Hinterm Horizont

Wer heute nach vorn schaut, sieht Klimawandel, Kriege, Katastrophen. Positive Visionen der Welt von morgen sucht man dagegen vergeblich. Dabei hätten wir sie gerade jetzt bitter nötig, meint der Sozialpsychologe Harald Welzer.

Zukunftsbilder sind oft utopisch, manchmal naiv. Aber zumindest geben sie sich nicht damit zufrieden, die Gegenwart zu erhalten.

Illustration: Nishant Choksi

Es ist nicht so, dass es sie nicht mehr gäbe: die Zukunft, wie wir sie uns heute schon ausmalen. Sie entsteht gerade im Silicon Valley, wo Tüftler und Geschäftsleute am selbst fahrenden Auto arbeiten, an sich selbst überwachenden Häusern, sich selbst kontrollierenden Apps. Sie kommt hochtrabend daher, ist aber doch nur ein Infantilisierungsprogramm. Offenbar soll unsere Zukunft darin bestehen, uns von Sensoren im Barfach mitteilen zu lassen, dass ein Gin nun aber wirklich genug war, schließlich wollen wir ja morgen früh beim Joggen nicht underperformen, und die Krankenkasse findet das auch. Der Chef sowieso. Und im Übrigen sollten wir dankbar sein, dass Google und die anderen sich selbst dafür zuständig erklärt haben, alle Probleme zu lösen. Auch so ein Kinderglaube, den wir ihnen abkaufen sollen.

Leider lösen diese Leute nur Probleme, die wir nie gehabt haben – oder war es jemals ein Problem, die Heizung hochzudrehen, wenn man fröstelte, oder das Fenster aufzumachen, wenn die Luft im Zimmer stickig war? War es jemals ein Problem, das Haus eines Freundes anzusteuern, den man besuchen wollte? War es jemals ein Problem, Milch zu kaufen? Die Probleme, die Google und all die anderen lösen, sind triviale Probleme. Das heißt: Für das Leben ist es total egal, ob die »gelöst« werden oder nicht. Anders verhält es sich mit nicht trivialen Problemen wie Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Gewalt – so Dinge, die sich durch die komplette Geschichte der Menschheit ziehen, ohne je gelöst worden zu sein. Aber gemildert, gebessert, abgeschwächt. Die Verhältnisse zum Besseren zu verändern: Das war einmal die Zukunft.

Heute ist der visionäre Horizont in unseren westlichen Gegenwartsgesellschaften kaum noch zu sehen, so kurz ist er. Je komfortabler auf der einen Seite und je krisenhafter auf der anderen Seite diese Gegenwart geworden ist, desto weniger Zukunft taucht in den Wunschhaushalten auf. Zukunft, das ist heute: Schlimmeres verhindern, Vorhandenes konservieren, keine Experimente. Das war mal anders.

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Auf den Zukunftsbildern des Grafikers Klaus Bürgle, der die Fortschrittslust einer ganzen Ära visualisiert hat, schießen Magnetschwebebahnen durch Brückengeflechte, gleiten fliegende Autos durch farbenfrohe Megastädte und besiedeln Menschen ferne Planeten. Seine Vision einer künftigen Mobilität ist mehr als ein halbes Jahrhundert alt, vergangene Zukunft also. Die Fünfziger- und Sechzigerjahre waren, beiderseits des Eisernen Vorhangs, höchst zukunftsträchtige Zeiten. Im Westen träumte Walt Disney zusammen mit Wernher von Braun von der Eroberung des Weltraums, im Osten schickte man den ersten, übrigens ganz wunderbar designten, Satelliten ins All und schuf damit den »Sputnikschock«, der den Auftakt zu einem äußerst ambitionierten Wettlauf ins All bildete. Aber nicht nur das: Dass der Westen technisch kurz hinten zu liegen schien, führte in Westdeutschland auch dazu, dass eine »Bildungskatastrophe« festgestellt und daraufhin die Hochschullandschaft weit geöffnet wurde. Technischer Rückstand bedeutete die Notwendigkeit sozialen Fortschritts.

Es galt, eine Menge aufzuholen, und das war nicht nur technisch gedacht. In den USA arbeitete man derweil mit Nachdruck am Apollo-Programm und war tatsächlich zuerst auf dem Mond, und zwar bemannt und das gleich mehrmals. Das Ganze basierte auf Zukunftsvorstellungen, die physische und soziale Grenzen der Gegenwart mühelos hinter sich ließen. Energetisch stand dafür »unser Freund, das Atom« (Disney) als niemals versiegende Energiequelle, geeignet zum Heizen von Feldern zur Verbesserung der Ernte genauso wie zum Antrieb von Autos, Schiffen, Flugzeugen, was immer. Die Fortschrittszuversicht war systemübergreifend und fand ihren Ausdruck im technisch hochgerüsteten American Dream, der selbstverständlich auch die Grenzen des Planeten für überwindlich hielt, genauso wie in der in jeder denkbaren Hinsicht überlegenen Leistungsfähigkeit des Sowjetsystems.

Ganz egal, zu welchem System die Himmelsstürmer gehörten: Einig waren sie sich in der Überzeugung, dass die Welt vor allem aus Zukunft bestand. Diese imaginäre Zukunft hatte viele Dimensionen und ergriff auch die Gesellschaftsvorstellungen: B.F. Skinner, der Begründer der modernen Verhaltenspsychologie, entwarf in seinem Roman Walden Two eine neue Gesellschaftsform, in der alle nach den Erkenntnissen der Verhaltensforschung leben, die westliche akademische Jugend träumte von der »befreiten Gesellschaft« oder praktizierte sie hippiemäßig schon mal. Zukunftsforscher traten auf die Bühne, derweil Commander MacLane von der Raumpatrouille Orion genauso wie das (dem Westfernsehen weit überlegene) Ostzonen-Sandmännchen gern mit dem Raumschiff kam und die Zukunft daheim im Wohnzimmer visualisierte. Kurz: Die Zeit war voller Zukunftsbilder. Sie wirkten stark, weil die Zukunft machbar schien. So ganz anders als heute.

Die Ökobewegung hat es nie geschafft, eine wünschenswerte Zukunft zu bebildern

Heute scheint ja nicht mal mehr die Gegenwart vorstellbar. Selbst in der wirtschaftlich so prächtig dastehenden Bundesrepublik erscheint alles außer den Wirtschaftsdaten im Aggregatzustand der Krise: Die militärischen Interventionen endeten seit Bushs »Krieg gegen den Terror« allesamt in einem Fiasko, das neben neuen Formen des organisierten Terrorismus riesige Flüchtlingszahlen hervorgebracht hat; Klimawandel, Finanzmarktkapitalismus, die Rückkehr des Kalten Krieges – wohin man auch blickt, sieht es aus, als habe man den besten Teil der Zukunft schon hinter sich. Und die Öko- und Klimabewegten sind sehr gut im Beschwören negativer Zukunftsbilder – doch wo sind ihre positiven?

Die Ökobewegung hat es nie geschafft, eine wünschenswerte Zukunft zu bebildern. Ihr Bildhaushalt besteht entweder aus plastiküberschwemmten Meeresoberflächen, verölten Möwen, depressiven Eisbären und räudigen Waldflächen oder aus einer komplett fantasiefreien Rama-Welt, in der friedfertige, bunt angezogene Mittelständlerinnen und Mittelständler im Schatten kreisender Windräder gute Laune haben. Dabei taugen ihre Dystopien so wenig wie ihre Utopien zu irgendetwas. Apokalypsen sind langweilig, wenn sie nie eintreten, und im Übrigen ideologisch, wenn sie den Untergang für alle prophezeien. Denn nicht mal der Ökozid hält einen sozialistischen Tod bereit, den alle Menschen gleich sterben werden – die Armen trifft es auf jeden Fall eher, die Reichen später.

Die fürchterlichen Prospektbildchen von der nachhaltigen Zukunft sind genauso dicht an der Warenästhetik der konsumistischen Wirklichkeit, dass darin nicht das kleinste Fünkchen des Anderen, also einer unentdeckten, zu erobernden, neuen Wirklichkeit aufblitzt. Zukunft ist bloß wie jetzt, und wenn’s hochkommt, etwas besser. Ihr Gegenteil, die Apokalypse, wird diskontiert: So schlimm wird es ja erst in einer noch unbestimmten Zukunft kommen, weshalb wir heute erst mal so weitermachen können. So wird die dystopische Zukunft zu einer Abstraktion, trotz all der Untergangsbilder, und eine utopische gibt es gar nicht erst.

Diese Lücke im Bildhaushalt des Zukünftigen ist nicht nur ein Symptom dafür, dass Gesellschaften wie unserer nichts mehr einfällt, sie lässt auch jede Menge Raum für Scharlatane wie die Silicon-Valley-Innovasoren, die mitteilen, ihre Programme könnten künftig Krankheit und Behinderung beseitigen, die Energieverschwendung beenden, den Tod abschaffen und die Kinder überwachen.

Nur das Fehlen jeder Idee von einer wünschbaren Zukunft lässt solche Schwundstufen des Visionären attraktiv erscheinen: Man muss nur mal die Vision vom fliegenden Auto mit der vom selbst fahrenden Auto vergleichen. Das eine überwindet die Schwerkraft und die Begrenztheit des Raumes, im anderen wird man wie ein Kleinkind in der Karre gefahren. Das eine ist ein Vehikel zur Eroberung, das andere erobert den Fahrer. Das Space Age verstand Zukunft als Expansion von menschlichen Möglichkeiten und dachte in der Kategorie der permanenten Überschreitung des heute Machbaren; die digitale Epoche dagegen hat nicht mehr in ihrem visionären Vorratsschrank als immer weitere Gadgets zur Erhöhung von Bequemlichkeit mittels Fremdsteuerung und Kontrolle. Sie liefert schon jetzt die perfekte Ausstattung für eine sedierte Gesellschaft fantasiefreier Konsumzombies, denen jederzeit gesagt wird, was sie als Nächstes wünschen sollen.

Gerade hier, in der radikal sinnfreien Zone, spüren wir das Verschwinden von Zukunftsbildern aus unseren Wunschhaushalten besonders. Die Gegenwart besteht eben nicht nur aus lösbaren Problemen, sondern vor allem aus unlösbaren. Gewalt zum Beispiel ist, obwohl fast alle sie schlecht finden, noch aus keiner Gesellschaft verschwunden, Ungerechtigkeit ebensowenig wie Ausbeutung; die ästhetische und ökologische Verschundung der Welt ist ein größeres Problem als jemals zuvor. Das alles ist nicht lösbar, aber Fortschritt bestand in den vergangenen paar hundert Jahren vor allem darin, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die unlösbaren Probleme immer weniger schlimm ausfielen.

Dafür wurde die Zukunftsvorstellung, Menschen sollten frei sein und gleich vor dem Gesetz, umgesetzt, indem Freiheit und Gleichheit erkämpft wurden. Die machtvollsten Instrumente dafür waren Träume, und gewiss hatten die technoiden Tagträume vom besseren Leben ihre Verwandtschaft in den sozialen Tagträumen derselben Zeit: »I have a dream« war der stärkste Satz der Epoche.

Gerade in unserer absurden Gegenwart, die zwischen dem höchsten jemals erreichten Lebensstandard und realen und irrationalen Ängsten vor allem und jedem oszilliert, sind Zukunftsbilder, Skizzen eines möglichen anderen Lebens, Wirtschaftens und Kooperierens unverzichtbar. Man muss sich etwas anderes vorstellen können, um den Wunsch zu haben, sich dahin auf den Weg zu machen. Dafür sind Reallabore gut – Orte, an den schon heute anders gelebt, gearbeitet, gedacht wird –, aber sie ersetzen nicht die Bilder, wie alles anders sein könnte.

Wünschen, das war das große Thema des Philosophen Ernst Bloch, ist eine Produktivkraft. Damit lassen sich andere Wirklichkeiten bauen. Wenn man sich nicht in andere, glücklichere Zustände hineinträumen und hineinwünschen kann, bleibt man auf das Angebot beschränkt, das andere bereitstellen. Die digitale Konsumgesellschaft erfüllt jeden Wunsch schon, noch bevor man ihn gehabt hat – das ist die Amazon-Welt, in der die Drohne das nächste Produkt schon mal ungefragt ausliefert. Permanente Bedürfnisbefriedigung ist permanente Gegenwart.

Wollen wir so wirklich leben? Oder sollten wir nicht lieber endlich anfangen, wieder eigene Zukunftswelten zu entwerfen, Welten, wie sie sein sollten – soziale Utopien, die zugleich eine Ästhetik des Widerstands gegen die infantile Konsumhölle entwickeln würden? Und zwar nicht nach den öden Fantasien technischer Machbarkeit, sondern nach den Überraschungen des Entdeckens.