerinnen und Bewohner zu evakuieren, bevor es zu spät ist. Dabei gilt: Kinder zuerst. Denn seit dem Kriegsbeginn wurden mehr als 20000 ukrainische Kinder von ihren Eltern getrennt und nach Russland deportiert. An jenem Tag im Juli bekamen die Frontline Volunteers einen Hinweis, dass in einem der Häuser ein Kind lebt. Sie klopften, die Mutter kam heraus, und hinter ihr stürmte Sergej aus der Tür, ihr zehn Jahre alter Sohn. In seiner Hand ein Knüppel. Er fing an, die Freiwilligen zu jagen, zu necken. Also spielte Kuba mit dem kleinen Sergej, minutenlang, so erzählt es der anwesende Fotograf Bartosz Ludwinski. Währenddessen versuchte einer der anderen Freiwilligen, die Mutter davon zu überzeugen, ihr Zuhause zurückzulassen. Ohne Erfolg. Sergej und seine Mutter blieben. Fliehen oder Bleiben. Die meisten haben diese Entscheidung in den Anfangsmonaten des Krieges getroffen. Wer jetzt noch in Frontnähe lebt, bleibt für gewöhnlich. Florian Weber

    Der Fotograf Bartosz Ludwinski, 40, lebt in Hamburg und war seit dem Kriegsbeginn immer wieder wochenlang in der Ukraine. Je mehr Zeit er in der Ukraine verbringt, desto mehr Zeit benötigt er ,um sich in Deutschland wieder zu sammeln.

    Foto: Viacheslav Ratynskyi

    Heft 37/2023, 15.9.2023

    Über das Jungsein im Sommer gibt es viele Geschichten. Sie handeln von Lebenslust und gelebter Langeweile, von endloser Aufregung und Tagen, die sich ziehen wie Kaugummi, klebrig und süß. In der Industriestadt Saporischschja spielt sich der Sommer der Jugend zu einem großen Teil am Ufer des Dnjepr ab. Die Strände entlang des drittlängsten europäischen Flusses sind ein beliebter Treffpunkt für Jugendliche. Von ­einem Pier in der Nähe des Wasserkraftwerks DniproHES lässt es sich mit Anlauf oder ohne ins Wasser springen, die Schornsteine der Fabriken ­rauchen in Sichtweite. Der Tag, an dem diese Aufnahme entstand, war ein besonders heißer. Bis zu 40 Grad im Südosten der Ukraine. So erzählt es der Fotograf Viacheslav Ratynskyi, der an jenem Augusttag los­gezogen war, um die Stimmung am Pier einzufangen. Großes Aufsehen habe er ­zunächst mit seiner Kamera erregt, sagt ­Ratynskyi. Alle hätten posiert, für Profifotos vom Fotografen. Bis sich nach einer Weile niemand mehr um ihn und die Linse gekümmert habe. Ratynskyi fotografierte die Jugendlichen mehr als vier Stunden lang, dokumentierte ihre Sprünge, Küsse und Rangeleien. Und fragte sie schließlich, ob sie nicht unsicher oder verängstigt seien. Heulende Sirenen, fast stündlich. Russische Raketen. Das ­besetzte Atomkraftwerk Saporischschja nicht weitentfernt. Da hätten die Jugend­lichen nur gelacht, sagt Ratynskyi. Sie ­hätten sich längst an all das gewöhnt. Es ist Sommer, und es ist Krieg. Marei Vittinghoff

    Der Fotograf Viacheslav Ratynskyi wurde 1989 in Schytomyr geboren. ­Diese ukrainische Großstadt liegt am Ufer des Teteriw, eines Nebenflusses des Dnjepr. Seine Bilder veröffentlichte Ratynskyi bereits in internationalen Medien wie The Guardian oder The New York Times.

    Foto: Emile Ducke

    Heft 36/2023, 8.9.2023

    Vorne ein notdürftig befestigter Benzinkanister, hinten im Kofferraum acht Hennen und ein Hahn, dazu vier Katzen auf der Rückbank. Was ist die Geschichte dieses Autos, wollte der Fotograf Emile Ducke wissen und sprach das Paar nahe der Großstadt Charkiw an. Switlana Holub, 52, und Serhij Wodores, 66, gehören zu den Menschen, die bis zuletzt in ihren Häusern bleiben, auch wenn der Krieg längst ihr Nachbar ist. Als die ukrainischen Behörden neulich 37 Dörfer evakuieren wollten, standen etliche Busse bereit, kaum jemand stieg ein. Gerade Älteren fehlt die Kraft zum Neuanfang, und die Liebe zu Haus und Hof ist zu groß. Seit Mai 2022 lebten Switlana und Serhij nördlich von Bachmut ohne Gas, Wasser und Strom. Sie zogen in den Keller, wo es etwas sicherer war, im Winter schliefen sie wieder oben, beim kleinen Ofen. Der Fotograf begegnete den beiden am 30. Juli, am Vortag hatte ein russisches Geschoss ihr Haus getroffen, Metallsplitter verfehlten Switlana knapp. Das war der Moment, in dem sie aufgaben. Nachbarn halfen, das beschädigte Auto fahrbar zu machen, das Paar nahm ein bisschen Hab und Gut mit und alle Tiere, die noch lebten. Alle halbe Stunde muss Serhij Benzin nachfüllen. Bekannte nehmen sie auf, sie werden wieder Strom haben, aber keine Ahnung, was dann kommen soll. Ihr Hund lief beim Beschuss weg. Switlana glaubt, dass er zurückkommt und am leeren Haus verzweifelt auf sie wartet.
    Marc Baumann

    Der Reportagefotograf Emile Ducke, 29, lebte fünf Jahre lang in Russland. Als der Krieg ausbrach, zog Ducke nach Warschau, später nach Berlin. Immer wieder reist er nun in die Ukraine.

    Foto: Mykhaylo Palinchak

    Heft 35/2023, 1.9.2023

    In der Tiefgarage des »Radisson Blu«-Hotels im Zentrum von Kiew ist ein Schutzraum de luxe entstanden: Fast nirgends in den Kellern und Bunkern der Hauptstadt der Ukraine gibt es richtige Betten, auch noch frisch bezogen. Gleich nebenan ein großer Konferenztisch, drum herum Stühle, so können Beratungen aller Art nach kurzer Unterbrechung weitergehen. Es sind vor allem Journalisten, Politiker, Diplomaten und Mitarbeiter von NGOs, die während des Krieges nach Kiew reisen und im Hotel wohnen, hin und wieder auch sensationslustige Touristen. Diese Betten sind allerdings nicht den Hotelgästen vorbehalten, laut Gesetz darf jeder, der in Not ist, den nächsten Schutzraum aufsuchen. Und obwohl immer wieder Drohnen und Raketen auf die Stadt niedergehen, obwohl der Krieg fast normal geworden ist, obwohl Schutzräume dringend nötig und natürlich viel sicherer sind als Haus- oder Wohnungsflure, nutzen die Kiewer sie kaum. Gefühlt tut das bloß ein Prozent der Menschen, sagt Mykhaylo Palinchak, der das Foto gemacht hat. In einer Zeit, sagt er, in der man Computer und Smartphones habe, in der man sich als zivilisiert und modern betrachte, wirke es wie ein Anachronismus, sich in einer Höhle verstecken zu müssen wie vor Tausenden Jahren. Gabriela Herpell

    Mykhaylo Palinchak, geboren 1985, lebt in Kiew. Er sah und fotografierte in den vergangenen Monaten sehr viele Schutzräume in der Ukraine. Gerade hatte er nach langer Zeit wieder Besuch von seiner Frau und den zwei Söhnen, seine Familie lebt seit dem Kriegsbeginn in Polen.

    Foto: Viacheslav Ratynskyi

    Keine Frisur steht so für das Weibliche und gleichzeitig für so viele Facetten, die dieses Frausein ausmachen, wie der Zopf. Er verpackt eine wilde Mähne in eine gebändigte Ordnung. Zöpfe tragen brave Mädchen und Erwachsene, die zeigen wollen, dass sie solche geblieben sind. Aber dann gibt es eben auch Pippi Langstrumpf. Zöpfe tragen Frauen, die von Männern gerettet werden wollen (Rapunzel), und Frauen, die sich selbst retten, etwa als Kämpferinnen kurdischer Milizen, oder Iranerinnen aus Protest. Und die Film-Barbie, als sie Barbieland verlässt. Für die Frauen auf dem Bild sind geflochtene Haare vor allem praktisch: Sie stören nicht beim militärischen Training, das sie gleich absolvieren werden. Olena, 48 Jahre alt, Vlada, 24, Maria sowie Elizaveta, 15 und Olenas Tochter (von links nach rechts), sind Mitglieder der Freiwilligenorganisation »Patriot«. Sollte Kiew attackiert werden, wollen sie ihre Stadt verteidigen, auch wenn sie kein Teil der Armee sind. Mehr als 42 000 Frauen gehören dem ukrainischen Militär und anderen bewaffneten Einheiten an, 5000 von ihnen kämpfen an der Front. In einer Lage, in der die meisten Menschen auf die traditionellsten Geschlechterrollen zurückfallen, die Männer kämpfen, die Frauen versorgen die Kinder, kann man das als progressiv deuten – und darf dabei niemals vergessen, dass der wahre Fortschritt doch darin bestünde, es müsste sich keine Frau die Haare flechten, weil es sich mit Zopf besser schießen lässt. Susan Djahangard

    Der ukrainische Fotograf Viacheslav Ratynskyi, 33, verbrachte in diesem Frühjahr und Sommer zweieinhalb Monate in der Nähe der Front im Süden und Osten der Ukraine.

    Heft 34/2023, 25.8.2023

    Foto: Mykhaylo Palinchak

    Heft 33/2023, 18.8.2023

    Der ukrainische Soldat, der dem russischen Kriegsschiff den gestreckten Mittelfinger entgegenhält, symbolisiert den Trotz ­eines ganzen Landes gegen ­einen vermeintlich überlegenen Angreifer. Wahrscheinlich hat sich die Szene so nie abgespielt, aber so, wie sie auf der Zeichnung festgehalten wurde, hat sie sich längst in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Am 24. Februar 2022, am ersten Kriegstag, forderte ein Offizier des Kriegsschiffes »Moskwa« die 80 diensthabenden Soldaten der ukrainischen Garnison auf der Schlangeninsel auf, sich zu ergeben. »Russisches Kriegsschiff, fick dich!«, lautete die Antwort des Marineinfanteristen Roman Hrybow.

    Am Abend jenes Tages meldete Russland die Eroberung der Insel. Hrybow kam in russische Kriegs­gefangenschaft. Sein Funkspruch wurde später auf Häuserwände gesprüht und auf T-Shirts ­ge­tragen. Schon im März 2022 rief die ukrainische Post einen Wettbewerb für eine Briefmarke­ zum Gedenken an das Ereignis aus, am 12. April 2022 erschien sie mit dem Bild ­des Zeichners Boris Groh. Zwei Tage später, am 14. April, gelang es der ­ukrainischen Armee, die »Moskwa« zu versenken. Roman Hrybow ist inzwischen aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und zurück auf der Krim. Und nun erschien auch ein Puzzle mit dem ikonischen Motiv, auf der Buchmesse in Kiew. Egal wie und wann der Krieg ausgehen
    wird, das Bild von der Schlangeninsel dürfte ihn lange über­dauern. Lars Reichardt

    Der ukrainische Fotograf Mykhaylo Palinchak, geboren 1985, lebt in Kiew. Er veröffentlicht seine Bilder in ­internationalen Zeitungen wie The New York Times oder Le Monde.

    Foto: Lisa Bukreyeva

    Heft 32/2023, 11.8.2023

    Liebes Kind, ich weiß nicht, wie du heißt, ob du acht oder zehn Jahre alt bist, ich sehe dein hübsches Kleid und hoffe, deine Mutter – es ist doch deine Mutter auf dem Foto? – legt aus alltäglicher Zärtlichkeit ihre Hand auf deine Stirn und nicht, weil du gerade Fieber hast oder Kopfschmerzen. Immerhin weiß ich, an welchem Tag dieses Bild von euch beiden aufgenommen wurde und von wem: Am 16. Juli von Lisa Bukreyeva, deren Fotos das SZ-Magazin schon mehrfach veröffentlicht hat. Sie ging an diesem Sommertag im Botanischen Garten in Kiew spazieren, da sah sie deine Mutter und dich und drückte auf den Auslöser. Wäre das Bild nicht in einem Park in Kiew, sondern, sagen wir, in Hamburg aufgenommen worden, würden bestimmt einige Spaziergänger tuscheln, ob die Mutter nicht irgendwann mal ihr Handy zur Seite legen könne. Aber da du in der Ukraine lebst und es einen Alarm gab, war es einfach notwendig, dass deine Mutter auf einen der Überwachungskanäle ihres Handys sah, um zu begreifen, um welche Bedrohung es sich handelt: Wurde der Alarm ausgelöst, weil ein Luftangriff bevorstand und Bomben auch über dem Botanischen Garten abgeworfen werden könnten? Waren Aufklärungsdrohnen unterwegs? Wurden verdächtig viele russische Kriegsflugzeuge an der Grenze zur Ukraine gesichtet? Wäre es sicherer, schnell in eine Notunterkunft zu laufen? Liebes Kind, ich hoffe sehr, dass es dir gut geht und dass dieser Krieg bald zu Ende geht. Alles Liebe, deine Susanne Schneider

    Lisa Bukreyeva, Jahrgang 1993, stammt aus Kiew und fing 2019 an zu fotografieren. Heute arbeitet sie ausschließlich als Dokumentarfotografin.

    Foto: Gerd Waliszewski

    Heft 31/2023, 4.8.2023

    Niemand weiß, ob die russischen Soldaten sich langweilten, ob sie Zielübungen machten, ob sie Serhij und seinen Vater quälen wollten. Oder ob sie mit voller Absicht ein Tier aufs Korn nahmen, das seit biblischen Zeiten für Frieden, Hoffnung und Zuversicht steht: die Taube. Jedenfalls schossen die Russen, als sie das Dorf Oleksandriwka besetzt hielten, immer wieder auf die Tauben von Serhij und seinem Vater, während die beiden im Keller ihres Hauses eingesperrt waren. Oleksandriwka liegt dreißig Kilometer westlich von Cherson, am Nordufer des Dnipro, flussabwärts vom zerstörten Staudamm. Neun Monate lang waren die Russen in Oleksandriwka, bis die ukrainische Armee das Dorf im vergangenen Herbst nach zähen Kämpfen befreite. Doch die Spuren des Krieges – zerstörte Häuser, umgeknickte Wassertürme, verminte Felder, aus- gebrannte Panzer – sind immer noch da, und die Russen auch: Bis heute beschießen sie das gesamte Gebiet regelmäßig vom anderen Ufer des Dnipro aus. Wer auch immer noch da ist: Serhij, sein Vater und die Tauben.Doch wenn Serhij am Taubenhaus den Giebel aufklappt, fliegen die Tauben alle hinaus, erheben sich in die Lüfte, stark, stolz und schön. Und auch ohne Ölzweig im Schnabel ein Symbol des Friedens, der mal war. Und irgendwann wieder kommen wird. Johannes Waechter

    Der Fotograf Gerd Waliszewski, 26, lebt in Berlin und Kiew. Er war mit der Hilfsorganisation »it troops« in Oleksandriwka – ohne solche Unterstützung, sagt er, könnten die Menschen in den vom Krieg zerstörten Gebieten nicht überleben.

    Foto: Pete Kiehart

    Heft 30/2023, 28.7.2023

    Das Leben geht weiter. Ein einfacher, ein brutaler Satz. Das Leben geht weiter, und ein von Flammen versengter Blumenkasten in Irpin erfüllt weiter seinen Zweck. Er hilft den Pflanzen beim Wachsen, bietet ihrem Wurzelwerk Halt, staut für sie das Regenwasser. 31 Tage lang war Irpin zu Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine umkämpft. Die Kiewer Vorstadt, einst für gute Luft und Pinienwäldchen bekannt, ist seit diesen 31 Tagen im Frühjahr 2022 ein Tatort, an dem unzählige Kriegsverbrechen begangen worden sein sollen, Menschen erschossen wurden und in Todesangst in ihren Häusern ausharrten. Das Haus, an dessen Zaun der US-Fotograf Pete Kiehart diesen Blumenkasten entdeckt hat, wurde mittlerweile abgerissen. Die Spuren des Krieges aber blieben, ein zerstörtes Trampolin steht noch im Garten, der Zaun und eben der Kasten. Wer hier gewohnt hat, weiß Kiehart nicht. Aber es scheint diesen Menschen einmal gut gegangen zu sein. Auf Google Maps sind Bilder aus dem Jahr 2015 hinterlegt, damals ist die Straße noch nicht geteert, aber die Häuser auf diesem Stück der Warschauer Straße in Irpin sehen da schön aus: pfirsichfarben, zur Straße hin mit Spitzgiebelfenstern und kleinen Balkonen. Manche von ihnen stehen laut Kiehart noch – und sehen aus, als wäre nie etwas geschehen. Wie auf einem Schachbrett liegen Schwarz und Weiß nebeneinander, existieren Zerstörung und Idylle gut ein Jahr danach in Irpin Tür an Tür. Denn das Leben geht weiter. Mareike Nieberding

    Der US-Fotograf Pete Kiehart, 37, dokumentiert den Krieg in der Ukraine bereits seit 2015. Damals lebte er erstmals für fast zwei Jahre in Kiew, seitdem kehrt er immer wieder für längere Zeit zurück. Die Ukraine sei für ihn in den vergangenen acht Jahren zu einer zweiten Heimat geworden, sagt Kiehart.

    Foto: Mykhaylo Palincha

    Heft 29/2023, 21.7.2023

    Im Hauptfach Krieg: Vier Schüler der Kadettenschule in Kiew proben in einem Übungs-Luftschutzkeller das korrekte Auf- und Abziehen von Gasmasken. Kinder und Jugendliche zwischen sieben und 16 Jahren besuchen diese Schule, um sich auf ein Leben beim Militär vorzubereiten. Ihre Fächer heißen Drohnen-, Waffen- und Heimatkunde, Medizinische Versorgung, Minenräumung. Kadettenschulen sind im Russischen Kaiserreich im 18. Jahrhundert entstanden und auch nach dem Zerfall der Sowjetunion erhalten geblieben. In der Ukraine fürchten sich die Menschen auch vor chemischen Waffen, wie sie im Bürgerkrieg in Syrien eingesetzt wurden. Chlorgas etwa ist schwerer als Luft, sinkt tiefer und kann in Luftschutzkeller eindringen. Im April 2022 gab es vermutlich einen Einsatz von chemischen Kampfstoffen in Mariupol. In dem Übungsbunker der Kadettenschule haben jüngere Schüler bunte Zeichnungen aufgehängt: Szenen aus Geschichten wie Alice im Wunderland, Pinocchio und Pu der Bär. Noch malen die Kadetten bunte Bilder, noch lernen sie den Krieg nur an der Tafel oder im Übungsbunker. Nach ihrem Schulabschluss aber werden viele von ihnen Kämpfer sein, die Zukunft dieses Krieges. Kerstin Greiner

    Der ukrainische Fotograf Mykhaylo Palinchak, geboren 1985, lebt in Kiew. Er veröffentlicht seine Bilder in internationalen Zeitungen wie The New York Times oder Le Monde. Die Übung auf dem rechts gezeigten Foto wurde im Juni 2023 zur Feier der Abschlussklassen abgehalten.

    Foto: Igor Ishchuk

    Heft 28/2023, 14.7.2023

    Es war dieser Blick aus dem Fenster, sagt Igor Ishchuk, weswegen
    er die Katze fotografiert habe. Weit in die Ferne gerichtet, selbstsicher, durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Dann erst sah er ihre Jungen, die hinter ihr auf den Sitzen herumtobten. Sie sind der Grund, warum die Katze zurzeit in einem alten Auto lebt. Draußen käme ihr Nachwuchs vielleicht nicht durch, glaubt das Paar, das sich um die Katzenfamilie kümmert, die beiden heißen Hena und Natalia. Was das alles mit dem Krieg zu tun hat? Ohne ihn hätten Hena und Natalia noch ihr Zuhause. Als Anfang Juni der Damm des Kachowka-Kraftwerkes brach, wurde ihr Haus bis knapp unters Dach geflutet, bis auf Weiteres ist es unbewohnbar. Also zogen sie in ein Zelt, ein Stück entfernt von ihrem Haus steht es auf einer Wiese. Igor Ishchuk war unterwegs, um die Zerstörung in den überfluteten Dörfern zu dokumentieren, als er auf dem Weg nach Snihuriwka das Zelt sah, so traf er auf Hena und Natalia. Sie ­ließen sich von ihm begleiten, als sie zum ersten Mal zurückkehrten in ihr Haus, aus dem das Wasser nach einer Woche abgeflossen war. Im Keller ihres Hauses hatten sie im vergan­genen Jahr die ersten Wochen des Krieges verbracht und ihn nur verlassen, um ihre Kühe und Ziegen zu füttern. Nun war, was einst ein Zuhause war und Schutz bot, voller Schlick, sämtliches Hab und Gut zerstört. All das fotografierte Igor Ishchuk. Aber eben auch die Katze und ihre Jungen, um die sich ein Paar kümmert, das ­gerade selbst alles verloren hat. Nicola Meier

    Der Fotograf Igor Ishchuk, 1993 in Odessa geboren, beschäftigt sich
    mit Themen wie sozialer Ungerechtigkeit oder Parallelgesellschaften.
    Zurzeit berichtet er aber vor allem
    über den Krieg in seiner Heimat.

    Foto: Jule Wild

    Heft 27/2023, 7.7.2023

    An einigen Tagen scheint der Krieg in Lwiw weit weg zu sein. Die Stadt liegt nahe der polnischen Grenze im Westen der Ukraine, mehr als 1000 Kilometer von mancher Frontlinie im Osten entfernt. In Lwiw kommt es nicht oft zu Raketeneinschlägen, eher selten muss man Angst haben, auf die Straße zu gehen. Den Ausnahmezustand sieht man dennoch, und sei es manchmal nur anhand von Details, die auf den ersten Blick verborgen bleiben könnten. Mal zeigt er sich an den blau-gelben Haargummis der Menschen hier, an Armbändern in Nationalfarben. Oder an einem Symbol, das »Trysub« genannt wird, übersetzt »Dreizack«. Der Dreizack ist ein Teil des Nationalwappens der Ukraine und seit dem Kriegsbeginn überall zu sehen, auch im ruhigen Lwiw: tätowiert auf Unterarmen, gedruckt auf Tassen, T-Shirts, Socken. Oder eben kunstvoll in den Cappuccino der deutschen Fotografin Jule Wild gemalt. Sie ist seit dem Kriegsbeginn viermal in die Ukraine gereist, um ihre ukrainischen Freunde zu besuchen. Einst im ganzen Land verteilt, wohnen inzwischen viele hier im relativ sicheren Lwiw. An jenem Tag traf sich Wild mit einer Freundin, die wie viele andere ihre Heimatstadt verlassen musste. Als die beiden sahen, was der Barista in den Milchschaum gemalt hatte, habe sich die Stimmung etwas ver-ndert, erzählt die Fotografin. Sie habe plötzlich etwas abseits der ruhigen Caféstimmung gespürt: Zusammenhalt, Kampfgeist. Und Stolz. Vivian Pasquet

    Jule Wild, 27, ist Fotografin in Hannover. Erstmals reiste sie 2019 in die Ukraine und fotografierte unter anderem das Leben der Menschen im Donbass. Seitdem besucht sie das Land immer wieder und arbeitet an einem fotografischen Langzeitprojekt, um das Leben im Krieg zu dokumentieren.

    Heft 26/2023, 30.6.2023

    Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine war keine 24 Stunden alt, da ordnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die allgemeine Mobilmachung an, also die Einberufung aller Wehrpflichtigen und Reservisten. Und er verhängte ein Ausreiseverbot für alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren. Eine archaisch anmutende Verordnung, die die individuelle Freiheit beschneidet, auf eine Art, wie man es in einer Demokratie nicht für denkbar hielt. Die auf einem Kontinent des Friedens zum Kampf an der Waffe zwingt. Und die so unverhohlen ein Geschlecht benachteiligt. Immerhin diese Ausnahmen gab und gibt es: alleinerziehende Väter sowie Väter vieler noch minderjähriger Kinder. Frauen durften das Land verlassen; viele taten das auch. Schon am 25. Februar 2022 meldete das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, dass rund 100.000 Menschen dort auf der Flucht seien; bis heute ist die Zahl auf fast 13 Millionen angewachsen. Die drei Personen auf den Fotos oben aber haben sich freiwillig den Streitkräften angeschlossen. Klementyna (links) gehört zu einer Brigade der ukrainischen Landstreitkräfte. Klementyna wurde auf der Krim geboren und lebte dort, bis Russland diese besetzte, da war Klementyna 14 Jahre alt. Hanna (Mitte) ist 37 und macht ihre Ausbildung zur Sanitäterin. Sie ist Mitbegründerin des Clubs »∄«, der als »Berghain« Kiews gilt. Rina, 23 Jahre alt, ist schon länger dabei. Sie trat im Februar 2022 der Armee bei und ging zum Sanitäterbataillon »Hospitallers«. Im vergangenen Jahr war sie für die Evakuierung der Schwerstverletzten von der Front verantwortlich. Sie sagt heute: »Es gibt nicht mehr die Aufregung wie in den ersten Wochen der Invasion. Aber du erinnerst dich an all die Menschen, die du sterben sahst – sie stehen hinter dir«. Lara Fritzsche

    Die Fotografin Daria Svertilova, 27, lebt in Paris. Sie ist in Odessa geboren und aufgewachsen. Im vergangenen Kriegsjahr war sie viele Monate lang in der Ukraine. Sie versteht sich als Dokumentationsfotografin der Menschen im Krieg.

    Foto: Lisa Bukreyeva

    Heft 25/2023, 23.6.2023

    Ohanami ist ein Wort auf Japanisch, das sich nicht einfach übersetzen lässt. Es bedeutet »Blüten betrachten«, wird aber vor allem verwendet, wenn man die Tradition meint, sich unter den blühenden Kirschbäumen zu versammeln, gemeinsam zu essen, zu trinken – vor allem Sake, den japanischen Reiswein – und sich des beginnenden Frühlings zu erfreuen. Firmen und Sportvereine reservieren in Japan oft schon mittags mit blauen Plastikplanen einen Platz, um sich dort abends versammeln zu können. In dem Park auf diesem Foto löst »Sakura«, die Blüte der Zierkirsche, solche schönen Ereignisse derzeit nicht aus. Die Bäume stehen nicht in Japan, sondern im Kyoto Park in Kiew. Die Sakura Allee in diesem Park wurde 2012 als längste Kirschbaumallee der Welt ins Guinness Buch der Rekorde aufgenommen. Kyoto und Kiew verbindet seit 1971 eine offizielle Städtepartnerschaft. Das Paar auf dem Foto fotografierte sich im vergangenen Mai unter den Bäumen – wie viele andere Kiewer und Kiewerinnen auch. In Japan symbolisieren die schon nach kurzer Zeit verwelkenden Blüten Schönheit und Aufbruch, aber auch Vergänglichkeit und einen abrupten Tod. Wahrscheinlich fühlt sich diese Bedeutung der Sakura nirgends so unmittelbar an wie in diesem Park, zu dem heute auch Schützengräben und Panzerabwehr-Igel gehören. Susan Djahangard

    Lisa Bukreyeva, 1993 in Kiew geboren, sagt, sie sei mittlerweile vorsichtiger, wenn sie ihre Fotos mache. In der Ukraine hätten die Menschen zunehmend Angst vor Kameras, weil auch Spione Aufnahmen machten und an die Russen weitergeben, die damit ihre Raketenangriffe optimieren könnten.

    Foto: Ori Aviram

    Heft 24/2023, 16.6.2023

    Ein Kind, das sich im Bunker verstecken muss, Raketen explodieren hört, Tote sieht, wird leicht traumatisiert. Ein Trauma entsteht, wenn solche Erlebnisse nicht verarbeitet werden können, wenn Menschen nicht darüber reden, keine Hilfe erhalten, sich nicht mehr gut aufgehoben fühlen. Vor allem Kinder, aber auch Erwachsene. Kriegskinder werden nicht zwangsläufig traumatisiert. Man weiß nicht sicher, warum manche Kinder resilienter sind als andere. Vermutet wird, die Widerstandsfähigkeit gegen Traumata sei in der Geborgenheit als Kleinkind begründet. Verdrängte Traumata können an die nächste Generation und sogar an die übernächste weitergegeben werden, ohne dass die Betroffenen davon ahnen. Jasnohirka ist eine Kleinstadt in der Nähe von Kramatorsk, nur 50 Kilometer westlich von Bachmut gelegen. Jasnohirka wird beinahe jede Nacht beschossen. Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation kümmern sich um die in der Kleinstadt verbliebenen Kinder, lassen sie nach der Schule malen, singen, wissenschaftliche Experimente durchführen und spielen. Und Anfang Mai haben die Kinder von Jasnohirka russische Raketen aus Papier nachgebastelt und mit Strohhalmen in die Luft geblasen. Es sind die tödlichen Waffen des Kriegsfeindes, die sie spielerisch in die Hand nehmen und damit so tun, als ob sie sich von ihnen keine Angst einjagen lassen. Spielen ist eine Art, mit einer furchteinflößenden Realität umzugehen – und Traumata hoffentlich zu verhindern. Lars Reichardt

    Der israelische Fotograf Ori Aviram, 34, arbeitet seit Oktober 2022 in der Ukraine. Aviram beschäftigte sich schon vor dem Krieg viel mit den Themen Jugend und Familie.

    Foto: Armin Smailovic

    Heft 23/2023, 9.6.2023

    Als dieses Foto Ende April entsteht, ist nur ein einziger Mensch in dieser Schule in Kupjansk, eine Frau um die 40, sie wacht über die Schulbücher und hat sie sortiert. Nun liegen sie da in Stapeln, Schulbücher in ukrainischer und in russischer Sprache, die Bücher in russischer Sprache sollen nicht mehr benutzt werden und werden in einem anderen Raum untergebracht als die Bücher in ukrainischer Sprache. Kupjansk war vom Kriegsbeginn im Februar 2022 bis zur Gegenoffensive der Ukraine im Herbst in russischer Hand. Die Besatzer brachten Schulbücher mit und ordneten an, dass ab Sommer nach russischem Lehrplan zu unterrichten sei. Manche Lehrkräfte weigerten sich und verließen die Schule, andere unterrichteten unter den Besatzern weiter, und es ist noch unklar, wie es weitergeht, ob sie von den ukrainischen Behörden angeklagt oder rehabilitiert werden. Jetzt ist Kupjansk, das vor dem Krieg fast 30 000 Einwohner hatte, halb zerstört und fast verlassen, im März wurde die Stadt evakuiert, weil sie so nah an der Front und der hart umkämpften Stadt Bachmut liegt. Die Kinder und die Lehrkräfte aus Kupjansk sehen sich, wenn überhaupt, online, das Schulhausbleibt leer. Am Tag nach der Aufnahme dieses Fotos schlägt eine Rakete hundert Meter entfernt von der Schule in das Heimatmuseum ein, zwei Menschen sterben, zehn werden verletzt. Gabriela Herpell

    Der Fotograf Armin Smailovic, Jahrgang 1968, lebt in München und Sarajevo. Es zieht ihn immer wieder in Kriegs- und Krisengebiete. Vor Kurzem war er zwei Wochen an der ukrainischen Front unterwegs und fotografierte den Alltag der Zivilbevölkerung im Krieg.

    Foto: Sebastian Backhaus

    Heft 22/2023, 2.6.2023

    Gibt es im Krieg noch Raum für ­Idylle? Ein Mann steht am Kurachower Stausee, in der Region Donezk, nur 15 Kilometer von der Front entfernt, und ­angelt Brassen. ­Einsam steht er da, mit ­
    nichts als ­Wasser, Wind und der Natur, die ihn umgibt. Er ist Soldat der ukrainischen Armee, hat aber an diesem grauen Tag frei und möchte allein sein. Er hat bereits mehrere große Fische aus dem Wasser gezogen, so berichtet es der Fotograf Sebastian Backhaus. Es ist sein Versuch, ein wenig Nor­malität zu spüren, denn das Angeln
    erinnert ihn an die Vorkriegszeit, in der er es noch gewohnt war, eine Angelrute in der Hand zu halten und keine ­Kalaschnikow. An diesem Tag, dem 28. April 2023, hat die ­ukrainische Armee mehr als 40 russische Angriffe abgewehrt. Schon morgen muss sich auch dieser Soldat wieder mit der Brutalität in seinem Land auseinandersetzen. Für diesen Moment strahlt er ­Friedlichkeit und Ruhe aus. Was man als ­Betrachtender ­dieses Fotos nicht mitbekommt, ist das Kriegsrauschen ­um ihn herum. Die Explosionen und das ­Donnern der ­Artillerie. Atash Aghamoradi

    Sebastian Backhaus, geboren 1979, ist Fotojournalist in Berlin. Viele seiner Projekte entstehen in Krisen­gebieten. Nach der Begegnung mit dem Angler machte er sich in einem Bulli wieder auf den mehr als 2000 Kilometer langen Weg zurück nach Berlin.

    Foto: Jan Garup

    Heft 21/2023, 26.5.2023

    In Statistiken scheint selbst der Krieg berechenbar. Der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte veröffentlicht Tag für Tag, wie viele Flugzeuge und Panzer des Feindes vernichtet, wie viele gegnerische Soldaten getötet wurden. Auch Russland rechnet sich den Feind auf diese Art in Stücke. Die Angaben sind schwer zu prüfen. Analysten versuchen es trotzdem. Sie wägen die Zahlen gegeneinander ab, suchen nach Belegen wie Satellitenaufnahmen oder Todesanzeigen, berechnen Kennziffern wie die durchschnittliche tägliche Verlustquote oder das Verhältnis von verwundeten zu getöteten Soldaten. Diese Rate gilt in Generalstäben als wichtige Messgröße, wie intensiv, wie tödlich Kämpfe sind. Die Sicht der Statistik hat längst Eingang in die Kultur des Krieges gefunden: Im Slang ukrainischer wie russischer Soldaten werden Gefallene oft 200er, Verwundete 300er genannt, so waren sie einst in sowjetischen Statistiken verschlüsselt. Aber in der Ukraine wehren sich Angehörige seit einiger Zeit gegen diese Codes. Unsere Toten, sagen sie, sind keine Statistik. Unsere Toten sind Brüder, Töchter, Mütter und Väter und die Liebe eines Lebens, wie Jurij. Er hatte sich freiwillig als Soldat gemeldet, im Januar. Seiner Frau Iryna sagte er zum Abschied, es werde schon gut gehen. Kaum zwei Monate später starb er an der Front, keine Zahl, keine Ziffer, ein Mensch. Nach seiner Bestattung besuchte Iryna Tag für Tag sein Grab, um mit Jurij zu sprechen, zu weinen und die Erde zu umarmen, in der er liegt. Roland Schulz

    Als der dänische Fotograf Jan Grarup, 53, Ende März in Charkiw den Friedhof Nr. 17 aufsuchte, auf dem viele Gefallene beigesetzt werden, fiel ihm eine Frau auf, die sich mit Rosen auf ein wenige Tage altes Grab warf. Es war Iryna.

    Foto: Wojciech Grzedzinski

    Heft 20/2023, 19.5.2023

    Lange hieß es, in Kriegszeiten und unmittelbar danach würden mehr Jungen als Mädchen geboren. Jüngere Untersuchungen einer New Yorker Universität legen dagegen nahe, dass häufiger Mädchen geboren werden, wenn die Rahmenbedingungen schlecht sind: Krisen, Umweltkatastrophen, Hungersnöte, Krieg. Forschende werden die Geburtenzahlen und die Geschlechterverteilung in der Ukraine aufmerksam verfolgen. Jula, 36, wurde im April in der Kinderklinik von Dnipro von Stefania entbunden. Ihr Mann blieb während der Geburt bei den größeren Kindern Paulina, 13, und Matviej, vier. Die Familie lebt in der Stadt Nowomoskowsk unweit von Dnipro. Der Fotograf Wojciech Grzedzinski machte dieses Bild drei Tage nach der Geburt, als eine Krankenschwester Stefania wog. Grzedzinski lebt seit dem Kriegsbeginn als Reporter in der Ukraine. Er berichtet, Dnipro sei ein vergleichsweise sicherer Hafen und ein Refugium für Flüchtlinge von der hundert Kilometer entfernten Front. Restaurants und Geschäfte seien geöffnet. Nur manchmal falle der Strom aus und heulten die Sirenen. Die Klinik wurde nicht beschossen, aber Sandsäcke in vielen Fenstern dort zeigen, dass man damit rechnet. Die Stadt, in der Stefania lebt, wurde schon öfter beschossen. Noch mal zur Statistik: Derzeit werden täglich nur noch fünf bis 15 Kinder in der Klinik geboren, in der Stefania zur Welt kam, so erzählt es die Krankenschwester – deutlich weniger als vor dem Krieg.
    Lars Reichardt

    Wojciech Grzedzinski, geboren 1980 in Polen, ist vor Kurzem in eine Wohnung in Dnipro gezogen. Zuvor hatte er schon ein Jahr lang praktisch in der Ukraine gelebt und war immer nur kurzzeitig nach Polen zurückgekehrt. Seine Fotoaufnahmen in der Kinder-klinik musste er lange zuvor bei den Behörden anmelden.

    Foto: Mikhail Palinchak

    Heft 19/2023, 12.5.2023

    Das Kunstmuseum in Cherson stellte eine der bedeutendsten Sammlungen der Ukraine. Seit vorigem Oktober aber sind die Rahmen leer: Allerlei Gemälde und Skulpturen aus dem 17. bis 21. Jahrhundert wurden gestohlen, 14 000 Werke etwa. Was übrig blieb, fotografierte Mikhail Palinchak im Keller des Museums. Warum die Plünderer ausgerechnet die Bilder von Wladimir Iljitsch Lenin zurückließen, weiß das Museumspersonal nicht. Aus Putins Warte ist es logisch. Kurz vor der russischen Invasion erklärte er, die Ukraine als eigenständige Nation sei eine Schöpfung Lenins. Würde also Sinn ergeben, diesen »Verräter« zurückzulassen. Oben sind nur einige Kratzer in der Wand, erzählt Palinchak. Was das Gebäude angeht, hatte man in Cherson Glück: In den Museen von Rubischne und Lyssytschansk steht kaum ein Stein mehr auf dem anderen. Die Ausstellungsräume in Okhtyrka: verwüstet. Nicht nur Museen sind betroffen: zerbombte Kirchen, zerfledderte Bibliotheken. Die russische Armee zerstört systematisch ukrainische Kultur. Zehntausende Kunstwerke wurden seit dem Angriff über die Grenzen geschafft. In Cherson führte mutiges Museumspersonal die russischen Soldaten und FSB-Agenten monatelang an der Nase herum, bis diese die versteckten Kunstwerke fanden und auf die Krim transportierten. Der dortige Museumsdirektor sagte einer Moskauer Zeitung, er werde sie hüten, bis sie ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben werden können. Wen er damit meinte, sagte er nicht. Marvin Ku

    Der ukrainische Fotograf Mikhail Palinchak, 38, befasst sich viel mit der Leere nach der russischen Besatzung. Er sah zerstörte Dörfer, Geisterstädte. Mit der Verwüstung hinterließen die Invasoren auch eine innere Leere. Deshalb, sagt er, müssen die anderen Ukrainer wie er sich dieser Landsleute annehmen – um diese Leere zu füllen.

    Heft 18/2023, 5.5.2023

    Was die Frau auf dem Foto an ihrer rechten Hand hat, ist ein tätowierter Ehering. Der Mensch, der die gleiche Tätowierung trägt, ist im russischen Krieg gegen die Ukraine gestorben. Was heute das Symbol eines schmerzhaften Verlustes ist, war eigentlich ein halber Scherz unter jungen Menschen. Im Spätsommer 2021 fragte Olexander seine Freundin Angelina, ob sie ihn heiraten wolle. Sie kannten sich da mehr als zehn Jahre lang, waren erst Nachbarn, dann Freunde, dann ein Liebespaar. Nach ein paar Jahren Trennung, weil beide zum Studieren in andere Städte gezogen waren, fanden sie sich in ihrer Heimatstadt Dnipro wieder. Die Sehnsucht war zu groß gewesen, der Kontakt nie abgebrochen. Olexanders einzige Bedingung für die Heirat: Statt echter Ringe sollten beide jeweils ein Tattoo am Ringfinger tragen. Angelina war einverstanden, und so heirateten die beiden damals 25-Jährigen am 25. September 2021 in Dnipro – dann doch noch mit echten Ringen. Hinterher verriet Olexander seiner Frau, dass er mit dem Tattoo habe testen wollen, wie weit sie gehen würde. Als fünf Monate später der Krieg in der Ukraine begann, schloss sich Olexander der Ukrainischen Nationalgarde an. Er bleibe im Hintergrund, versprach er Angelina und rief sie regelmäßig an, um zu beweisen, dass er nicht in Gefahr sei. Erst als er am 6. Oktober 2022 in der Region Donezk gefallen war, erfuhr Angelina, dass ihr Mann an vorderster Front gedient hatte. Ihren Ehering trägt sie nicht mehr, das Tattoo aber soll bleiben. Sara Peschke

    Die Fotografin Katya Moskalyuk, 41, ist seit dem zweiten Tag des Krieges mit der Kamera in ihrem Heimatland unterwegs. Sie lebt mit ihrem Ehemann in Lwiw. Er ist Ingenieur, seine Expertise wird in den zerstörten Gebieten dringend gebraucht.

    Foto: Johanna-Maria Fritz

    Heft 17/2023, 28.4.2023

    Ein Kriegsheimkehrer? Ein Soldat auf Fronturlaub? Nein, die Realität ist noch härter. Seit einem Jahr sind die Soldaten der Ukraine im Einsatz, teils wochen- und monatelang ohne Pause, ohne jede Gelegenheit, ihre Familien im Westen des Landes zu besuchen. Also nehmen viele Frauen ihren Mut zusammen und besuchen die Männer im Kriegsgebiet. Hier empfängt ein Soldat seine Frau in Slowjansk. Eine Szene, wie sie sich in diesen Tagen oft abspielt auf den Bahnsteigen im Osten. Ein trügerischer Moment des Friedens. Die Stadt liegt rund acht Zugstunden von Kiew entfernt, bis zur Front sind es von hier nur noch 25 Kilometer. Luftalarm ist Alltag, Raketen schlagen ein. Den Gesichtern vieler Männer hier ist anzusehen, dass sie mitten im Grauen leben. Aber für 24 Stunden lässt sich der Krieg ausblenden, ein bisschen zumindest. Dieser Soldat hat für seine Frau sogar Blumen zur Begrüßung besorgt. Jetzt gönnen sich die beiden einen halben Tag und eine Nacht Nähe in einem Hotel um die Ecke. Ein kurzer Traum von Normalität. Dann steigt die Frau wieder in den Zug in Richtung Westen, und ihr Mann macht sich auf zum nächsten Einsatz in Donezk, Bachmut oder Awdijiwka. Und wann die beiden sich wiedersehen, ob sie sich überhaupt wiedersehen, kann niemand sagen. Max Fellmann

    Die Fotografin Johanna-Maria Fritz, 29, ist seit vielen Jahren weltweit in Krisengebieten unterwegs und hat für ihre Arbeit mehrere Preise erhalten. Zurzeit ist sie in der Ukraine. Den Moment an diesem Bahnhof hat sie erlebt, weil ihr Auto zusammengebrochen war und sie sich per Zug auf den Weg in Richtung Front machte.

    Foto: Bartosz Ludwinski

    Heft 16/2023, 21.4.2023

    Als die ersten Raketen in der Nähe seiner Wohnung einschlugen, geriet seine Freundin in Panik. Hlib dagegen, 26 Jahre alt, drehte einfach seine Musik lauter. Ausblenden, dachte er. Weiter Musik auflegen und darin verschwinden. Seinen Nachnamen möchte Hlib hier nicht nennen. Erst wenige Wochen waren seine Freundin und er zusammen, als der Krieg sie schon wieder trennte: Sie floh über Polen nach Berlin, Hlib sitzt in Kiew fest. Früher hat er in den Clubs der Stadt gespielt, heute legt er allein in seinem WG-Zimmer auf. An seiner alten Meldeadresse treffen immer wieder Briefe mit dem Befehl ein, er solle sich zum Kampf melden. Aber Hlib rührt sich nicht. Er bleibt in seinem dunklen Versteck. Immer wieder kriechen Schuldgefühle in ihm hoch: Die Armee kämpft – und er spielt Musik? Hat man im Krieg ein Recht auf Normalität? Hlib sagt Nein, aber es ist nicht die Musik, die ihn zurückhält. Seit Jahren kämpft er gegen schwere Depressionen. Auf Reisen und in der Natur ging es ihm besser, aber hier, gefangen im Krieg, sind sie so schlimm wie nie. Ohne seine Erkrankung wäre er längst an der Front, sagte er dem Fotografen Bartosz Ludwinski, der wochenlang bei ihm wohnte. Aber in seinem Zustand – wem könne er da schon helfen? Mit Elektronik kennt Hlib sich aus. Also überlegt er manchmal, Drohnen für das Militär zu bauen. Aber dann versinkt er wieder in seinen Liedern. Am Ende sind sie es, die ihn am Leben halten. Helen Krueger-Janson

    Der Fotograf Bartosz Ludwinski, 40, lebt in Hamburg und wohnt seit Kriegsbeginn oft wochenlang bei Ukrainern. In diesem Zimmer zeigte Hlib ihm, wie er Notlichter aus LED-Lampen und Powerbanks lötet.

    Heft 15/2023, 13.4.2023

    Manchmal ist am grau­samsten, was man nicht sehen kann. Dieser Raum, eine ehemalige Zelle im Keller der Polizeiwache im Zen­trum von Cherson, ist erst mal: leer. Erst wenn man weiß, wofür er vor Kurzem genutzt wurde, entfaltet sich das Grauen, das in diesen Wänden stattgefunden haben muss. Es ist eine verlasse­ne Folterkammer des russischen Militärs. Der Fotograf Mikhail Palinchak hat diesen Raum be­sucht. Ein Polizist hatte ihn hier­hin begleitet, um zu zeigen, was die Menschen erlebten, während russische Soldaten die Stadt be­setzten. Mehr als 300 Ukrainer, so erzählt es der Fotograf, wurden in dieser und drei anderen Zellen festgehalten, manche einige Tage lang, andere sollen Monate dort verbracht haben. Gebettet auf Beton und dünnem Styropor, im­mer wieder geschlagen, bedroht, gequält. Von manchen, die in der Zelle ausharrten, fehlt bis heute jede Spur. Die Gründe, um in die­sem Verlies zu landen, konnten banal sein, es reichte offenbar schon, wenn die russischen Sol­daten ein Foto der ukrainischen Flagge auf einem Handy fanden. Oder wenn das Militär jemanden zum Reden bringen, als Kolla­borateur gewinnen, einen Willen brechen wollte. Nicht zu sehen sind ein Generator, um Stromstöße zu erzeugen. Seile, mit denen Menschen angeblich aufgehängt wurden, Gasmasken, mit denen Gefangenen die Luft zum Atmen genommen wurde. Vielleicht haben die Soldaten all das mitgenommen, als die Ukrainer die Stadt zurücker­oberten. Weiter zum nächsten Ort, an dem das Grauen eines Tages sichtbar wird. Till Krause

    Der Fotograf Mikhail Palinchak, 38, lebt in Kiew. Anfang März reiste er nach Cherson, um sich ein Bild davon zu machen, wie sich die Stadt verändert hat, nachdem sie von März bis November 2022 unter der Kontrolle des russischen Militärs gestanden hatte.

    Foto: Viacheslav Ratynskyi

    Heft 14/2023, 6.4.2023

    Manchmal, wenn in Kiew Luftalarm ausgelöst wird, läuft der ukrainische Fotograf Viacheslav Ratynskyi in eine der vielen U-Bahn-Stationen, um Menschen abzulichten, die dort Zuflucht suchen. Mal trifft er dabei auf Geschäftsleute, die zwischen Bahnhofskiosken und Rolltreppen ihre Besprechungen weiterführen, mal auf Herrchen mit ihren Hunden und Katzen. Er trifft auf spielende Kinder oder auf Alte, die auf Campingstühlen am Bahnsteig Kaffee trinken. Ratynskyi sieht den Alltag Kiews, unter die Erde verlagert. Kaum jemand, so erzählt er es, wirkt hier noch aufgeregt, während man auf das Ende der Angriffe wartet. Das gilt auch für diese Schülerinnen, die munter einer Mathestunde ihrer Lehrerin folgen. Ihre Schule hat keinen Luftschutzbunker, deshalb kommt die Klasse bei Luftalarm immer wieder hierher, als sei Unterricht nahe der Gleise das Normalste auf der Welt. Nicht im Bild: all die anderen Klassen der Schule, die nicht nur Mathe pauken, sondern auch Geografie, Englisch oder Literatur. Alles Jugendliche, die ihre Schulzeit später nicht nur als Momente auf der Schulbank oder Blödeleien auf dem Pausenhof in Erinnerung haben werden, sondern eben auch als Unterrichtsstunden unter der Erdoberfläche. Nachdem der Alarm an diesem Tag vorbei war, machte der Fotograf noch Bilder von Gebäuden, die zerbombt wurden, während die Schülerinnen hier unten Mathe lernten. Sie aber kehrten wohlbehalten in ihre Klassenräume zurück. Vivian Pasquet

    Viacheslav Ratynskyi, 33, fotografiert seit 2014 den Krieg in seiner Heimat –
    erst im Donbass, jetzt im ganzen Land. Wie viele Menschen in der Ukraine
    hat er einen gepackten Rucksack mit Essen und Kleidung zu Hause, für die Stunden im Schutzraum.

    Foto: Robin Hinsch

    Heft 13/2023, 31.3.2023

    Eine Kolumne über ein Land im Krieg hat ihre Tücken. Egal wie hehr das Ziel ist, das Leben im Unrecht sichtbar zu machen, das Ergebnis bleibt ungenau. Fotos können keinen ganzen Krieg begreiflich machen, sie sind Momentaufnahmen, an einem Ort von Milliarden möglichen Orten. So ist jedes Bild auf seine eigene Art unvollständig. Zeigt es Ukrainerinnen, die sich um Essen schlagen, kann es nicht die Solidarität sichtbar machen, die in dem Land auch herrscht. Zeigt es jene, die kämpfen wollen, lässt es die aus, die kapitulieren möchten. Zeigt es die Menschen in der Ukraine, zeigt es nicht die Russen in der Ukraine. Wie unpolitisch ein einzelnes Bild wirken kann, merkt man erst, wenn man wie hier das Ausgelassene ausformuliert. Bilder polarisieren und umgehen zugleich. Es gibt Bilder, die sind
    explizit: Sie zeigen Schützengräben, Blut, Begräbnisse. Es gibt Bilder, die wirken entrückt, wie dieses hier von den wilden Pferden, die im fahlen Licht vor Tschernobyl grasen. Zeigt ein Bild Männer mit Waffen oder Frauen mit Kindern, kann es nicht zeigen, dass viele dieser Menschen vor dem russischen Angriffskrieg ein Leben führten, das nicht von ihrem Geschlecht abhängig war. Und dass es in einer so binär geprägten Zeit doppelt schwer ist, wenn man sich nicht binär zugehörig fühlt. Bilder, die den Krieg romantisieren, sind schwierig, Bilder, die den Krieg exotisieren, aber auch. Was ist mit Fotos, die die Details ästhetisieren, die eine hübsche Einzelheit herausstellen, die ungewollt verknappen und dadurch womöglich verkitschen? Manche Bilder wecken Mitgefühl, weil sie etwas vermeintlich Anknüpfungsfähiges zeigen, wie Konzertabende, Latte-to-go-Becher oder Yogakurse – aber zeigen sie noch den Krieg? Andererseits, sind nicht auch die Bilder trügerisch, die beim Anschauen zum Symbol gerinnen und den Krieg konsumierbar machen, die sug­gerieren, man könne als Betrachter hier und jetzt verstehen, was es heißt, in einem angegriffenen Land zu leben? Und zuletzt: Eine Kolumne über ein Land im Krieg kann nur Krieg zeigen, nie Frieden. Lara Fritzsche

    Robin Hinsch, 36, lebt in Hamburg und Berlin. Seit 2010 fährt er in die Ukraine, um zu fotografieren. Damals interessierte ihn die Frage, die heute viele diskutieren: Wer gehört zu Europa?

    Foto: Mikhail Palinchak

    Heft 12/2023, 24.3.2023

    Er ist schon wieder weg. Kaum aus der Kriegsgefangenschaft zu Frau und Kind zurückgekehrt, abgemagert bis auf die Knochen, zog Igor Dubyk erneut in den Krieg. Familie Dubyk lebte in Mariupol. Igor, 59, von Beruf Schreiner, aber mit Militärerfahrung, meldete sich gleich am ersten Tag des russischen Überfalls zum Dienst in der örtlichen Verteidigungsmiliz. Vier Tage später, am 28. Februar 2022, sah ihn seine Frau Oksana zum letzten Mal, bevor er in russische Kriegsgefangenschaft geriet. 200 Tage lang saß er im Gefangenenlager Oleniwka, Oblast Donezk, in der Nähe von Mariupol. Einmal am Tag bekamen die Gefangenen zu essen. Eine Minute lang gab man ihnen Zeit, aber weil die Suppen so heiß waren, schaffte es niemand aufzuessen. Igor Dubyk überlebte. Selbst den Raketenangriff vom 29. Juli, als das Lager in Oleniwka beschossen wurde und mindestens 53 ukrainische Kriegsgefangene aus Mariupol starben. Russische Militärs gaben Ukrainern die Schuld. Ukrainer wollen russische Funksprüche abgehört haben, in denen der Beschuss angekündigt worden sei. Oksana Dubyk wusste lange nicht, ob ihr Mann noch lebt. Nach einem Monat unter russischer Besatzung gelang ihr mit ihrem Sohn und ihrem Vater die Flucht nach Lwiw. Später erzählten erste ausgetauschte Kriegsgefangene, dass sie Igor in Oleniwka gesehen hätten. Am 1. Dezember 2022 wurde Igor Dubyk schließlich auch ausgetauscht. Oksana fotografierte ihren Mann am Tag der Heimkehr mit ihrem Handy. Das Foto schickte Oksana dem Fotografen MikhailPalinchak, der fotografierte es ab. Geisterhaft wirkt Igor Dubyk da. 30 Kilo hatte er in der Gefangenschaft verloren. Man mag kaum glauben, dass er wirklich schon wieder an die Front gegangen ist.
    Lars Reichardt

    Der Fotograf Mikhail Palinchak, 38, lebt in Kiew. Er lernte Oksana Dubyk kennen, als er im Auftrag der ukrainischen Hilfsorganisation »Keep Going« Geflüchtete aus dem besetzten Süden porträtierte.

    Foto: Emile Ducke

    Heft 11/2023, 17.3.2023

    Eine kaum besprochene Folge des Krieges ist die Einsamkeit der Zurückgebliebenen. Rostyslaw ist vier Jahre alt, er lebt bei seinen Großeltern im Dorf Kiwschariwka in der Region Charkiw, die Front ist wenige Kilometer entfernt. Die Eltern des Jungen sind getrennt, Gott weiß, wo sie sich aufhalten. Lebten einst 18 000 Menschen in Kiwschariwka, sind es heute nur noch ein paar wenige. Wer es sich leisten konnte, ist ins Ausland geflohen; wer nicht an der Front kämpft, zumindest nach Westen gezogen, weg von den regelmäßigen Einschlägen. Übrig geblieben sind die, die ­einen Umzug nicht schaffen. Rostys­laws Großmutter Nina würde gern weg, der Großvater aber ist dagegen. Weil er fürchtet, die Kraft für eine Flucht nicht mehr aufzubringen. Weil er sagt, dass er nicht wisse, wohin sie sollten. Und so bekam Rostys­law mit, wie ein Spiel­kamerad nach dem nächsten verschwand, wie seine Freunde weniger ­wurden, bis schließlich nur noch er da war. Der Fotograf Emile ­Ducke ist nach Kiwschariwka gekommen, weil er zeigen wollte, wie die Übriggebliebenen dem Winter trotzen. Da die Russen nicht nur auf Menschen zielen, sondern auch auf Wärmeleitungen, behelfen sich die Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfes mit Alternativen. Die Erwachsenen etwa treffen sich öfter draußen und wärmen sich an Feuertonnen und selbst
    gebauten Öfen. Für einen Vierjährigen sind diese Runden nichts. Darum spielt Rostyslaw im Schein des heimischen
    Heizstrahlers. Allein. Marius Buhl

    Der Reportagefotograf Emile Ducke, 28, lebte fünf Jahre lang in Russland,
    wo er unter anderem das Auftauen des Permafrostes in Sibirien dokumentierte. Mit Ausbruch des Krieges zog er nach Warschau, später nach Berlin. Immer wieder reist Ducke nun in die Ukraine.

    Foto: Lesha Berezovskiy

    Heft 10/2023, 10. März 2023

    Sirenen dröhnen über Kiew. Luftalarm. Die Erzieherinnen in diesem Kindergarten im Stadtzentrum sammeln eilig alle Kinder ein und führen sie über die Straße. In einem Wohnhaus gegenüber haben sie einen Keller angemietet und dort einen privaten Schutzraum eingerichtet. So kindgerecht wie möglich, mit kleinen Stühlen, etwas Verpflegung und Spielsachen, denn es kann Stunden dauern, bis das Heulen über der Stadt verhallt. Die Frauen versuchen, Ruhe zu bewahren und die Mädchen und Jungen von der Gefahr abzulenken. »Eine herzzerreißende Szene«, sagt Lesha Berezovskiy. Der Fotograf war am 23. Dezember zu Besuch im Kindergarten, um Fotos von der Leiterin Zinaida Mykolaivna zu machen. Es war einer ihrer letzten Arbeitstage vor dem Abschied in die Rente. Kurz darauf zog Mykolaivna zu ihrer Enkelin ins Ausland. Weg von den Luftalarmsirenen, den Stromausfällen und der Kälte. Aber die Trennung von ihrer Heimat und der Arbeit, der sie fast vierzig Jahre lang nachging, fällt ihr schwer. Mykolaivna überlege bereits zurückzukehren, vielleicht will sie sogar wieder arbeiten, erzählt Berezovskiy: Die Kinder würden ihr fehlen. Viola Koegst

    Lesha Berezovskiy, Jahrgang 1991, ist Fotograf in Kiew und dokumentiert
    in seinen Projekten den Krieg. »Die Arbeit hilft mir, mit der Situation umzugehen«, sagt er.

    Foto: Brendan Hoffman

    Heft 09/2023, 3. März 2023

    Da sitzen sie also in lockerem Schneidersitz mit Gebetshänden, Smartphones liegen neben ihren Matten auf dem Boden. Es ist Sonntag in einem industrieschicken Yogastudio, und eine Gruppe von Frauen sucht Entspannung. Warmes Licht, sanfte Klänge und dazu nur die Stimme der Kursleiterin Valeriya Kamenska, wie sie bittet, die Sitzposition Sukhasana zu halten, mit Anjali Mudra, aneinandergelegten Händen. Eine Szene, die in vielen Großstädten der Welt genauso aussähe. Aber das ist Kiew, und die Frauen hier lassen nicht nur Gedanken an Schwiegermütter und Nörgelchefs hinter sich, sondern einen Alltag im Ausnahme- zustand. Rund 17 Prozent ihres Heimatlandes werden von russischen Invasoren besetzt gehalten, die Menschen in diesen Gebieten leben unter Gewaltherrschaft, sind von Massakern und Verschleppung bedroht. Auch wirtschaftlich ist der Krieg eine Bedrohung, in den besetzten Gebieten liegen wichtige Stahlwerke, Weizenanbaugebiete und Bergwerke. Nur noch ein Hafen in ukrainischer Hand ist für Ausfuhren nutzbar: Odessa. Der Rest des Landes wird gezielt terrorisiert, Stromausfälle ver- hindern ein normales Leben. In Kiew dröhnt täglich Luftalarm und zwingt die Menschen in Keller und U-Bahn-Stationen. Jeder hat jemanden verloren. Ihre Stunde Yin-Yoga helfe dabei, den Kriegsstress abzubauen, sagt Valeriya Kamenska. Das klingt aus der Ferne merkwürdig, aber die Frauen in diesem Yogastudio werden es besser wissen. Lara Fritzsche

    Der Fotograf Brendan Hoffman, geboren 1980, stammt aus Albany, New York, und lebt in Kiew. Er ist mit einer Ukrainerin verheiratet, ihr Sohn kam wenige Monate nach Kriegsbeginn zur Welt.

    Foto: Brendan Hoffman

    Heft 08/2023, 24. Februar 2023

    Am Lisove-Friedhof im Norden Kiews, von Wald umschmiegt, blüht der Tod. Diese Aufnahme des Fotografen Brendan Hoffman stammt vom 28. Januar 2023, einem Samstag, aber sie hätte in diesen Kriegszeiten auch an jedem anderen Tag entstehen können. Hier, wie auf vielen anderen Friedhöfen des Landes, werden in einem fort ukrainische Soldaten beerdigt. Und so sind die großen Blumengestecke, die auf den Gräbern aufgestellt werden, gern in den Nationalfarben, bereits vorgefertigt. In Deutschland ist regelmäßig die Befürchtung zu hören, »wir« könnten uns an den Krieg »gewöhnen«. Dabei müssen »wir« uns ja nur daran gewöhnen, dass Bundestagsvizepräsidentinnen Panzer zu Wildtieren banalisieren. Im Krieg lebt nicht die Büttenrednerin von der FDP, die immer weiß, was zu liefern und zu tun wäre. Im Krieg lebt die Blumenverkäuferin vom Lisove-Friedhof, die nichts tun kann, als sich noch mehr Blumen für noch mehr Gestecke liefern zu lassen. Man gewöhnt sich an alles, anders funktioniert es ja nicht, das Weiterleben. Auf einem Friedhof gehört das Sterben zum Alltag, und im Krieg wird ein ganzes Land zum Friedhof, für Soldaten wie die vom Lisove, aber genauso für alle anderen. Der spanische Philosoph George Santayana schrieb einst: »Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen.« Patrick Bauer

    Brendan Hoffman wurde 1980 in den USA geboren und lebt seit zehn Jahren als Dokumentarfotograf in Kiew.

    Foto: Mikhail Palinchak

    Heft 07/2023, 17. Februar 2023

    Für die Menschen in der Ukraine hat der Krieg nicht im vergangenen Jahr begonnen, sondern lange vorher: am 20. Februar 2014, dem Tag, an dem die »Revolution der Würde«, wie der Euromaidan in der Ukraine heißt, blutig zu Ende ging. Monatelang hatten die Ukrainer auf dem Platz der Unabhängigkeit gegen ihren Präsidenten Wiktor Janukowitsch protestiert, weil er das lange verhandelte Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterschrieb. Am 20. Februar töteten Heckenschützen mehr als vierzig Demonstrierende, Janukowitsch floh noch in der Nacht nach Russland, kurz darauf ließ Wladimir Putin die Krim annektieren und Teile des Donbass besetzen. Seither wird dort gekämpft. Mehr als hundert Menschen kamen während der Proteste auf dem Maidan um, die Bevölkerung nennt sie die »Himmlischen Hundert«. Ihrer wird überall in Kiew mit Fotos und Denkmälern gedacht. Der Fotograf Mikhail Palinchak hat kein Auto, darum läuft er viel durch Kiew. Dabei fielen ihm diese Bilder auf. Angehörige und Freunde der Toten hängten sie an die Bäume in der Straße, in der am 20. Februar die meisten Menschen erschossen wurden. Sonne und Regen lassen die Konturen langsam verblassen, die Farben verschwimmen, wie auch die Erinnerungen an die Ereignisse immer schwächer werden, sagt Palinchak und zitiert Susan Sontag: »Heute existiert alles, um in einem Foto zu enden.« Aber, fragt er sich, was geschieht, wenn auch die Fotos verschwinden?
    Gabriela Herpell

    Mikhail Palinchak, 38, lebt in Kiew. Er rechnet mit einer neuen Offensive der Russen am 24. Februar. In Kiew fühlt er sich sicher.

    Foto: Wojciech Grzedzinski

    Heft 06/2023, 10. Februar 2023

    Wenn man den Zusammenhang ausblendet, sieht man auf diesem Foto bloß eine Winterlandschaft: Kahle Bäume, müdes Gras, nicht einmal richtig hell ist es, dabei zeigt die Uhr des Fotografen halb drei am Nachmittag. Schaut man von weiter weg oder flüchtig, könnte es der Lauf eines Bachs sein, der sich einen Hügel hinabschlängelt. Tatsächlich ist es ein Schützengraben, den die russischen Soldaten hinterlassen haben. Genauso wie den Müll, der hier liegt: Plastikflaschen, Verpackungen. Hinter den Bäumen führt eine Straße ins Dorf Pravdyne, rechts beginnen Felder, die die Bewohner früher bestellten. Bevor der Fotograf Wojciech Grzedzinski sich auf diese Wiese wagte, hatte er sich versichert, dass der Nachlass der Russen nicht auch Landminen beinhaltet. Er kommt gerade aus Pravdyne, an diesem vorletzten Tag des Jahres 2022. In dem Dorf in der Nähe von Kherson lebten rund 1220 Menschen, bevor der Krieg sie erreichte. Die meisten flohen, einige starben, weniger als 200 blieben übrig. Sie haben acht Monate brutale Besatzung hinter sich. Pravdyne bedeutet auf Ukrainisch: wahr, die Wahrheit. Grzedzinski will ihnen helfen, ihre Wahrheit zu erzählen. Im Moment heißt das vor allem: Kampf ums Überleben. Es gibt kein fließend Wasser, keinen Strom, nur ein Generator läuft, als der Fotograf sie besucht. Sollte es weiterregnen, die Erde noch matschiger werden in diesem ungewöhnlich milden Winter, kommen nur noch Autos mit Allradantrieb zu ihnen durch. Susan Djahangard

    Wojciech Grzedzinski, geboren 1980 in Polen, ist vor Kurzem in eine Wohnung in Dnipro gezogen, nachdem er seit einem Jahr praktisch in der Ukraine lebt. Anders als dieses Bild vermuten lässt, fotografiert er vor allem Menschen.

    Foto: Sebastian Backhaus

    Heft 05/2023, 3. Februar 2023

    Es tröpfelt von den Fichten in diesem Park im Zentrum von Irpin. Vorhin fiel noch Schnee, nun taut er bereits. Sascha Kremenko steht dort vor seinem Wohnblock im Matsch und Nebel und grillt. Der Strom ist wieder einmal ausgefallen. Niemand weiß, wie lange dieser Zustand anhält, manchmal dauert es ein paar Stunden, manchmal Tage. Am Tag zuvor hat die russische Armee die Infrastruktur in der Region um Kiew beschossen. Der staatliche Netzbetreiber rief daraufhin eine Notsituation aus. Kremenko hat keine Zeit zu warten, bis er wieder in der Wohnung kochen kann, denn er erwartet Gäste. Es ist der 17. Dezember, sein 34. Geburtstag. Immerhin kann er seinen Freunden so etwas Lauwarmes servieren, wenn sie später im Wohnzimmer zusammensitzen. Die Menschen in Irpin sind beeindruckend pragmatisch, sagt der Fotograf Sebastian Backhaus, der Kremenko mit dessen Vater und Tochter bei den Vorbereitungen für die Feier traf. Große Teile des Vororts der Hauptstadt waren zu Beginn des Krieges zerstört worden, auch ein benachbarter Wohnblock am Park wurde beschädigt. »Der Wiederaufbau geht unglaublich schnell voran«, sagt Backhaus, viele Gebäude stehen bereits wieder. Der Krieg ist überall spürbar, aber die Menschen fahren auf eine selbstverständliche Art mit ihrem Leben fort. Auch wenn das oft bedeutet, dass sie improvisieren müssen. Bei Sascha Kremenko gibt es heute Hühnerschenkel. Viola Koegst

    Sebastian Backhaus, geboren 1979, ist Fotojournalist in Berlin. Viele seiner Projekte entstehen in Krisengebieten, besonders häufig ist er im Irak und in Syrien unterwegs

    Foto: Brendan Hoffman

    Heft 04/2023, 26. Januar 2023

    Ein sonniger, eiskalter Wintertag im neuen Jahr 2023. Und in Kiew sieht man an den verschiedensten Ecken plötzlich diese Figuren. Betonblöcke, die ursprünglich als Barrikaden errichtet worden sind oder die Kontrollpunkte schützten, wurden ­verwandelt – bunt bemalt, mit zwei oder drei Augen versehen, mit Hütchen besetzt. So sollen sie die Kinder der Stadt ein bisschen ablenken. Auf diesem Foto stehen die fünfjährige Sofiya und ihre Großmutter Nataliya vor dem verkleideten Betonblock. Ihren Nachnamen möchte die Großmutter nicht nennen. Warum nicht? Weil Krieg ist, sagt sie dem Fotografen Brendan Hoffman. Der kennt diese Antwort schon.
    Die Angst sei groß, irgendwie herauszustechen und damit Verwandte in den von Russland besetzten Gebieten oder nahe der Kampflinie zu gefährden. Die Hauptstädter fürchten zudem, dass der russische Wunsch, Kiew einzunehmen, ungebrochen ist. Sorglose Normalität gibt es eben nicht, auch wenn die Betonblöcke jetzt lustig dreinschauen und zu lächeln scheinen. Die zehn figürlichen Kriegselemente sind von ihrem Hersteller, einer Betonfirma, verschönert und mit Fragen zu einer kleinen Rallye verbunden worden. Ziel: Alle Klötze im Stadtgebiet zu finden, ein Preisausschreiben unter dem Motto »Kinder sollten keinen Krieg sehen« animiert dazu. Lara Fritzsche

    Brendan Hoffman, geboren 1980 in den USA, arbeitet als Dokumentar-
    fotograf. Seit zehn Jahren lebt er in Kiew.

    Foto: Mikhail Palinchak

    Heft 03/2023, 19. Januar 2023

    Wer einen Krieg überstehen muss, braucht viel Energie. Im Kopf und im Herzen, aber auch in der Steckdose. An Strom mangelt es bekanntlich in der ­Ukra­ine, weil Putins Bomben und Raketen systematisch die Stromversorgung des Landes zerstören. So sind überall Schutzräume entstanden, eingerichtet von der Regierung, von Firmen und Privatpersonen. Es sind keine Bunker, sie können, wie hier in Cherson, auch mal in einem Zelt liegen. Aber alle geben den Menschen Gelegenheit, sich aufzuwärmen, andere zu treffen, heißen Tee zu trinken. Viele dieser Schutzräume haben Spielecken für Kinder, ausnahmslos alle eine Ecke mit Steckerleisten, wo die Ukrainerinnen und Ukrainer ihre Handys, Powerbanks, Tabakerhitzer und weitere wichtige Geräte aufladen – dank Dieselgeneratoren gibt es dort meistens Strom. Obwohl der Schutzraum auf diesem Bild sich in nichts von vielen anderen unterscheidet, erinnert sich der Fotograf
    Mikhail Palinchak gut an seinen Aufenthalt dort. Es war voll, rund 50 Menschen drängten sich in dem Zelt, alle erschöpft von den Beschwernissen des Alltags im Krieg, von den Sorgen um Freunde, Verwandte, die Zukunft. Alle aber auch ruhig und kämpferisch. Manche sprachen, manche schwiegen, sie blieben eine halbe Stunde oder eine ganze, dann traten sie zur Stromecke, suchten im
    Kabelgewirr nach ihrem Handy und Ladegerät und traten
    wieder hinaus in die Kälte und den Krieg, mit neuer Energie.
    Johannes Waechter

    Der Fotograf Mikhail Palinchak, 37, lebt in Kiew, ist aber viel im Land
    unterwegs, um mit sorgfältig ausgewählten Motiven den Krieg und seine Folgen zu dokumentieren. »Ich mache nur symbolische Bilder«, sagt er.

    Foto: Giovanni Culmone

    Heft 02/2023, 12. Januar 2023

    Das Zimmer ist so voll, man könnte glauben, der Mann teile es sich mit jemandem. In gewisser Weise stimmt das auch: Der 31-jährige Alexander Mihajlovic hat eine Mitbewohnerin namens Marlen Scandal. Normalerweise trifft man Marlen Scandal auf den Bühnen der queeren Clubs von Kiew, in engen Kleidern und mit aufwendig geschminktem Gesicht, alte Hits von Madonna trällernd. Sie ist eine Dragqueen, eine der bekanntesten der ukrainischen Szene – und Mihajlovics Bühnenfigur. Das Schlafzimmer ist voller Schmink- und Bastelutensilien, Kleidung und Schmuck. Oben links hängt eine Zeichnung von Marlene Dietrich, die Marlen Scandal zu ihrem Künstlernamen brachte. »Siehst du diese Kleider?«, fragte Mihajlovic den Fotografen Giovanni Culmone, als er seine überquellende Garderobe zeigte. »Sie alle gehören Marlen. Alexander gehören nur ein paar Jeans und T-Shirts!« Als die ersten russischen Raketen am 24. Februar 2022 die Stadt trafen, schlugen sie auch wenige Hundert Meter von seiner Wohnung im Osten von Kiew ein. Alexander Mihajlovic stand gerade in der Küche und kochte. Seitdem nutzt er seine Social-Media-Präsenz, um Spenden zu sammeln und über den Krieg aufzuklären. »Es ist ironisch, aber der Krieg trug auch dazu bei, Stereotype zu brechen«, sagt er. »Jetzt macht es keinen Unterschied mehr aus, wie du dich anziehst oder mit wem du schläfst. Es zählt nur, dass du Ukrainer und bereit bist, dein Land zu verteidigen.« Marvin Ku

    Giovanni Culmone, Jahrgang 1993, ist Fotograf und Filmemacher aus Rom. Im Oktober reiste er für zwei Wochen nach Kiew und fotografierte die Drag-Shows und Techno-Raves der Stadt.

    Foto: Brendan Hoffman

    Heft 01/2023, 5. Januar 2023

    Es war der 23. November, als eine der vielen an diesem Tag abgefeuerten russischen Raketen in Wyschhorod einschlug, einer kleinen Stadt 20 Kilometer nördlich von Kiew. Der Fotograf Brendan Hoffman, der schon seit neun Jahren in der Ukraine lebt und arbeitet, fuhr am selben Tag an den Ort des Einschlags, um den Angriff zu dokumentieren. Am nächsten Tag kehrte er noch einmal zurück, weil es manchmal mehr zu sehen gibt, wenn alle anderen wieder weg sind. So entstand nach Stunden, die Hoffman vor dem völlig zerstörten Apartmentkomplex verbrachte, jenes Foto, von dem er sagt, dass es verkörpert, was er an seiner Arbeit liebt: dass es selbst in den allerschlimmsten Situationen schöne Momente gibt. Eine Frau hatte zuvor ihre verängstigte Katze auf dem Balkon im obersten Stockwerk des zerstörten Gebäudes entdeckt. Alle Versuche, die Katze ins Innere des Hauses und in Sicherheit zu locken, scheiterten. Hoffman sah, wie die Katze vom Balkon stattdessen an eine andere Stelle sprang – und abzurutschen drohte. Unten nahmen zwei Soldaten und ein Helfer einen Teppich, um sie aufzufangen. Hoffman gelang es, jenen Moment zu dokumentieren, als die Katze fiel. Sie sei tatsächlich auf dem Teppich gelandet, sagt er. Schnell verschwand sie dann unter ein nahe stehendes Auto, um sich von dem Schreck zu erholen. Die Männer klatschten sich nach der erfolgreichen Rettung ab, und dann war er auch schon wieder vorbei, dieser kurze Moment voller Hoffnung inmitten all der Zerstörung. Aber es gab ihn. Nicola Meier

    Brendan Hoffman, geboren 1980 in den USA, arbeitet als Dokumentarfotograf. Seit 2013 lebt er in Kiew. In seiner Arbeit beschäftigt er sich unter anderem mit Identität, Politik und Umwelt.

    Heft 52/2022, 30. Dezember 2022

    Foto: Fabian Ritter

    Kurz vor 23 Uhr in der ukrainischen Stadt Lwiw, bald beginnt die nächtliche Ausgangssperre. Die meisten Bars haben geschlossen, Nachtclubs sowieso. Die Stadt liegt still da, als der deutsche Fotograf Fabian Ritter an einer Straßenecke Stimmen vernimmt. Die Stimmen singen Lieder des britischen Sängers Ed Sheeran und andere Popsongs: eine spontane Karaoke-Veranstaltung von Jugendlichen. Sie haben sich per Instagram zum Singen verabredet. Aus einer Musikbox schallen Playback-Melodien, ein Mikrofon steht auf dem Gehsteig, und die Mutigsten singen hinein. Ganz am Ende legen die jungen Menschen die Hand auf ihr Herz. Aus der Musikbox tönen jetzt die Klänge der ukrainischen Nationalhymne, und sie beginnen zu singen. Man kann nur erahnen, wie es im Inneren mancher von ihnen dabei aussieht. Zwar ist die Stadt Lwiw bislang von schweren Angriffen verschont geblieben, doch jeder und jede hier kennt jemanden, der für die Ukraine im Krieg kämpft. Der Fotograf berichtet später, ein bisschen beschämt seien manche der Jugendlichen gewesen, als aus dem lustigen Singsang plötzlich ein Moment von Ernsthaftigkeit und tiefem Patriotismus wurde. Trotzdem sangen alle bis zum Ende. Vielleicht als Trost, vielleicht aus Stolz, vielleicht um zu spüren: Wir sind mit unseren Gefühlen nicht allein. Dann löste sich die Gruppe auf, und es wurde wieder still. Vivian Pasquet

    Der Fotograf Fabian Ritter, 30, war seit dem russischen Überfall im Februar 2022 dreimal in der Ukraine. Ein Schwerpunkt seiner Foto-Essays liegt auf der Frage, wie der Krieg das Leben junger Menschen im Land verändert.

    Heft 51/2022, 23. Dezember 2022

    Foto: Nazar Furyk

    Der 18. November war auch in diesem Jahr ein besonderer Tag für die Schüler der Volodymyr-VelykyiKadettenschule in Kiew. Traditionell wird da der »EpaulettenTag« gefeiert. Auch die jüngsten Schüler, sechs oder sieben Jahre alt, schlüpfen in Kinderuniformen, ziehen zu Marschmusik in die Aula und geloben nacheinander laut vernehmlich, »ihrem Volk und der unabhängigen Ukraine« gegenüber loyal zu sein. Anschließend überreichen ihnen die älteren Schüler die Epauletten, junge Frauen mit gelben Blumen im Haar tanzen für sie, Eltern, Lehrer, Ehrengäste applaudieren. Nein, keiner der jungen Kadetten aus den 25 Klassen der Schule muss später eine militärische Laufbahn einschlagen, aber neben dem normalen Unterrichtsstoff lernen sie auch militärische Grundbegriffe, Disziplin und erhalten ein speziell auf das Militär zugeschnittenes Körpertraining. Und nein, keine der jungen Frauen muss Balletttänzerin werden, sie gehen zwar auf dieselbe Schule wie ihre männlichen Mitschüler, werden aber in separaten Klassen zu »jungen Damen« ausgebildet, anmutige Körperhaltung ist ein Teil davon. Und so erzählt dieses Bild nicht nur, wie Kinder und junge Männer auf den Krieg vorbereitet werden, sondern auch davon, wie traditionell die Rollenverteilung in einem Land ist, aus dem seit einem knappen Jahr Millionen von Frauen und Kindern fliehen und in der Fremde allein zurechtkommen mussten. Susanne Schneider

    Der Ukrainer Nazar Furyk, 27, ist Fotograf in Kiew. Sein Stiefvater hat ebenfalls eine Kadettenschule besucht. Furyk will den Krieg mit Bildern dokumentieren, weil »Krieg jeden betrifft«, wie er sagt.

    Foto: Brendan Hoffmann

    Heft 50/2022, 16. Dezember 2022

    Die Teatralna-Metro-Station gehört zur roten Linie, die von Osten nach Westen quer durch Kiew führt. Die Station liegt mitten in der Stadt unter der Oper und dem Theater. In der großen Halle des Untergeschosses, dort, wo die Rolltreppen weiter nach unten zu den Gleisen führen, trafen sich vor dem Krieg jeden Samstag um 19 Uhr Rentnerinnen und Rentner zum Tanz. Jetzt kommen die Menschen, wann immer die Sirenen vor russischen Raketen oder Trümmern der ukrainischen Luftabwehr warnen. Die Metro gilt hier als zuverlässig, günstig, schnell, sauber, immer noch. Und die Station ist schön, rote Marmorsäulen säumen Nischen mit Bronzefiguren, Bildern und Zitaten, die das Leben Lenins illustrieren – die allerdings wurden 2014 verhängt. Knapp vier Minuten braucht man auf der Rolltreppe hinunter zum Bahnsteig. Die Teatralna liegt 70 Meter tief in der Erde, viel tiefer als westliche U-Bahn-Haltestellen, aber nicht so tief wie die Arsenalna in Kiew, die mit 105,5 Metern die tiefste der Welt ist. Der Dnepr ist nicht weit, deshalb hat man die Teatralna so tief gebaut, aber in der gesamten Sowjetunion stellten Metro-Stationen im Zweifel immer auch eventuelle Luftschutzräume dar. Wobei die sowjetischen Architekten wohl kaum daran dachten, dass hier einmal Ukrainer vor Russen Schutz suchen würden. 67 Kilometer umfasst das Metro-Netz von Kiew, mit 52 Schutzräumen vor Putins Raketen. Lars Reichardt

    Brendan Hoffman, geboren 1980 in den USA, arbeitet als Dokumentarfotograf. Seit 2014 lebt er in Kiew. In seiner Arbeit beschäftigt er sich unter anderem mit Identität, Politik und Umwelt.

    Foto: Robin Hinsch

    Heft 49/2022, 09. Dezember 2022

    Kaum zu glauben. Als er zurückkam, waren seine Tauben noch da, damit hätte Serhii Chernyshov nie gerechnet. Aber womit kann man schon rechnen in diesem Krieg? Im März überfielen die Russen die ukrainische Stadt Irpin, wie so viele andere floh der Taubenzüchter Chernyshov, 65 Jahre alt. Die Tiere musste er zurücklassen, oben im Taubenschlag unter dem Dach seines Hauses. Bevor er ging, streute er großzügig Futter aus und ließ die Tür offen, mehr konnte er nicht tun. Obwohl sie ihm fast alles bedeuten. So viel Zeit hat er in ihre Zucht und Pflege gesteckt, so viele Preise hat er mit ihnen gewonnen, erst kurz vor dem Krieg hatten sie mal wieder den ersten Platz in einem lokalen Wettbewerb belegt. Tauben züchtet Serhii Chernyshov schon, seit er ein kleiner Junge war. Die Tiere begeistern ihn, machen ihn stolz. Er erzählt, auch der weltberühmte Boxer Mike Tyson züchte Tauben, das habe er mal gelesen, und irgendwie macht ihn auch das ein bisschen stolz. Als die Ukraine schließlich nach schweren Kämpfen Irpin zurückerobert hatte, kamen die Einwohner wieder. Die Straßen sahen schrecklich aus, Ruinen, Schuttberge, zerstörte Häuser. Chernyshov hatte Glück, sein Haus stand noch. Und nicht nur das, er stieg hinauf in den Taubenschlag und sah: Seine wunderschönen weißen Tauben waren immer noch da, viele zumindest. Und es waren, unglaublich, sogar ein paar neue gekommen. Auch um die kümmert er sich jetzt. Neue Tauben. Neue Aufgaben. Es geht weiter. Irgendwie geht es weiter. Max Fellmann

    Der Hamburger Fotograf Robin Hinsch, 35, bereist das Land schon seit 2010. Direkt nach dem Kriegsbeginn ist er wieder dorthin aufgebrochen. Er sagt: »Ich kann den Menschen in der Ukraine nicht helfen, aber ich kann ihnen durch meine Bilder das Gefühl geben, dass sie nicht allein sind.«

    Foto: Mikhail Palinchak

    Heft 48/2022, 02. Dezember 2022

    Ein Fotograf braucht Licht, um die Dunkelheit zu fotografieren. Oft ist
    Mikhail Palinchak auf dem Weg von zu Hause in sein Büro schon am Obststand vorbeigefahren, ohne dort je eingekauft zu haben. Er kennt die Obstfrau nur vom Sehen, weiß nicht einmal genau, was sie außer Weintrauben, die wahrscheinlich aus Odessa stammen, sonst noch verkauft. Jetzt hat er sie wahrgenommen. Sie steht in der Mitte seines Bildes, aber beherrschend ist die Dunkelheit um sie herum. Putin hat sie über die Ukraine gebracht, hat die Elektrizitätswerke im ganzen Land bombardieren lassen, ganz wie ein Fürst der Finsternis aus einer Erzählung Tolkiens, kühl auf die Angst der Bewohner -Kiews abzielend. Vierzig Prozent der Energie-Infrastruktur wurden in einer der größten Hauptstädte Europas zerstört, in jedem Stadtviertel wird seit Anfang November für einige Stunden der Strom abgestellt, um das Netz nicht zu überlasten. Oft mehrmals am Tag für bis zu vier Stunden. Palinchak hatte am Tag der Aufnahme 14 Stunden lang keinen Strom zu Hause, er fuhr in sein Büro, das in einem anderen Stadtviertel liegt, aber auch dort war es dunkel. Einige Läden haben sich Batterien oder tragbare Generatoren für den Fall eines Stromausfalls besorgt. Der Obststand ist so wie vor dem Krieg jeden Tag von acht Uhr morgens bis 21 Uhr geöffnet. Die Dunkelheit kommt unregelmäßig. Lars Reichardt

    Der Fotograf Mikhail Palinchak wurde 1985 in Uzhgorod, Ukraine, geboren
    und arbeitet als Fotograf in Kiew. Für ihn sind der Taktikwechsel
    Putins und die Angriffe auf die Infrastruktur der Ukraine ein implizites Einge-ständnis von Niederlagen der russischen Armee auf dem Schlachtfeld.

    Foto: Lesha Berezovskiy

    Heft 47/2022, 25. November 2022

    Diese Zimmerpflanzen wurden zurückgelassen, als Mitarbeitende eines Ärztehauses in der Siedlung Kuryliwka im Laufe der monatelangen russischen Besatzung ihren Arbeitsplatz verließen. Hier, ramponiert von den Angriffen und ohne Wasser, hätten die Pflanzenleben enden können. Doch dann reiste die Künstlerin Zhanna Kadyrova nach Kuryliwka. Für ein Kunstprojekt baut sie Skulpturen aus dem Metall zerbombter Zäune oder aus Streben von Glasdächern. Im Ärztehaus war sie auf der Suche nach Material und fand stattdessen die Pflanzen. Ganz spontan entschloss sie, ihnen »bei der Flucht zu helfen«, so nennt sie es. Gemeinsam mit Lesha Berezovskiy, dem Fotografen dieses Bildes, lud sie die Töpfe in ihr Auto und nahm sie mit in ihre Heimatstadt Kiew. Sie entfernte Glassplitter aus den Blättern, gab ihnen Wasser und Erde. Immer wieder rettete sie danach Pflanzen aus verlassenen Gebäuden nahe der Frontlinien: aus einer ausgebrannten Schule etwa oder einem zerbombten Kulturhaus. Die Erlebnisse mit ihren »Flüchtlings-Pflanzen« schreibt sie derzeit auf. Im Januar möchte sie mit ihnen nach Hannover reisen und sie bei einer Ausstellung präsentieren. Das Ärztehaus, in dem sie die ersten Pflanzen fand, wird gerade wieder aufgebaut. Irgendwann möchte sie Kadyrova dorthin zurückbringen. Nach Hause. Vivian Pasquet

    Der Fotograf Lesha Berezovskiy, 31, wuchs selbst in einer kleinen Stadt auf, die Anfang März von Russen besetzt wurde. Sie liegt in der Region Luhansk.

    Foto: Lesha Berezovskiy

    Heft 46/2022, 18. November 2022

    Eine Turnhalle im kleinen Ort Novyi Bykiv, der etwa hundert Kilometer östlich der Hauptstadt Kiew liegt. Rund 2000 Menschen leben in Novyi Bykiv. Drei Tage nach Kriegsbeginn, am 27. Februar 2022, wurde der Ort von russischen Soldaten überfallen und die Bewohner durchlebten in den ­folgenden vier Wochen eine grauenhafte Besatzung. Die Soldaten demütigten die Bewohner. Sie errichteten einen Kontrollpunkt, und wer daran vorbeikam, etwa auf dem Weg zum Hühnerfüttern oder um Verwandte zu versorgen, wurde je nach Laune der Soldaten fest­gehalten, nach Gold oder Waffen befragt, bedroht, gequält oder sogar verschleppt. Der US-Journalist Joshua Yaffa erreichte Novyi Bykiv einige Tage nach dem Abzug der Russen. Er erfuhr von einer Folterkammer im Keller eines besetzten Hauses, einer mit »Steinmauern ver­sehenen Kriechkammer von der Größe eines auf die Seite gedrehten Kühlschranks«, wie Yaffa berichtet. Gerade lang genug zum Liegen, nicht hoch genug zum Stehen. Gefangene knieten tagelang darin, zum Beispiel eine 25-jährige Lehrerin. Über­lebende erzählten von ihr, doch wo sie verblieben ist, weiß niemand. Auch in dieser Turnhalle hatten sich die Russen einge­nistet, schliefen und aßen dort. Nun leben hier Tauben. Erst wenn die neuen Fenster da sind, wird man die Tauben los. Dann soll der Turnunterricht für die Kinder wieder losgehen, und der Frieden soll zurückkommen. Lara Fritzsche

    Der Fotograf Lesha Berezovskiy, 31, wuchs selbst in einer kleinen Stadt auf, die Anfang März von Russen besetzt wurde. Sie liegt in der Region Luhansk.

    Foto: Lesha Berezovskiy

    Heft 45/2022, 11. November 2022

    Einsamkeit hat viele Gesichter. Hier im Krieg zeigt sie sich als ein Verschlag aus Stein und Holz, bedeckt von einer Plastikplane. Aufgenommen wurde das Foto in Kolychivka im Norden der Ukraine. Von der älteren Frau, die hier wohnt, ist wenig bekannt, nur dass sie Svitlana heißt, dass ihr Zuhause während der russischen Besatzung niedergebrannt wurde und dass sie keinen Ort hat, an dem sie bleiben kann. Deshalb baute sie sich aus den Resten der Hausmauern diesen Unterschlupf. Als Dusche dient ein dunkelgrüner Eimer im Geäst des Baums (links mittig im Bild). Darunter sind zwei verrostete Metallplatten zu sehen, unter denen Svitlana manchmal ein Feuer zum Kochen entfacht. Rechts daneben: Kartons mit dem Logo einer Hilfsorganisation. Der Ofen dahinter funktioniert nicht mehr, aber das Metall könnte eventuell noch etwas Geld einbringen. Darauf trotzt ein Strauß Blumen der Trostlosigkeit, als wolle Svitlana sich selbst zeigen: Ich kümmere mich um dich! Dennoch: Ganz allein ist die ältere Frau nicht mehr. Freunde des Fotografen dieser Aufnahme haben begonnen, Svitlanas Haus wiederaufzubauen. Die Freunde sind Teil eines Freiwilligenbundes, der seit dem Abzug der Russen in der Stadt Fenster einbaut, Mauern hochzieht, Dächer deckt – mit dem Ziel, Svitlana und anderen ein menschenwürdiges Zuhause zurückzugeben. Zwar muss sie noch eine Weile ausharren, aber im Winter sollte sie es ein bisschen besser haben: Der Rohbau ihres neuen Häusleins steht bereits. Vivian Pasquet

    Der Fotograf Lesha Berezovskiy, 31, wuchs selbst in einer kleinen Stadt auf, die Anfang März von Russen besetzt wurde. Sie liegt in der Region Luhansk.

    (Anmerkung der Redaktion: In Heft 44 pausierte die Kolumne, stattdessen gab es in dem Heft ein langes Stadtgespräch in Kiew, dass Sie hier nachlesen können mit SZ Plus.)

    Foto: Lisa Bukreyeva

    Heft 43/2022, 28. Oktober 2022

    Da geht man einen Weg entlang, still und kühl, vom Wald umrahmt, und blickt am Ende in sieben Gesichter. Es sind Kinder aus dem Dorf Sloboda, nahe der Stadt Tschernihiw. Das jüngste ist acht, das älteste 15. Aus alten Reifen haben sie einen Grenzposten aufgetürmt, in der Mitte ein Stecken mit der wehenden Flagge ihrer Heimat. Sie fragen, ob man etwas spenden will, nur ein paar Münzen. Für die Soldaten. Im Tausch dafür kriegt man Süßigkeiten. Seit der Invasion stehen überall in der Ukraine Kinder an solchen Posten, als Soldaten verkleidet, um ihre Straße zu bewachen. Ob sie auch in Friedenszeiten dort stünden? Vielleicht trügen sie dann kein Flecktarn, sondern bereits Halloween-Kostüme, die sie den Eltern nach kindlicher Überredungskunst aus den Rippen geleiert haben, eine Disney-Prinzessin, ein Vampir, vielleicht sogar ein Soldat – aus eigenem Jux und nicht, weil es die Gewalt gerade vorlebt. Vielleicht würden sie durch den Wald streifen, auf der Jagd nach Wesen, die nur sie sehen. Die Gegend ist seit dem Frühling frei von russischen Soldaten, aber einige Gebiete sind noch vermint. Zur Dämmerung wären sie vielleicht zu Hause, um durchs Haus zu toben. Die Mutter würde sich nur darum sorgen müssen, dass sich keiner den Kopf anhaut, und der einzige Kampf, den der Vater führen müsste, wäre gegen diese kindliche Energie. Ein völlig aussichtsloser Kampf, den er sicher mit Freuden zu verlieren bereit wäre. Marvin Ku

    Die Fotografin Lisa Bukreyeva, Jahrgang 1993, stammt aus Kiew und fing 2019 an zu fotografieren. Heute arbeitet sie ausschließlich als Dokumentarfotografin.

    Foto: Edik Kryzhanivskyi

    Heft 42/2022, 21. Oktober 2022

    Im Hafen von Odesa wird ein Frachter mit Getreide beladen. Ein Anblick, den es wegen des russischen Angriffs monatelang nicht gab. Bis Ende Juli. Da unterzeichneten Ukraine und Russland die Vereinbarung für den sogenannten Getreidekorridor. Der UN-Generalsekretär António Guterres sprach von einem »Leuchtfeuer der Hoffnung«. Jahrelang war die Ukraine einer der wichtigsten Getreide-Exporteure der Welt. Bis der Krieg kam. Immerhin, das Abkommen sorgt dafür, dass jetzt wieder Schiffe den Hafen verlassen. Sie transportieren nicht nur Weizen, Gerste und Mais, sondern auch Öl, Düngemittel und andere ukrainische Erzeugnisse, den ganzen langen Weg durch das Schwarze Meer und den Bosporus in die Welt hinaus. Die Beladung eines Frachters, 20 000, 30 000 Tonnen, dauert rund fünf Tage. Alle zwei, drei Wochen können ein paar Frachter den Hafen verlassen – als Karawane. Klingt fast nach geregelten Abläufen. Aber immer wieder heulen die Sirenen: Angriffe der Russen. Die verbliebenen Arbeiter retten sich in die Luftschutzkeller und warten, Stunden, halbe Tage. Der riesige Hafen, in Friedenszeiten das wilde Herz von Odesa, liegt dann da wie eine Geisterstadt. Und all die Bars und Clubs, in denen die Menschen einst ihre langen Nächte feierten, sind leer und verlassen. Max Fellmann

    Edik Kryzhanivskyi, 29, lebt und arbeitet in Kiew. Er war früher Fotojournalist und arbeitet heute als offizieller Fotograf des ukrainischen Außenministeriums.

    Heft 41/2022, 14. Oktober 2022

    Im April wurde in der Ukraine eine Briefmarke verkauft, die bereits in kurzer Zeit zum Sammlerstück wurde. Zu sehen war ein Soldat auf der Schlangeninsel, der einem russischen Kriegsschiff den Mittelfinger zeigte. Die NGO »Chesno« (auf Deutsch: »Ehrlich«) ließ sich von dieser Briefmarke und ihrem Erfolg anregen und entwarf eine eigene Briefmarke, die auf dem Kontraktowa-Platz in Kiew ausgestellt ist. Sie zeigt die Zerstörung der von Russland gebauten Krim-Brücke, noch bevor diese am Samstag, den 8. Oktober wirklich massiv beschädigt wurde. Eine Aktion zwischen Kunst und politischer Kommunikation, die skurrile Bilder produziert. Das Foto rechts hat der Fotograf Brendan Hoffman gemacht. Die beiden Touristinnen Valya Kuma und Oksana Andryushchenkova sind gut gelaunt, sie besuchen Kiew aus dem Umland, sie machen Fotos in der Hauptstadt ihres Landes im Krieg und recken den Daumen zur damals noch fiktiven Zerstörung der Verbindungsbrücke zur annektierten Krim. Der Fotograf erfährt immer öfter in Gesprächen, dass die Menschen in der Ukraine Gerechtigkeit wollen, manche auch Rache. Doch Hoffman fragt sich, was passiert, wenn Gewalt täglich normalisiert wird. Führt das zur gesellschaftlichen Verrohung in der Ukraine? Das wäre dann ein weiterer hoher Preis für die Menschen in diesem überfallenen Land. Beyza Arslan-Tenha

    Brendan Hoffman, geboren 1980 in den USA, arbeitet als Dokumentarfotograf. Seit 2013 lebt er in Kiew. In seiner Arbeit beschäftigt er sich unter anderem mit Identität, Politik und Umwelt.

    Heft 40/2022, 7. Oktober 2022

    Die Stadt Bakhmut im Bezirk Donezk wurde zerstört. Nur ein kleiner Teil ihrer Bevölkerung ist geblieben. Es sind die Verwundbaren oder die Verzweifelten, oft sind sie beides. Und unter ihnen sind die behinderten Bewohner von Bakhmut. Olena Bondarenko ist eine von ihnen und Gründerin und Leiterin der Zivilorganisation »Hope« für Menschen mit Behinderung. Bondarenko selbst verlor nach einer erfolglosen Operation im Alter von sechs Jahren die Kontrolle über ihre Beine. »Hope« hat 197 Mitglieder, von denen noch etwa 80 in der Stadt leben. Die meisten können nicht laufen oder haben Angst, die Flucht anzutreten, weil sie befürchten, dass sie bei einer Evakuierung keine Hilfe bekommen könnten. Obwohl das ebenso für Bondarenko gilt, ist sie eine entschlossene Zurückbleiberin. »Die Frage, die uns oft gestellt wird, lautet: Warum bleibt ihr?« Sie aber findet, diese Frage gehöre umgedreht: »Warum sollten wir gehen?« Schließlich sei es ihr Land. Bondarenko sagt, dass sie an die ukrainische Armee glaube und wisse, dass niemand sie zurücklassen werde. Ein Soldat schaut regelmäßig bei ihr vorbei und bringt Medikamente. Immer, wenn er ihr Vorräte übergibt, fragt er sie, ob sie ihre Meinung über eine Evakuierung geändert habe. Aber die Antwort ist immer gleich: Nein. Sie bleibe bei den behinderten Menschen in ihrer Obhut. »Ich werde bei ihnen sein.« Sasha Maslov

    Sasha Maslov, Jahrgang 1984, ist ein ukrainisch-amerikanischer Fotograf, geboren in Charkiw in der Ukraine, wohnhaft in New York. Das Jahr 2022 hat er überwiegend in der Ukraine verbracht.

    Foto: Lisa Bukreyeva

    Heft 39/2022, 30. September

    Olena ist froh, vor dem kalten Winter neue Fenster in ihr zerstörtes Haus einbauen zu können. Bekommen hat sie diese von Freiwilligen, die beim Wiederaufbau nach den russischen Angriffen im ukrainischen Dorf Sloboda mit anpacken. Wahrscheinlich werden sie auch der alten Frau helfen, die Fenster auszutauschen – alle halten in diesen schweren Zeiten zusammen. Zuvor schafft Olena das Material mit einem alten Karren nach Hause. Dort kann sie aber nicht bleiben, ihr Haus ist noch unbewohnbar. Sie lebt derzeit bei Verwandten im Dorf. Trotz ihres Schicksals lächelt die alte Frau viel und freut sich, dass sie frei lebt, erzählt Lisa Bukreyeva. Sie hat Olena, die ihren Nachnamen aus Angst vor den Russen nicht nennen wollte, mit dem Karren am 13. August fotografiert. Für die Fotografin steht Olena sinnbildlich für viele ukrainische Frauen, die trotz ihres Schicksals weitermachen und nicht aufgeben wollen. »Sie akzeptieren, dass sie verletzt oder ganze Städte zerstört werden könnten. Sie wissen, wofür sie das tun. Freiheit kann nicht durch Kugeln zerstört werden«, sagt Bukreyeva. Dass Olena wie viele aber große Angst vor einem weiteren Angriff der Russen hat, kann sie nicht verbergen. Lina Schönach

    Lisa Bukreyeva, Jahrgang 1993, stammt aus Kiew und fing 2019 an zu fotografieren. Heute arbeitet sie ausschließlich als Dokumentarfotografin.

    Foto: Mikhail Palinchak

    Heft 38/2022, 23. September

    Sechs Monate war Artemii Palinchak, 6, von seinem Vater getrennt. Am 22. Februar nahmen der Junge und seine Mutter den Flieger nach Danzig, Polen. Der ältere Bruder, 14, folgte einige Tage später mit dem Zug. Fort vom ausbrechenden Krieg, dem Luftalarm, aber auch fort von ihrem Vater, Mikhail Palinchak, dem Fotografen dieses Bildes. Er saß in einer leeren Wohnung, keine Kinder mehr, die von Raum zu Raum rennen, kein Gelächter. Aber er war beruhigt, dass seine Familie in Sicherheit ist. »Alle Männer und alle Soldaten kämpfen für die Freiheit ihrer Kinder«, sagt er. Etwa 12 Millionen Menschen sind inzwischen aus der Ukraine geflohen – vor allem Frauen und Kinder. Millionen von Kindern, die von ihren Vätern getrennt sind. Täglich telefonierte Mikhail per Video mit seiner Frau und den beiden Söhnen, die inzwischen in Polen zur Schule gehen. In den Schulferien im August besuchte die Familie den Vater in Kiew. Die Cafés hatten wieder geöffnet, die russischen Soldaten waren weg, nur der Luftalarm ertönte noch. Alle saßen wieder gemeinsam am Tisch. Sie aßen Wassermelone an einem August-Abend. Als das Licht so schön durch das Fenster fiel, schnappte sich Mikhail seine Kamera und drückte auf den Auslöser. Ein kleiner Moment der Normalität.
    Beyza Arslan-Tenha

    Mikhail Palinchak wurde 1985 in Uzhgorod, Ukraine, geboren und arbeitet als Fotograf in Kiew. Auf die Frage, was sich an seinem Sohn in sechs Monaten verändert hat, lacht er und antwortet: »Er hat einen Vorderzahn weniger.«

    Heft 37/2022, 16. September

    Ein bisschen sehen die Angestellten eines großen Supermarktes mit Essensmeile in Kiew so aus, als habe man sie in die falsche Szenerie gesetzt. Statt vor dampfenden Töpfen gruppiert sich eine Reihe Köchinnen vor einem Strauch im Kreis; die Frauen und Männer von Wurst- und Käsetheke haben ihren Platz auf einem Stahlträger vorn im Bild gefunden. Weitere Angestellte fläzen im Gras oder stehen einfach so herum. Fast kunstvoll mutet die Anordnung der Menschen an, inmitten dieses scheinbar ruhigen Orts. Doch in Wahrheit ist es ziemlich laut: Luftalarm. Solange die Sirenen heulen, müssen alle Angestellten ihren Arbeitsplatz verlassen. Zu groß ist die Angst, dass sich die Geschehnisse wiederholen: Der Supermarkt ist Teil des Einkaufszentrums »Retroville«, das im März dieses Jahres schon einmal von der russischen Armee bombardiert wurde, acht Menschen starben. Im Hintergrund des Grashügels sieht man Fenster eines benachbarten Wohnblocks. Sie sind behelfsmäßig mit Holz vernagelt, weil die Druckwelle der Bomben das Glas splittern ließ. Gern hätte sich der Fotograf dieses Bildes mit den Menschen länger unterhalten – doch kaum, dass der Alarm vorbei war, standen sie schon auf und gingen zurück an die Arbeit. Wie nach einer ganz normalen Pause. Vivian Pasquet

    Viacheslav Ratynskyi, 32, fotografiert seit 2014 den Krieg in der Ukraine – erst im Donbass, jetzt überall im Land. Auch ein Nachbargebäude, in dem er ein Apartment besitzt, wurde bei dem Angriff auf »Retroville« beschädigt.

    Heft 36/2022, 9. September

    Lesha Berezovskiy fühlte sich schuldig, als er Ende Juni dieses Foto seiner Freundinnen und Freunde am Fluss Desna im Dorf Chapliivka nahe der russischen Grenze aufnahm. Vier Monate nach dem Kriegsbeginn kam die Gruppe zum ersten Mal wieder zusammen, in einem Sommerhaus. Drei seiner Freunde hätten um die Zeit Geburtstag gehabt und wollten zusammen feiern, erzählt der Fotograf. 300 Kilometer entfernt von Kiew – ihrer Heimatstadt – war es friedlich. Die Sonne schien, das Wasser war herrlich, sie sprangen hi-nein und konnten ungestört Zeit miteinander verbringen. Berezovskiy beobachtete die Menschen beim Schwimmen und dachte, dass es ihr letzter gemeinsamer Sommer sein könnte. »Also wollte ich diesen Moment festhalten«, sagt er. Natürlich mussten alle immer wieder an den Krieg und seine Folgen denken. Und sie schämten sich dafür, diese schönen Momente in diesen grausamen Kriegszeiten zu erleben. Einen Tag, nachdem dieses Foto entstanden war, las die Gruppe kurz nach dem Aufstehen die Nachricht, dass Kiew bombardiert worden war, 14 russische Raketen hatten die Stadt getroffen. Er wäre am liebsten da gewesen, als Kiew angegriffen wurde, erzählt er. Lina Schönach

    Der Fotograf Lesha Berezovskiy, 31, wuchs in einem Dorf in der Region Luhansk auf, das seit Ende Februar von Russen besetzt wird. »Meine Großeltern sind noch da, und ich kann sie vielleicht nicht mehr sehen«, sagt er.

    Heft 35/2022, 2. September

    Es ist der 17. März in Butscha, Region Kiew. Yura, 14, fährt mit seinem Vater Ruslan auf dem Fahrrad zum Rathaus, an dem nun Lebensmittel verteilt werden. Am Rad und um ihre Handgelenke haben sie weiße Bänder befestigt. Ein Zeichen, dass sie friedliche Zivilisten sind. Sie sind wenige Minuten unterwegs, als ein russischer Soldat sie stoppt. Sie sind unbewaffnet und heben die Arme, doch der Soldat tötet Yuras Vater mit zwei Schüssen. Yura fragt den Soldaten, ob er sich seinem Vater nähern dürfe. Als Antwort trifft ihn eine Kugel am linken Oberarm. Als er mit dem Gesicht auf dem Boden liegt, fliegt eine weitere Kugel an seinem Kopf vorbei. Er bleibt reglos liegen, bis der Soldat weitergeht. Danach rennt Yura nach Hause. Erst am Tag darauf traut sich seine Mutter, Alla, mit seiner Großmutter auf die Straße, um den Leichnam des Vaters mitzunehmen. Sie begraben ihn im Hinterhof des Hauses. Am 19. März verlässt Yura mit seiner Mutter und Großmutter Butscha. Nach einem Monat und dem Rückzug der Russen kehren sie zurück, öffnen das Grab im Hinterhof und verlegen den Leichnam auf einen Friedhof. Ende Juli lernt der Fotograf Vic Bakin in Butscha Alla und Yura kennen und erfährt ihre Geschichte. Als Bakin mit Yura durch die Nachbarschaft läuft, hält Yura an. Er zeigt auf die Stelle, wo sein Vater starb. Beyza Arslan-Tenha

    Als der Fotograf Vic Bakin, geboren 1984, Yura und dessen Mutter in Butscha besuchte, kümmerte sich Yura um die Bienen seines Vaters: »Normalerweise half er ihm um diese Zeit mit der Honig-Ernte«, erzählt Bakin. »Zum ersten Mal ist er allein dafür zuständig.«

    Foto: Mikhail Palinchak

    Heft 34/2022, 26. August

    Wie wären sich diese beiden ukrainischen Frauen in Friedenszeiten wohl begegnet? Hätten sie einander freundlich zugenickt? Oder wären sie geschäftig aneinander vorbeigeeilt, eine jede vertieft in ihr eigenes Leben? Und hätten sie das je für möglich gehalten: dass sie sich prügeln würden, auf offener Straße? Es gehört zu jedem Krieg, dass er Menschen zu etwas macht, das sie niemals sein wollten. Neben Arbeitslosen sind es Rentner und Rentnerinnen, die wie diese Frauen in einer Schlange stehen, um an Essen-Coupons zu gelangen. Die Coupons werden von Freiwilligen der Kirche in Charkiw ausgegeben, der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Sie liegt im Nordosten und wird von der russischen Armee immer wieder bombardiert. Mehr als die Hälfte der Geschäfte in der Stadt hat inzwischen geschlossen, viele Menschen haben ihre Arbeit verloren. So sind an jenem Tag mehr als 1000 Menschen gekommen, um einen der raren Coupons zu erhalten. Manche standen seit fünf Uhr früh in der Schlange. Sie wissen: Die Letzten werden leer ausgehen. Da kann man verzweifeln und die Nerven verlieren, wenn sich jemand vordrängelt. Der Kampf der Frauen dauerte zum Glück nur einen Augenblick. Letztlich verzichteten sie auf weitere Gewalt und stellten sich wieder in die Schlange. Vivian Pasquet

    Mikhail Palinchak, 37, arbeitet als Reportagefotograf. Seine Familie ist aus Kiew geflohen. Er nicht, weil er den Krieg dokumentieren will. Über die kämpfenden Frauen sagt er: »Es war bedrückend. Die anderen Menschen in der Schlange blieben aber friedlich.«

    Foto: Maxim Dondyuk

    Heft 33/2022, 19. August

    Drei Monate lang ernährten sich diese Frauen und der Mann von dem, was sie in Konserven noch im Keller hatten. Drei Monate lang mussten sie auf ihre Renten warten. Am 22. Mai, als der Fotograf Maxim Dondyuk dieses Bild aufnahm, kamen zum ersten Mal seit dem Kriegsbeginn wieder Postbeamte in das Dorf Vilkhivka in die Region Charkiw. Sie zahlten die offenen Renten aus. Gleichzeitig erreichte die Menschen im Dorf eine Hilfslieferung: ein Auto voller Lebensmittel und Wasser. Endlich konnten sie etwas Frisches zubereiten. Die Menschen begrüßten und umarmten sich an diesem Tag. Denn sie waren sich nicht sicher gewesen, wer von ihnen noch am Leben war. Während der russischen Besatzung hatten die meisten ihre Keller kaum verlassen. Die Angreifer bombardierten das Dorf ständig, erzählten die Einheimischen dem Fotografen. Es gab kein Internet, kein Telefon. Sie wussten nur, ob die direkten Nachbarn und Nachbarinnen noch lebten. Die Besatzer des Dorfes wechselten mehrmals. Zuerst kamen junge, zurückhaltende Wehrpflichtige aus Russland. Dann ältere, aggressivere Soldaten. Den Ukrainern verboten sie, nach draußen zu gehen. Die Russen sagten wieder und wieder, der Krieg würde nicht lange dauern, weil sie bald siegreich sein würden. Inzwischen sind die Besatzer aus dem Dorf abgezogen. Lina Schönach

    Maxim Dondyuk, 39, arbeitet hauptsächlich als Dokumentarfotograf. Derzeit halten seine Frau und er sich in der ukrainischen Stadt Lwiw auf. In den Monaten vor dem Kriegsbeginn arbeitete Dondyuk an einem Projekt über Tschernobyl.

    Foto: Sergiy Illyashenko

    Heft 32/2022, 12. August

    Und dann kamen die Russen doch nicht. Zum Glück. Dabei waren die Menschen hier, im äußersten Westen von Kiew, auf alles gefasst. Nur sieben Kilometer weiter auf dieser Straße, hinter einem kleinen Wald, liegt Irpin. Der Vorort war im März schwer umkämpft, Hunderte Zivilisten wurden getötet, Menschen flohen, es war das Grauen. Irpin gleicht heute einer Geisterstadt. Hier, am Westrand von Kiew, rechneten alle damit, dass die russischen Truppen als Nächstes durch den Wald vorrücken würden. Also verbarrikadierten die Bürger die kleine Verbindungsstraße, so gut sie konnten. Aber dann verschoben die Russen ihre Angriffe plötzlich in den Osten des Landes. Die Barrikaden blieben. Und schufen einen fast surrealen Ort. Die Zeichen des Krieges, aber ein Bild des Friedens: keine Autos, kein Verkehr, nur die Stille zwischen Hochhaus und Waldrand. Die Menschen, die schon geflohen waren, sind zurückgekehrt in die Siedlung. Abends gehen sie hier noch eine Runde spazieren. Kinder spielen auf den stillgelegten Wegen und klettern auf den Hindernissen herum. Eine Zwischenwelt. Wann die Betonteile weggeräumtwerden? Das weiß niemand. Es weiß ja auch niemand, wann der elende Krieg ein Ende findet. Max Fellmann

    Sergiy Illyashenko, 37, lebt im Westen von Kiew, ganz in der Nähe dieser Siedlung. Bisher arbeitete er vor allem für Werbung und Fernsehen, aber der Krieg hat alles verändert. Er will festhalten, was mit seiner Stadt passiert. Weggehen kommt nicht infrage.

    Foto: Fabian Ritter

    Heft 31/2022, 5. August

    Luda, die Markenstrategin einer Werbeagenur, stieg am 26. Mai an der Bushaltestelle der Universität in Kiew aus, es war früher Abend. Sie ging hinüber in den Park, in dem eine Statue von Mahatma Gandhi steht, dem indischen Unabhängigkeitskämpfer. Ihre Hängematte hatte sie dabei, sagt Fabian Ritter, der Fotograf, der auf den Auslöser drückte, als die Sonne unterging. Luda wollte ein wenig Normalität atmen, den Slacklinern zusehen, in die Eisdiele gehen, eine Cola trinken – das Schlupfloch finden, das der Krieg dem Alltag lässt. Die Frage, ob Luda aus Kiew oder ganz aus der Ukraine flüchten soll, stellt sich ihr kaum, denn sie müsste wohl ohne Oleg gehen, ihren Freund, der ist jung wie sie und dürfte das Land nur verlassen, wenn er einen Arbeitsvertrag im Ausland vorweisen könnte. Ludas Vater ist auch Ukrainer, ihre Mutter aber Russin. Ihre eigene Identität sei nicht mehr gespalten, sagt sie, seit Kriegsbeginn fühle sie sich mehr und mehr als Ukrainerin. Auch deshalb will sie nicht fort, und die Geschäfte und Restaurants, die immer noch offen haben, zu unterstützen, sei auch eine Form des Widerstandes. Sonntags gehen Luda und Oleg in die Kirche, beide sind überzeugt, auch patriotischer geworden zu sein. Im Park nahe der Universität war an diesem Abend Fliegeralarm zu hören. Sicherheit gibt es nicht in einem Krieg. Susanne Schneider

    Fabian Ritter feierte kürzlich seinen 30. Geburtstag in Kiew mit seinen neuen ukrainischen Freunden. Der Dortmunder Fotograf war im März erstmalig in der Ukraine und möchte demnächst wieder hin.

    Heft 30/2022, 29. Juli

    Foto: Lisa Bukreyeva

    Das ukrainische Dorf Moschun, rund 30 Kilometer von Kiew entfernt, ist umgeben von Wäldern. Inmitten der Bäume und des Grüns leuchtet es plötzlich gräulich. Die Hülle einer Artilleriegranate ist in einem Baum stecken geblieben, sie hat sich tief in das Holz eingebohrt. Der Baum steht nur etwa 100 Meter von der Hauptstraße mit ihren Wohnhäusern und Geschäften entfernt. Als die Fotografin Lisa Bukreyeva das Dorf am 9. Juli besucht, erzählt ihr ein Bewohner von der Granatenhülle im Baum. Sie sei aber nicht mehr gefährlich: Der Sprengstoff im Inneren sei bereits detoniert. Moschun ist eines der am schwersten getroffenen Dörfer in der Region um Kiew. Durch den Beschuss der russischen Armee wurden mehr als 2000 Häuser zerstört. Viele Überlebende sind geflohen. Inzwischen hat sich das russische Militär zurückgezogen, doch zuvor haben die Soldaten den Boden mit Minen präpariert. Es wird vermutlich Jahre dauern, bis die Minen geräumt und die Spuren der Einschüsse und Granaten verschwunden sein werden. Nur da, wo die Schweine des Dorfs schon wieder unbekümmert im Wald und auf den Feldern herumspazieren, trauen sich auch die Menschen hin. Die Felder müssen dringend bestellt werden – in Moschun wird nun vor allem Obst und Gemüse angebaut, als Vorbereitung auf den kommenden Winter. Beyza Arslan-Tenha

    Lisa Bukreyeva wurde 1993 in Kiew geboren und arbeitet als Fotografin. Über die Dorfbewohner in Moschun sagt sie: »Die Menschen hier haben einen starken Lebenswillen. Ihre Häuser und Erinnerungen wurden zerstört, aber sie sind daran nicht zerbrochen.«

    Heft 29/2022, 22. Juli

    Foto: Johanna-Maria Fritz

    Was werden die ukrainischen Soldaten zu Hause erzählen, wenn dieser Horror irgendwann vorbei ist? Welche Erlebnisse werden sie nachts wachhalten? Welche Erinnerungen werden sie teilen wollen – und welche versuchen, zu vergessen? Man kann nur mutmaßen, wie tief die Spuren sind, die der Krieg in diesen Söhnen, Ehemännern, Brüdern und Freunden hinterlassen wird. Gerade aber zählt nur: Die Männer sind noch am Leben. Bevor dieses Foto entstand, hatte der Trupp in Sjewjerodonezk gekämpft, im Osten der Ukraine – erfolglos. Ende Juni gab der Bürgermeister bekannt, dass die Stadt von den Russen besetzt sei. Die Eroberung gilt als strategisch wichtiger Schritt, um den Donbass vollständig zu erobern. Die ukrainischen Soldaten mussten sich zurückziehen. Flüchten, im eigenen Land. Zwei Tage lang liefen sie ohne Nahrung und Wasser durch die Lande, erzählen sie. Schließlich sammelte sie ein heimischer Militär-Truck auf. Die Erschöpfung ist ihnen anzusehen. Am Dreck in den Gesichtern und den staubigen Uniformen, vor allem aber an den Blicken: Müde sind sie, resigniert, traurig. Und es ist noch nicht vorbei. Solange der Angriffskrieg in der Ukraine tobt, müssen die Familien und Freunde dieser Männer weiter um sie bangen. Zwar haben sie bisher überlebt – doch viele sind heute schon wieder im Kampf. Nach Hause geht es noch längst nicht. Vivian Pasquet

    Johanna-Maria Fritz, 28, arbeitet als Fotografin oft in Krisengebieten. Kurz nach dem Angriff auf die Ukraine reiste sie hin und fotografiert seither immer wieder im ganzen Land. Mit vielen Soldaten und deren Angehörigen hält sie weiter Kontakt.

    Heft 28/2022, 15. Juli:

    Foto: Emile Ducke

    Für Michail Lukaschows Geburtshaus wiederholt sich die Geschichte. Vor etwa 90 Jahren baute sein Vater das kleine Haus in dem Dorf Sorokivka, rund 30 Kilometer vor Charkiw. Dann, während des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzung, zerstörte eine deutsche Bombe die Wände und das Dach. Sein Vater nahm Mörtel und Spachtel und reparierte die Schäden. Nun, während des russischen Angriffs auf die Ukraine, schlägt eine russische Granate in die Erde vor dem Haus ein. Wieder ziehen sich Risse durch die Wände, die mit den sichtbaren Balken an Gerippe erinnern – und der 85-jährige Michail Lukaschow tut es seinem Vater gleich. Mit der Spachtel in der Hand trifft ihn der deutsche Fotograf Emile Ducke Ende Mai vor seinem Haus an. Die russische Belagerung ist vorbei, das Dorf Sorokivka ist befreit. Doch die Frontlinie wurde nur verschoben. Während der Fotograf und Michail Lukaschow reden, detonieren ein paar Kilometer entfernt weitere Bomben. Der Artilleriebeschuss ist für die Bewohner des Dorfes zu einem stetigen Hintergrundonnern geworden. Dass die Kämpfe aber weiter entfernt und damit weniger gefährlich zu sein scheinen, zeigt das Verhalten der Dorfbewohner. Der 85-jährige Lukaschowund seine Frau Nadeschda reagieren gar nicht auf die dumpfenGeräusche. Sie räumen auf; sie reparieren das Haus. Es soll wieder warm werden drinnen, wenigstens das. Astrid Probst

    Emile Ducke, 28, ist ein deutscher Fotograf. Gerade ist er in Lwiw und hat vor, im Westen der Ukraine zu bleiben. Mit seiner Arbeit will er das Leben nach der russischen Besatzung dokumentieren.

    Heft 27/2022, 8. Juli:

    Foto: Mikhail Palinchak

    Es ist nicht die erste Erinnerungswand, die Leo Soto initiiert hat. Es ist die fünfte. Angefangen hatte es 2021, als bei einem Gebäudeeinsturz in Surfside, Florida, ein Freund von Soto ums Leben kam – und 97 weitere Menschen, die in der Nacht von dem Unglück überrascht wurden. Soto errichtete damals an der Unglücksstelle eine besondere Form der Gedenkwand: Er druckte Fotos der Opfer aus und befestigte sie an einem Zaun. Zwischen die Fotos schob, knotete und fädelte er Blumen. Eine Collage aus Trauer und Blütenschmuck. Soto ist überzeugt, dass es hilft, für den eigenen Schmerz einen Ort zu haben. Am 24. April, also zwei Monate nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, läuft Soto durch Lwiw. Er sucht einen guten Ort für seine Blumenwand und findet ihn am Halytsia-Platz. Bei sich hat er Pakete voller Kunstblumen, gespendet von Firmen in Warschau. Noch am selben Tag, so beschreibt er es auf seiner Instagram-Seite, nehmen die Ukrainer und Ukra-inerinnen in Lwiw die Idee an und beginnen, Fotos ihrer Toten und Vermissten aufzuhängen und Blumen zwischen die Zaunstäbe zu fädeln. Leo Soto ist inzwischen wieder in Miami, er studiert Tourismus und Gastgewerbe und will im Herbst seinen Abschluss machen.
    Lara Fritzsche

    Mikhail Palinchak ist Ukrainer und lebte die vergangenen 17 Jahre in Kiew. Jetzt reist er umher und fotografiert, dieses Foto machte er in Lwiw. Seine Frau und seine zwei Söhne sind ins Nachbarland Polen geflohen.

    Heft 26/2022, 1. Juli:

    So sollte es auf diesem Spielplatz sein: verschwitzte Jungen und Mädchen stehen hoch oben auf der Rutsche. Eltern warten mit ausgebreiteten Armen. Ein Ort wie ein Versprechen: dass ein Kind hier Kind sein darf. So war es einmal. Doch dann fielen russische Soldaten in den Ort Butscha nahe Kiew ein. Sie zerstörten Häuser, legten Minen. Durchschossen die Rutsche. Der Spielplatz steht inmitten einer großen Wohnsiedlung. Viele junge Familien leben hier, weil es etwas günstiger als Kiew ist und die Hauptstadt gut erreichbar. Die Russen töteten Väter und Mütter und machten offenbar auch vor den Kleinsten nicht halt. Noch ist nicht klar, wie viele Kinder nun Waisen sind oder getötet wurden. Als die Eindringlinge abzogen, ließen sie die Toten auf der Straße liegen. Die Bilder gingen um die Welt. Am 53. Tag nach dem Abzug fotografierte Lisa Bukreyeva die durchlöcherte Rutsche. Und sie interviewte etliche Familien. Bukreyeva hörte, dass die Soldaten betrunken gewesen seien. Dass sie ukrainischen Kindern Waffen in die Hand gedrückt und sie zu schießen aufgefordert hätten. Einfach so, aus Spaß. Heute ist die Wohnsiedlung so zerstört, dass eine Rückkehr für Überlebende kaum möglich scheint. Die Rutsche bleibt leer. Vivian Pasquet

    Lisa Bukreyeva, 29, ist in Kiew geboren und arbeitet als Fotografin. Immer wieder besucht sie Orte außerhalb Kiews, um die Spuren des Krieges zu dokumentieren. Über die Kinder, mit denen sie in Butscha sprechen konnte, sagt sie: »Sie wirken sehr alt. Man kann in ihren Augen sehen, dass sie durch die Hölle gegangen sind.«

    Heft 25/2022, 24. Juni:

    Foto: Eduard Kryzhanivsky

    Die Mörsergranate ist nicht explodiert, nachdem russische Soldaten sie in die Einfamilienhaussiedlung in Irpin geschossen hatten. Nun steckt sie im Asphalt wie ein Korken, der jederzeit hochgehen kann. Irgendwer hat einen Streifen roten Stoff danebengelegt, wohl als Warnung. Die Steine sollen offenbar verhindern, dass diese Warnung wegweht. Als der ukrainische Fotograf Eduard Kryzhanivsky dieses Foto von der Granate machte, hatten sich die russischen Soldaten bereits zurückgezogen aus der Stadt am Rande von Kiew. Das Leid war natürlich geblieben: Von 200 bis 300 getöteten Zivilisten sprach der Bürgermeister von Irpin gegenüber den Medien. Eines der Opfer wohnte hinter dem grünen, von Granatsplittern durchlöcherten Zaun auf dem Foto: eine Frau um die vierzig, die ebenfalls von Granatsplittern getroffen worden war. Eduard Kryzhanivsky hat kurz mit ihrer Mutter geredet und sie gefilmt. Auf dem Video sieht man eine kleine Frau mit braunen Haaren und dicker Wolljacke. Ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes drückt ihr zwei Plastiktüten voller Brot in die Hand. »Warum so viel?«, fragt die Mutter. Ihre Tochter hat sie im Garten beerdigt. Christoph Cadenbach

    Eduard Kryzhanivsky, 29, lebt in Kiew und arbeitet als Fotograf unter anderem für das Büro des ukrainischen Außenministers. Neulich begleitete er Annalena Baerbock bei ihrem Besuch in Kiew. Kryzhanivskys Familie, er hat zwei Töchter, ist nach Deutschland geflohen. Sie wohnt nun in München bei Freunden.

    Heft 24/2022, 17. Juni:

    Foto: Tomasz Lazar

    Auf den ersten Blick scheint ganz klar, was das Bild zeigt: Ukrainische Kinder spielen Krieg. Der Junge vorne rechts heißt Dima, er ist elf, trägt ein Militärhemd und eine Holz-Kalaschnikow in Händen. Auf dem Pappschild steht: »Stopp Kontrollpunkt«. Der polnische Fotograf Tomasz Lazar, der das Foto am 21. Mai in Lukashivka im Norden der Ukraine gemacht hat, ist sich aber nicht sicher, ob die Kinder spielen. Er sagt: Womöglich wurden sie auch von den Familien geschickt, damit jemand im Blick hat, ob noch mal russische Soldaten in das Dorf bei Tschernihiw kommen, das sie am 30. März verlassen haben. Oder damit die Jungs eine Beschäftigung haben, während die Eltern versuchen, ein wenig Normalität herzustellen. Fragen konnte Lazar Dima und dessen Freunde nicht, die Kinder mussten kurz nach der Begegnung gehen. Seit dem Kriegsbeginn dokumentiert Lazar den Alltag der Menschen in der Ukraine, und immer wieder hat er ähnliche Szenen beobachtet: Kinder, die an den Zufahrtsstraßen Miniatur-Checkpoints errichtet haben. Wäre es überhaupt ein Spiel, wenn Kinder im Krieg Krieg spielen? Oder vielmehr ein Versuch, ohne professionelle Hilfe irgendwie klarzukommen mit der Angst, der Trauer, mit dieser Situation, die viel zu schwer ist, als dass man sie begreifen könnte, weder als Kind noch als erwachsener Mensch? Sara Peschke

    Tomasz Lazar, 37, war seit dem Kriegsbeginn insgesamt eineinhalb Monate lang in der Ukraine unterwegs. Gerade befindet er sich zu Hause in Polen, aber er möchte so bald wie möglich wieder über die Grenze, um festzuhalten, was in seinem Nachbarland passiert.

    Heft 23/2022, 10. Juni:

    Foto: Lesha Berezovskiy

    Der Typ hat vielleicht Nerven. Es ist Krieg, und er trainiert auf dem Rennrad. Er fährt durch Hostomel, nicht mal die Minen sind an diesem Tag Ende April schon allesamt entschärft. Tolik Todorov heißt er, ein guter Freund von Lesha Berezovskiy, dem Fotografen. Sie fahren öfter gemeinsam, zum ersten Mal jetzt wieder seit dem Kriegsbeginn. Hostomel ist ein Vorort von Kiew, 15 Kilometer entfernt, vor dem Krieg lebten hier viele Pendler. Tolik und Lesha wohnen in Kiew, aber da war zu viel Verkehr fürs Rennradfahren, deswegen kamen sie oft nach Hostomel. Sie halten vor der Schrift an der Hauswand: »Hier drin sind Menschen«, steht da auf Ukrainisch. Es ist eine Bitte, das Haus nicht zu beschießen. Man liest es auf vielen Häusern. Manchmal auch: »Hier drin sind Kinder«. Die Bitte sei oft nicht erhört worden, sagt Lesha. Einen Monat lang waren die russischen Soldaten hier. Hostomel liegt nahe Butscha und Irpin, und auch in dieser Kleinstadt werden Massengräber vermutet. Noch ist unklar, wie viele der 16 000 Einwohner getötet wurden. Tolik und Lesha haben nach dem Kriegsbeginn Essen gekocht und es mit Leshas Auto ausgefahren, die Dörfer im Norden mit Vorräten und Medikamenten beliefert. Jetzt reparieren sie Dächer, wenn sie etwas Benzin ergattern. Wenn nicht, gönnen sie sich ein wenig Normalität. Zeit zum Rennradfahren. Lars Reichardt

    Lesha Berezovskiy, 31, ist freier Fotograf in Kiew. Zu seinen Auftraggebern zählen europäische Magazine und ukrainische Firmen, für die er Produktfotos machte. Doch viele seiner heimischen Kunden sind inzwischen geflohen oder ihre Produkte stecken in den Häfen fest.

    Heft 22/2022, 3. Juni:

    Foto: Viacheslav Ratynskyi

    Die russischen Soldaten sind weg, aber den Krieg haben sie dagelassen, versteckt in der Erde: Landminen. Der Acker, auf dem der 15-jährige Zakhar hier Kartoffeln anpflanzt, wurde erst Tage zuvor von ukrainischen Minenräumern freigegeben. In kleinen Orten wie Kozarovychi, 40 Kilometer nördlich von Kiew, haben viele Einwohner solche Felder zur Selbstversorgung. Einen Monat lang war die russische Armee in Kozarovychi, bis die Ukrainer sie Anfang April vertrieben. Der Fotograf Viacheslav Ratynskyi fuhr nach der Befreiung in den Ort, um dort die Eltern eines Kollegen zu besuchen. Ihr Sohn wurde von russischen Soldaten verschleppt, lange wusste niemand, ob er lebt. Jetzt erfuhr Ratynskyi, dass sein Kollege in einem russischen Gefängnis ist. Nach dem Gespräch mit den Eltern erkundete Ratynskyi noch den von Gefechten gezeichneten Ort, dabei fiel ihm der schuftende Junge auf, er heißt Zakhar. Der Junge erzählte, er habe große Angst gehabt, als die russischen Soldaten kamen. Die Männer hätten gesagt, er hätte nichts zu befürchten, aber dann stellten sie ihre Panzer zwischen den Wohnhäusern ab, als Deckung. Zakhar und seine Mutter suchten tagelang Schutz im Keller, um sie herum tobten schwere Kämpfe, auch Zivilisten starben. Der 15-Jährige wollte nicht lange sprechen, er sagte nur noch, er fürchte sich nicht vor übersehenen Minen, »weil ich mein Feld gut kenne«. Marc Baumann

    Viacheslav Ratynskyi, 32, fotografiert seit 2014 den Krieg in der Ukraine – erst im Donbass, jetzt überall im Land. Zakhars Generation, sagt er, werde massive psychische Langzeitfolgen und Lernrückstände davontragen. »Diese Jugend wird sicher patriotischer sein, als wir es waren, sie kennen den Preis der Freiheit.«

    Heft 21/2022, 27. Mai:

    Foto: Mila Teshaieva

    Würde man jemanden bitten, ein Foto zu machen, das Frieden, Hoffnung und Schönheit ausstrahlt, dieses wäre ein gutes Ergebnis: ein 13-jähriges Mädchen, das vor einem blühenden Kirschbaum steht. Doch dieses Bild erzählt noch eine ganz andere Geschichte: Olenka Timkova sieht am 8. Mai 2022, dass im Garten ihres Elternhauses ein großer Ast des Kirschbaums abgebrochen ist. Das macht sie traurig. Weil sie den Garten mit seinen Bäumen und Blumen liebt, aber auch, weil dieser abgebrochene Zweig ein Symbol für ihren eigenen Zustand und den ihres Landes, der Ukraine, ist. In diesem Moment machte die Fotografin Mila Teshaieva das Bild. Der Baum steht in Borodjanka, einer kleinen Stadt bei Kiew, in die schon in den ersten Tagen des Krieges russische Panzer rollten. Als am 5. März das Haus der Nachbarn bombardiert wurde und sieben Menschen darin umkamen, beschlossen Olenka Timkovas Eltern, mit ihren drei Kindern zu Bekannten in den Westen der Ukraine zu fliehen. Mitte April kehrten sie nach Borodjanka zurück, wissend, dass große Teile der Stadt zerstört waren. Olenka Timkova schrieb ein Gedicht über den Krieg und darüber, dass man gerade dann in seinem Land bleiben muss, wenn es ihm schlecht geht. Ihre Freundinnen und Freunde flohen alle aus der Stadt. Olenka Timkova sagt, sie träume davon, dass sie bald zurückkehren. Susanne Schneider

    Die Fotografin Mila Teshaieva, 48, ist Ukrainerin und lebt seit vielen Jahren in Berlin. Vom 28. Februar bis zum 10. Mai war sie in Kiew, der Stadt, in der sie aufwuchs. Das Foto, auf dem Olenka Timkova und der Kirschbaum zu sehen sind, bedeutet für sie, »dass das Leben den Tod besiegen wird«.

    Heft 20/2022, 20. Mai:

    Foto: Mikhail Palinchak

    Laut der jüngsten Volkszählung wohnten 318 Menschen in dem ukrainischen Dorf Yahidne, das 140 Kilometer nordöstlich von Kiew liegt. Seit März 2022 sind es viele weniger: Nachdem russische Truppen das Dorf erobert und geplündert hatten, hielten sie mehr als 300 Dorfbewohner 28 Tage lang im Keller einer Grundschule gefangen – ohne Elektrizität, ohne Heizung, ohne frische Luft, teils durften sie tagelang keine Toilette aufsuchen. Einige wurden krank, andere erlitten Schwächeanfälle, manche überlebten die Strapazen nicht. Damit die Gräuel dieser Tage nicht vergessen werden, malten die Gefangenen einen Kalender auf die Kellertür und notierten die Namen und Sterbedaten derer, die von russischen Soldaten auf der Straße und in ihren Häusern getötet wurden (links) oder zu schwach waren, um wochenlang unter menschenunwürdigen Bedingungen in einem stickigen Keller zu überleben (rechts). Glaubt man den Aufzeichnungen, kamen 17 Menschen zwischen dem 4. und 31. März 2022 ums Leben, Presseagenturen berichten sogar von mindestens 20. »31 – die Unseren sind gekommen« steht auf der Kellertür (unterhalb des in Grün notierten Instagram-Accounts eines gefangenen Mädchens). Nach dem Abzug der Russen wurden die Überlebenden von ukrainischen Soldaten befreit. Im Moment sind sie damit beschäftigt, ihre zerstörten Häuser wieder aufzubauen und irgendwie weiterzuleben. Tobias Haberl

    Mikhail Palinchak, 37, aus Kiew arbeitet als Reportagefotograf für internationale Magazine. Seine Frau ist mit den beiden Söhnen nach Polen geflohen, er ist geblieben, um den Krieg zu dokumentieren. Palinchak kam Mitte April nach Yahidne, um mit den Überlebenden zu sprechen und dieses Foto zu machen.

    Heft 19/2022, 13. Mai:

    Foto: Emile Ducke

    Was man nicht sieht auf diesem Foto: den Verband an Hanna Kurdjuks linker Hand und ihre Bandagen an der Hüfte. Sie sollen helfen, die schweren Wunden zu heilen, verursacht von einer russischen Granate, die am 16. März in ihrer Heimatstadt Tschernihiw genau dort explodierte, wo sie seit einer Stunde in einer Schlange von etwa hundert Menschen stand, die alle Brot kaufen wollten. Hanna Kurdjuk hatte schon am Tag davor gewartet, vergeblich. Durch die Granate starben zwölf Menschen. Kurdjuk erzählte dem Fotografen Emile Ducke am 16. April, genau einen Monat nach der Explosion, dass sie verletzt am Boden lag, nichts fühlte, viele Tote um sich herum sah und dass sie schrie: »Helft mir!«. Dann weiß sie nichts mehr. Als sie aufwachte, lag sie im städtischen Krankenhaus Nr. 2 in Tschernihiw, ihr Arm und ein Fuß waren gebrochen, wegen ihrer Verbrennungen musste Haut transplantiert werden. Kurdjuk teilt sich das Zimmer mit drei Frauen, zwei von ihnen hatten wie sie in der Schlange angestanden. Auf Kurdjuks Decke liegt ein Teller mit Buchweizenbrei, daneben ein Stück Brot. Wie lange sie noch im Krankenhaus bleiben muss, weiß sie nicht. Wenn sie gesund ist, will sie zurück nach Hause zu ihrem Mann und ihrem behinderten Sohn. Susanne Schneider

    Emile Ducke, 28, ist ein deutscher Fotograf. Er lebte fünf Jahre in Moskau. Von Ende März bis Mitte April war er in der Ukraine unterwegs, jetzt ist er in der polnischen Hauptstadt Warschau. Ob er nach Moskau zurückkehren wird, weiß er nicht.

    Heft 18/2022, 6. Mai:

    Foto: Viacheslav Ratynskyi

    Die Zielscheibe an der Mauer haben Paintball-Spieler aufgemalt. Nun spielt hier keiner mehr Kriegsspiele, sondern üben Zivilisten mit Holzgewehren für den Ernstfall. Männer, die nie zuvor eine scharfe Waffe in der Hand hielten, trainieren Grundkampftechniken in verlassenen Gebäuden, umgeben von Wäldern, irgendwo in der Nähe von Drohobytsch. Nach der Kurzausbildung, in der sie auch medizinische Notversorgung lernen, werden die Männer Teil der Tereborona, wie die zivilen territorialen Verteidigungskräfte der Ukraine genannt werden. Mehr als 100 000 Männer und Frauen haben sich bisher für den Dienst in den Einheiten beworben, sie besorgen Patrouillengänge, unterstützen, wo sie können, und sie kämpfen. Seit dem Beginn des Krieges dokumentiert Viacheslav Ratynskyi, so sagt er es, den Mut seiner Landsleute, dazu gehören für ihn die freiwilligen Streitkräfte ebenso wie Familien, die Uniformen nähen, und Schauspieler, die in Theaterküchen für Soldaten kochen. Drohobytsch liegt in der Region Lwiw an der polnischen Grenze. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte die jüdische Gemeinde in Drohobytsch 15 000 Mitglieder, von 1941 bis 1943 ermordete die SS fast alle jüdischen Einwohner der Kleinstadt. Gabriela Herpell

    Viacheslav Ratynskyi, 32, arbeitet seit zehn Jahren als Fotojournalist in Kiew, derzeit u. a. für die ukrainische Nachrichtenagentur UNIAN. »Ich hoffe, dass das der letzte Konflikt ist, den ich fotografiere«, sagt er, »und dass mein nächstes Projekt der Wiederaufbau ist.«

    Heft 17/2022, 29. April:

    Foto: Mila Teshaieva

    Der Hund gab kein Geräusch von sich, er sah die Fotografin Mila Teshaieva nur zitternd an. Am Tag zuvor hatte es noch Kämpfe in dem Ort nahe Irpin gegeben, nur wenige Kilometer entfernte Explosionen waren zu hören. Teshaieva lief mit ihrer Kamera durch zerstörte, menschenleere Straßen, im Innenhof eines ausgebrannten Hauses fand sie das Tier. »Der Hund versuchte noch mal, aus dem Wasserloch zu klettern, aber der Rand war rutschig, die Hinterbeine verletzt.« Sie glaubt, dass er schon tagelang im Wasser festsaß, während um ihn herum geschossen wurde und Raketen einschlugen. »Das Tier war wie unter Schock, es hatte wohl schon keine Hilfe mehr erwartet«, sagt die in Berlin lebende Teshaieva. Seit der ersten Kriegswoche dokumentiert sie, was der Krieg mit ihrer Heimat anrichtet, mit den Menschen, den Städten – und begegnet dabei auch den Tieren. »Auf diesem Bild sieht man keine dramatische Kriegsszene, und doch ist dieser still leidende Hund für mich ein Symbol dafür, wie man in den Schrecken des Krieges feststeckt und nichts dagegen tun kann, nicht mal mehr schreien, weil keine Kraft dafür übrig ist«, sagt sie. Den Hund holte sie mit einem Bekannten, den sie während des Kriegs kennengelernt hatte, aus dem Wasserloch, sie gaben ihm etwas Essen, aber sie konnten ihn nicht mitnehmen. Ukrainische Soldaten sagten Teshaieva, sie würden sich um ihn kümmern und ihn einer Tierrettungsorganisation übergeben. Marc Baumann

    Mila Teshaieva wurde 1974 in Kiew geboren und wuchs dort auf. Seit 2010 lebt sie in Berlin. Die Natur sei auch Opfer des Kriegs, sagt sie: »Sieht man, wo Bomben im Wald gelandet sind, alles verbrannt haben, fühlt man richtig, wie die Gewalt auch dort hindurchgezogen ist.«

    Heft 16/2022, 22. April:

    Foto: Mikhail Palinchak

    Seit Wochen verlässt Irina Sirgievna jeden Morgen um sechs Uhr ihre Wohnung und läuft eine Stunde durch die Straßen Kiews. Ihr Ziel: eine Bibliothek, in deren Luftschutzbunker sie gemeinsam mit zwanzig anderen freiwilligen Helfern Tarnnetze für die ukrainische Armee herstellt. Anfangs hörte sie auf ihrem Weg noch Explosionen, inzwischen ist es gespenstisch still, die russischen Truppen sind nach Osten weitergezogen. Ihr Leben lang hat Sirgievna als Finanzbuchhalterin gearbeitet, aber seit dem Beginn des Krieges im Jahr 2014 verteidigt auch sie ihr Land, zuerst nur gelegentlich, seit der russischen Invasion am 24. Februar 2022 jeden Tag von sieben bis 19 Uhr. Erst werden fünf mal sechs Meter große Netze aus Seilen geknöpft, dann grüne, braune und graue Stoffstreifen eingeflochten. Die Netze dienen der Tarnung für Militärfahrzeuge und Artilleriestellungen, seit Kurzem fertigt die Gruppe auch Tarnüberwürfe für Scharfschützen an. Manche verbringen auch die Nächte lieber unter der Erde, Irina Sirgievna aber geht jeden Abend zurück in ihre Wohnung, um sich nur ein paar Stunden später wieder auf den Weg zu machen. »Die Atmosphäre im Bunker ist extrem konzentriert«, sagt der Fotograf Mikhail Palinchak. »Nur manchmal singen sie alte ukrainische Lieder.« Tobias Haberl

    Mikhail Palinchak, 37, arbeitet als Reportagefotograf für internationale Magazine. Seine Frau ist mit den beiden Söhnen nach Polen geflohen, er aber blieb in Kiew, um diesen Krieg zu dokumentieren. Er sagt: »Wir werden diesen Krieg gewinnen, weil wir keine andere Option haben.«

    Heft 15/2022, 15. April:

    Foto: Elena Subach

    Lwiw ist die Stadt unserer Fotografin Elena Subach und jene Stadt, die seit dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine viele Menschen aufgenommen hat. Im Moment sind schätzungsweise 200 000 Ukrainer und Ukrainerinnen aus dem Rest des Landes in Lwiw. Hotels, Hostels, Apartments, alles ist ausgebucht. Privatpersonen nehmen Landsleute auf, meistens unentgeltlich. Auch Subach und ihr Mann beherbergen gerade Menschen aus Kiew, davor hatten sie Geflüchteten aus Cherson und Charkiw Unterschlupf gewährt. Lwiw ist eine Stadt des Transits, eine Stadt im Westen der Ukraine, die noch Vorkehrungen für den Krieg treffen kann. In Lwiw, deren Innenstadt Unesco-Weltkulturerbe ist, werden Statuen mit Sandsäcken ummantelt, Kirchenfenster vernagelt und Kulturschätze in sichere Räume gebracht, etwa die Skulpturen des Bildhauers Johann Georg Pinsel. Er war ein berühmter Barock- und Rokoko-Bildhauer des 18. Jahrhunderts und einer der Gründer der Bildhauerschule in Lwiw. Die größte Pinsel-Sammlung befindet sich in der Stadt. Subach kennt sein Werk: »Pinsels Skulpturen strahlen eine unglaubliche Kraft aus. Seine Werke zeigen eine erstaunliche Kombination aus innerer Ruhe und Dynamik.« Auf dem Foto wird eines seiner Exponate in Sicherheit gebracht. Lara Fritzsche

    Elena Subach arbeitet als Kuratorin in der Nationalgalerie in Lwiw. Vor dem Krieg hat sie Ausstellungen organisiert. Zum Fotografieren kam sie vor zehn Jahren. Die Themen, mit denen sie sich künstlerisch befasst, waren vor dem Krieg: Religion, Leben und Tod, die Provinz als Ort, Identitäten. Vielleicht seien sie es auch jetzt noch, »gerade ist das alles schwer zu sagen«, meint sie.

    Heft 14/2022, 8. April:

    Foto: Ingmar B. Nolting und Fabian Ritter

    Mia ist drei. Wären die Zeiten anders, könnte man sagen: Sie hält sich die Augen zu, da die Frühlingssonne sie blendet an diesem 18. März 2022. Aber weil Mia Schreckliches erlebt hat in ihrem kurzen Leben, kann man auch annehmen, dass sie die Welt, wie sie ist, nicht sehen will. Ihre Mutter erzählt, Mia habe in ihrem Zuhause in Kiew gesehen, wie Bomben am nahen Flughafen explodierten, als der Krieg gegen die Ukraine begann. Beide flohen nach Lwiw, Mia bekam hohes Fieber und zeigte Stresssymptome. Ihre Mutter geht mit ihr seither regelmäßig in das dortige Kinderkrankenhaus Okhmatdyt, das Therapiestunden für traumatisierte Kinder anbietet. »Alle anderen Kinder in diesem Raum malen sich ihren Kummer von der Seele«, sagt Ingmar B. Nolting, der zusammen mit Fabian Ritter zwei Wochen lang in der Ukraine war: Die beiden deutschen Fotografen wollten Fotos vom »Vorzimmer des Krieges« machen, von russischen Soldaten, ukrainischen Familien, vom Irrsinn – und von den Opfern auf beiden Seiten. Doch Mia malt nicht, sie nimmt keines der Kuscheltiere in den Arm, die vor ihr in einer Schachtel liegen, sie hält sich nur die Augen zu. Und schweigt. Aber es geht ihr schon besser, sagt ihre Mutter, zumindest hat sie jetzt kein Fieber mehr. Susanne Schneider

    Die Fotografen Ingmar B. Nolting und Fabian Ritter waren im März 2022 in der Ukraine, um die Auswirkungen des Krieges zu dokumentieren.

    Heft 13/2022, 1. April:

    Fotos: Elena Subach

    Tagelanges Warten auf den Grenzübertritt in die Sicherheit. Diese Fotos zeigen Stühle nahe der ukrainischen Stadt Uschhorod, wo Kinder, Frauen und Ältere in der Kälte anstanden, um in die Slowakei zu fliehen. Die Stühle waren eine Raststation. Wer aufrückte, übergab sie an die nächsten geschwächten Wartenden. Die Fotografin Elena Subach half hier in den ersten zwei Wochen des Krieges ehrenamtlich aus, verteilte warme Getränke, Suppen und Decken, hörte zu. »Da dieser Grenzübergang die letzte Station vor der Trennung der Familie war, erlebten wir schmerzhafte und dramatische Abschiede«, sagt Subach. »Die Männer brachten ihre Familien zum Grenztor, wo sich dann alle umarmten, küssten und sich wie für immer verabschiedeten. Ich habe noch nie so viel Liebe gesehen, und ich habe noch nie so viel Schmerz gesehen. Fast jeder Mann fotografierte seine Kinder und seine Frau mit dem Handy, als Erinnerung.« Subach selbst fotografierte in diesen Tagen kaum Menschen, aus Respekt vor deren Privatsphäre, die sie als ohnehin schon beschädigt empfand, wie sie sagt. Stattdessen machte sie Fotos von Stühlen, die in diesen Tagen wie kleine warme Inseln waren. Lara Fritzsche

    Elena Subach, 42, ist Fotografin und lebt mit ihrem Mann in Lwiw im Westen der Ukraine. Sie arbeitet als Kuratorin in einem Museum. Wenn Subach ihr Leben gerade beschreibt, sagt sie: »Ich schlafe weinend ein und wache wütend auf.« Immerhin gebe die Wut ihr Kraft zum Weitermachen.

    Heft 12/2022, 25. März:

    Foto: Alina Smutko

    In ein Hochhaus an der Lobanovsky Avenue in Kiew schlug eine Granate ein, mehrere Wohnungen in den oberen Stockwerken wurden getroffen und stürzten ein. Fenster zerbarsten, Wände brachen zusammen, persönliche Gegenstände der Bewohner und Bewohnerinnen flogen auf die Straße. Einige Menschen, die hier wohnten, haben überlebt, viele starben. Der Angriff geschah am zweiten Kriegstag. Die ukrainische Fotografin Alina Smutko und ihre Kolle­gin haben es sich zur Aufgabe ­gemacht, alle zerstörten Wohngebäude zu dokumentieren. Nach einem kalten Tag mit leichtem Schneefall erreichten die beiden Fotografinnen am frühen Abend des 3. März dieses Haus im Stadtteil Solomyanka. Straße und Gehsteig waren schon aufgeräumt worden, Smutko machte neben Fotos von dem zerstörten Haus auch dieses Bild. »Als ich um das Haus herumging, bemerkte ich diese verstreuten Dinge, und es schien mir, dass sie uns etwas über die Menschen sagen könnten, die in diesem Haus lebten – und das ist wichtiger als das Haus selbst. Es gab ­Bücher, Küchensachen, Kinderspielzeug. Und diesen Block mit der Mitschrift einer Wirtschaftsvorlesung. Unser Zuhause kann sich sofort in nichts verwandeln, und unsere gestern noch wertvollsten Dinge können zu Müll werden, der mit Glasscherben vermischt ist.« Lara Fritzsche

    Alina Smutko ist Fotografin und lebt in Kiew. Ihren dreijährigen Sohn hat Smutko zu ihren Eltern nach Poltava gebracht, 350 Kilometer östlich der Hauptstadt. Sie alle wollen in der Ukraine bleiben.