Das Beste aus meinem Leben

Wir befinden uns im Jahr 2006 n. Chr. In ganz Deutschland ist die Fußball-Weltmeisterschaft seit vier Wochen beendet. In ganz Deutschland? Nein! Ein von unbeugsamen Menschen bevölkerter Teil der Welt hört nicht auf, dem Ende der Weltmeisterschaft Widerstand zu leisten. Es ist der Teil der Welt, in dem ich lebe.Es ist nämlich so: Wenn eine WM zu Ende geht, sind zwar alle Spiele gespielt, alle Tore geschossen, alle Treffer verhindert, alle Fouls begangen, alle Karten gezeigt, alle Beleidigungen gerächt, alle Siege bejubelt, alle Niederlagen beweint. Aber es sind noch nicht alle Fußballbilder gesammelt. Es sind nicht alle Alben gefüllt.Weil das so ist, sehe ich den Luis immer noch unter Gleichgesinnten sitzen und Listen abarbeiten, auf denen Zahlen stehen, die je ein Bild bezeichnen. Der eine liest die Zahlen vor, der andere sagt Ja oder Nein, am Schluss wird ein Handel abgemacht. Du gibst mir deine mir noch fehlenden Bilder, ich gebe dir meine dir noch fehlenden Bilder. Und es werden Sätze gesagt mit seltsamen, bisher unbekannten Wörtern. »Yanagisawa«, sagt der Luis zum Rudi, seinem Freund, »ist ja so was von krass unselten.« Das heißt: Yanagisawa, den Japaner, gibt es im Überfluss, sein Bild scheint öfter gedruckt worden zu sein als das anderer Spieler, er inflationiert.Hingegen: Lehmann fehlt Luis bis heute, es ist das einzige Bild, das er nicht hat, er sucht und sucht und sucht.Ich weiß, wie das ist. Als ich Fußballbilder sammelte, in den sechziger Jahren, fehlte mir lange Peter Kaack von Eintracht Braunschweig. Bildertüte um Bildertüte kaufte ich, um meine Sammlung kaackwärts zu treiben und endlich zum Abschluss zu bringen, ich investierte mein ganzes Taschengeld in diesen Mann. Oder B., mein Freund: Ihm mangelte es an Thielen vom 1. FC Köln, und als er ihn endlich hatte (drei Manglitz musste er dafür geben, den Duisburger Torhüter), da erklomm er im Hochgefühl die Schulbank, schwenkte im Rausch die beim Pedell erworbene Kakaotüte, vergessend, dass sie bereits geöffnet war – und es ergoss sich eine braune Flut über Hemd und Hose, unter dem hysterischen Lachen jener, die keinen Thielen hatten, nie einen besitzen würden und nicht einmal ermessen konnten, was es bedeutete, eines Thielen-Bildes endlich habhaft geworden zu sein.Lehmann. Man könnte ihn, wenn man ihn hätte, nicht mal ins Album kleben, es gibt dort keinen Platz dafür. Lange vor der WM hatten die Alben Redaktionsschluss, jede Mannschaft hat nur einen Torwart, und die Albenmacher setzten auf Kahn. Sie setzten auch auf Owomoyela und Kurányi, deren Konterfeis im Album prangen, obwohl sie während der WM Urlaub hatten. Wie deprimierend muss das gewesen sein: Kurányi zu sein, während der WM ein Album aufzuschlagen, sein eigenes Bild zu sehen und sich auf der Sonnenliege im Garten umzudrehen. Der Fußball hält exquisite Peinigungen für die bereit, die nicht gut genug für die Nationalmannschaft sind.Lehmann. Dessen Bild habe er, sagt Luis, schon mal gesehen, hingegen kursiere das Gerücht, auch Odonkor sei nachgedruckt worden, doch ein Odonkor-Bild habe er nie zu Gesicht bekommen, obwohl er ein Kenner sei. Euro um Euro trägt er in den Kiosk, Lehmanns wegen.»Luis«, sagt Paola, »man kann die Bilder im Internet einzeln nachbestellen, ich kann’s nicht ansehen, dass du dein Taschengeld hergibst und das Bild nie bekommst.«»Das geht nicht«, sagt Luis.»Warum nicht?«, fragt Paola.»Hast du je Fußballbilder gesammelt?«, frage ich.»Nein.«»Siehst du«, sage ich. »Es geht nicht.«»Aber warum nicht?«»Ich weiß es nicht. Man macht es einfach nicht. Es geht gegen die Ehre.«Lehmann. Die WM geht weiter.

Illustration: Dirk Schmidt