Mein Sylt

Die Liebeserklärung eines Intellektuellen an seine Insel.

Dinieren Möwen?
Küssen Quallen?
Wispern Igel?

Jedenfalls ist es ein eigenartiges Bild, die Möwen – exakt zu den wechselnden Gezeiten – bei Niedrigwasser an den muschelverklebten Buhnen hocken zu sehen, eine weiß gefiederte Welle, die sich im Rhythmus der Wogen hebt und senkt, von der Tafel aber nicht ablässt. Jedenfalls ist es ein eigenartiges Spiel, das die Quallen mit ihren rosa geränderten »Lippen« bieten, fließend aufeinander zu und voneinander weg; tanzen sie ihren Wogen-Tango aus Wollust? Jedenfalls ist es von erstaunlicher Gemütlichkeit, wenn die September-Igel – wie verabredet – gegen Abend gemeinsam aus ihren Verstecken hervortrippeln und, sich ihrer Stachelwehr bewusst, Pfade und Wege überqueren. Sylt ist ein nicht enden wollendes, sich ständig erneuerndes stetes kleines Wunder: ob die zartlila Dünenveilchen – winzige Biedermeier-Stiefmütterchen – im vom Sonnenglast ausgedorrten Sand, der bunte Schatten, den die im rasenden Frühjahrswind grün-gelb-orangefarbenen Splitterscherben von gegeneinander scheppernden Ostereierbäumen werfen, oder der bleiche Finger des Leuchtturmfeuers, der durch den Novembernebel streift, als wolle er die Dünen-gespenster herbeistreicheln. Manchmal, in den Sommernächten, gibt ein schweigendes Meer weit draußen Sandrippen frei, der Wind schält Fetzen von der Haut des Meeres, und die winzigen Vögel, die Strandläufer in ihrer possierlichen Emsigkeit, bilden ein flatterndes Hohlsaummuster; manchmal hängen die Regentropfen wie Glasperlen im windgeschützten Dünengras, und dann wieder rinnt der Tau an den roten Hagebutten im Zwergenwald mit seinen kleinen kandierten Äpfeln wie flüssiger Zucker herab. Das Meer erzählt seine Märchen, sie haben je einen anderen Klang, eine immer andere Farbe, wechselnd zu jeder Jahreszeit.

Was mag es nun sein, was seit vielen Jahrzehnten – schon der neben Rosa Luxemburg Mitbegründer der Kommunistischen Partei, Franz Mehring, war Anfang des 20. Jahrhunderts viel, lange und gerne auf Sylt – ganz besonders zahlreich Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller auf diese Insel zog? Ist es jener Einsamkeitsmagnetismus, wie ihn Alfred Andersch schildert, der das Eiland mit den Felsen von Cap Finistère und den schweigenden Reihern der Camargue vergleicht? »Ich ziehe mich gern in Wildnisse zurück. Ich meine damit die Uferlinie des Wattenmeeres bei Kampen, sich zu den Dünen aufschwingend, hinter denen der Donner der Oktoberbrandung sich ankündigt.«

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Gewiss, gewiss: Nun sind wir ja alle so förchterlich weltbiforne »Snobs« (wenngleich viele nicht wissen mögen, dass der Begriff sich von »sine nobilitate« herleitet) und wissen also, dass der Barkeeper des »Rainbow-Room« hoch oben im Rockefeller-Center von New York die besten Martinis mixt, wie wir für den Skiurlaub das Hotel »Zürser Hof« in Zürs wegen seiner Suiten mit eigenem Kamin empfehlen können; dass St. Germain-des-Près so »out« ist wie St-Tropez oder Acapulco, ist uns geläufig wie die Tatsache, dass das »Eden Roc« in Cap d’Antibes den größten Swimmingpool an der Côte d’Azur hat oder man auf Teneriffa das »Gran Hotel Bahia del Duque« wählen sollte, allein wegen der Auswahl zwischen vier verschiedenen Kopfkissensorten. Das »Belle Mare Plage The Resort« auf Mauritius muss nicht eigens erwähnt werden, jedermann weiß, dass die stets lächelnden Hotelboys – wenn schon nicht sich selber – zur Nacht Rosenblätter auf das Laken legen.

Doch gerne bekenne ich mich schuldig; denn keineswegs bin ich nur der leicht hinkende weißhaarige Alte, der in verbeulten Cordhosen in Kampen durchs Dorf schlurft; auch fahre ich keine Ente, esse sie vielmehr lieber bei »Stricker« à l’Orange; die allerdings fliegt in erbitterter Konkurrenz zu den hausgemachten Lammbratwürsten des fabelhaften »Jörg Müller«. Mit Vergnügen beobachte ich in der etwas schummrigen Bar des »Gogärtchen« aus diskreter Entfernung – stets liebevoll umsorgt von Chef Rolf Seiche –, wie die Herren Otto vom Otto-Versand und Jauch von RTL die Köpfe zusammenstecken. Möchte man wissen, worüber sie plaudern? Nein. Ja. Nicht weniger gerne lasse ich mir von Annegret Sievers bei Fisch-Fiete in Keitum den legendären Butt à la Felix servieren, der 24 Stunden lang vorbereitet werden muss. Mindestens so wohlig-gemütlich ist es bei Herbert Seckler in seiner Skihütte namens »Sansibar« in den Rantumer Dünen, da setzt sich der vielfache Familienvater wie ein rücksichtsvoller Freund für siebeneinhalb Minuten an meinen Tisch und hält mich davon ab, zu dem von mir bevorzugten Black Snapper einen zu teuren Wein zu bestellen; besonders gerne höre ich natürlich, wenn der Kellner mir gelegentlich bedeutet: »Heute keine Rechnung, sagt die Chefin, wegen dem Buch …« – und das war dann eines von mir, das ich ihr beim letzten Mal mitbrachte und das die Leseratte Helga Seckler gerade durchgeschmökert hatte.

So sind wir also kenntnisreich. Und allerlei Kenntnisse über Sylt erreichen uns im Rhythmus der bunten Banalität: alle Jahre wieder die Hochglanzmagazine mit ihren Glitzerchen und Fünkchen der illustrierten Milchstraße. Sylt: das sind durchtanzte Nächte; Kampen: das ist dort, wo der Champagner den Reitern aufs Pferd serviert wird vor den parkenden Ferraris, Lamborghinis und Maseratis. Tatsächlich gibt es nach wie vor eine klischeesüchtige Klientel, Kreissparkassen-direktoren mit zu grünen Jacken, zu blonden Zweitfrauen und zu roten (Leih-)Wagen, die sich die Hälse verrenken – schon vormittags beim Sekt – nach »Prominenz«. Als seien die sagenumwobenen Gunter Sachs und der kürzlich verstorbene Peter Boenisch nicht inzwischen weißhaarige Herren, recht stämmig geworden. Das ist, mag sein, auch Sylt. Mein Sylt liegt Lichtjahre entfernt; will sagen: beginnt ziemlich genau fünf Gehminuten von Kampens »Whiskymeile« entfernt. Als sei da ein Zaun gezogen mit dem Schild »Zutritt verboten« – so jäh einsam ist bereits der Weg zum und am Kampener Watt. Da umfängt den Spaziergänger eine geradezu bestürzende Stille. Anders als am meist brandungswütenden Meer herrscht hier zur »L’heure bleue« – je nach Jahreszeit mit unterschiedlichem Beginn: Mai und Juni erst spät, so um 19 Uhr herum, im September schon am Nachmittag – eine Art vielstimmiges Schweigen, dessen Wispern sich zusammensetzt aus dem Schirpen des Schilfs, dem schleifenden Flügelschlag der Möwen, dem Gunksen des auf dem Sand spielenden Wassers; »die Rille unbelauscht«, schrieb Paul Celan einmal. Schwer zu definieren, worin das Betörende, die Melancholie dieser meist menschenleeren Landschaft besteht, deren Horizont sich im Frühsommer unendlich dehnt – der Himmel gleicht dem Perlmutt einer umgestülpten Riesenmuschel, graugrün und mit zarten Fäden von Rosa und Violett durchzogen. Wer gut zu Fuß ist, kann zuerst am Golfplatz vorbei, der von tiefblauen Glockenblumen gesäumt ist, die fangen wohl die flüchtigen Bälle auf, und dann am Watt entlang bis Keitum wandern und, wenn er Glück hat, das sommerliche Fest namens Ringreiten beobachten, bei dem festlich geschmückte Greise, prächtig uniformierte Feuerwehrleute oder auch schon mal ein Fischhändler auf aufgeputzten Pferden einen Speer in einen winzigen Eisenring zielen müssen.

Ausdauer wird belohnt. Das winzige Kirchlein St. Severin, inmitten des wunderschönen alten Friedhofs gelegen – auf dem die »alten Familien« gebettet sind oder spätere Sylt-Liebhaber wie Peter Suhrkamp, Ferdinand Avenarius und seit November 2002 auch Rudolf Augstein –, bietet herrliche Orgel- oder Trompetenkonzerte bei Kerzenlicht im Kirchenschiff aus Holz, auch Liederabende. Auf seltsame Weise hört man etwa einen Bariton Schuberts Liederzyklus Die schöne Müllerin hier ganz anders singen, intensiver:

Gute Nacht, gute Nacht!
Bis alles wacht,
Schlaf aus deine Freude, schlaf aus
dein Leid!
Der Vollmond steigt,
Der Nebel weicht,
Und der Himmel da oben, wie ist
er so weit.

Komme ich aus dem Konzert, die Mondsichel am hohen Himmel näht den Horizont mählich zu, verstehe ich jenen Amerikaner aus einer Bayreuth-Anekdote der vierziger Jahre. Nach Wagners Ring fühlte er sich so aus Raum und Zeit gefallen, dass er fragte: »Is Roosevelt still President?«

Da ist etwas Zwickendes, als häute man sich, als blase der Wind den Dreck der Welt von einem – und lenke die Gedanken durchaus auch ins Schattenreich. Das Meer gibt an manchen Tagen ein leise zischendes, fast metallenes Feilengeräusch, als dengle Gevatter Sensenmann sein Handwerksgerät. Vielleicht ist es auch das, was Künstler so in den Bann zieht; himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt ist ja keinem von ihnen fremd.

Dünen gibt es ja auch anderswo, Möwen kreischen an jedem Meer, und auch Ginster soll, wie man hört, in anderen Landschaften blühen. Und dennoch: Diese Mischung aus südlichem Glast, wenn die Sonne die Luft über den endlos scheinenden Stränden sirren macht, und nördlicher Störrischkeit (nirgendwo, so scheint mir, hat der Ginster so harte, spitze und lange Dornen) – diese Mischung öffnet der Seele Fenster. Es ist nicht die – wahrlich schöne – Weichheit der lavendelduftenden Provence, wenn im Juni die ganze Insel erfüllt ist vom Duft der blühenden Heckenrosen, und es ist auch nicht die – wahrlich bizarre – surreal anmutende schwarze Härte der Lavastrände von Lanzarote, wenn sich bei Niedrigwasser die Sandbänke wie dunkel glänzende Wale hervorbuckeln und hochmütig nickend die Aus-ternfischer mit ihren roten Beinen darüber hin stelzen. Es ist, was es vielleicht gar nicht gibt: deutsch undeutsch.

Diese morgendlich herankriechenden Seenebel, gegen Mittag von der Sonne aufgeleckt; diese lila mit Heidekraut wattierten Mulden, in denen abends pünktlich die Kaninchen äsen; und diese Greisenfalten des Roten Kliffs, die Jahr um Jahr tiefere Furchen zeigen: das gibt es nur einmal auf der Welt. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Wo gäbe es das nicht auch: Vollmondnacht, Gischt und Tanggeruch. Aber wie hier, am Kliff von Morsum, plätschernd das Wasser nach einem grapscht, eine unheimlich singende Meeresversion des Erlkönig erklingen lässt; und wie hier der Himmel aufgerissen wird, schweigend und zerspleißend zugleich wie Seide, wenn die Vögel im Naturschutzgebiet des Rantumer Beckens ihn schneiden: Das gibt es nur hier auf der Welt.

Auszug aus dem Buch »Mein Sylt« des Autors Fritz J. Raddatz, das soeben mit Fotografien von Karin Székessy im marebuchverlag erschienen ist.